Um es gleich vorweg zu sagen: Wer diesen Band bei seinem Titel nimmt, wird enttäuscht sein. Das slawische Europa kommt ebenso wenig vor wie das islamische (von Erwähnungen in zwei Beiträgen abgesehen), und auch Byzanz wird nur von einem Artikel berührt. Das titelgebende Europa wird ganz aus der christlichen (mithin: meist katholischen) und jüdischen Tradition (immerhin drei Essays von insgesamt 19) heraus definiert. Ein solcher »Tunnelblick« überrascht schon. Europa von den Pyrenäen bis an die Oder und ohne den Balkan und Griechenland unter dem Aspekt des Wissens zu betrachten, erfordert schon … Ja, was eigentlich?
Mit seiner gediegenen Ausstattung und im coffee table book-Format ist der Band durchaus ansprechend gestaltet, der hohe Preis von 200 Euro dürfte allerdings den Leserkreis begrenzen. Für wen hier geschrieben wurde, wäre demnach die zweite Frage an das Buch.
In der eloquenten »Introduction« von Marcia Kupfer (10–32), die sie mit Nikolaus von Kues eröffnet, findet man eine diskursive Auslegung der Inhalte des Bandes, aber keinen Hinweis, warum sich Astronomie, Mathematik, Medizin und andere life sciences, um es modern auszudrücken, ohne ›östliches‹ Wissen hatten entwickeln können. Es ist schließlich hinlänglich bekannt, dass die iberische Halbinsel die Kontaktzone zwischen Arabern, Christen und Juden seit dem Frühmittelalter war; man denke nur an Gerbert von Aurillac, den späteren Papst der Jahrtausendwende Sylvester II. (* um 950, † 1003), dessen von Zeitgenossen – wie Kaiser Otto III. – geschätzte und gepriesene Bildung er nicht zuletzt seinem Aufenthalt jenseits der Pyrenäen zu verdanken hatte, wo er das Astrolabium kennenlernte.
Teil I zur »Visualization between Mind and Hand« wird von Mary Carruthers eröffnet (»Geometries for Thinking Creatively«, 33–44), deren Überlegungen der unmittelbar folgende Beitrag von Lina Bolzoni zur Seite zu stellen ist (»Visualization of a Universal Knowledge: Images and Rhetorical Machines in Giulio Camillo’s Theatre of Memory«, 45–60), da beide jeweils frühmittelalterliche mit frühneuzeitlicher Kognitionslehre verbinden. Jeffrey F. Hamburger spannt einen Bogen von der Karolingerzeit bis in das ausgehende Mittelalter bzw. mit Charles S. Peirce († 1914) gar bis in die Moderne: »Mindmapping: The Diagram Paradigm in Medieval Art – and Beyond« (61–86).
Der zweite Teil über »The Iconicity of Text« wird von Beatrice Kitzinger eröffnet (»Framing the Gospels, c. 1000: Iconicity, Textuality, and Knowledge«, 87–114), die sich mit den bekannten Arkadenhofdarstellungen der Evangeliensynopsen auseinandersetzt. In der graphischen Darstellung durchaus vergleichbar sind die Einbindungen von Glossen in Handschriften und frühen Drucken, die Lesley Smith vorstellt (»Biblical Gloss and Commentary: the Scaffolding of Scripture«, 115–136). Die jüdische Perspektive tritt im Beitrag von David Stern, »The Topography of the Talmudic Page« (137–162) erstmals hinzu, bei dem vor allem die Vergleichbarkeit der Anordnungen von Text und Kommentar in einem offenbar geteilten logischen System hervorsticht.
Gerade auf logische Systeme der Scholastik zielt die Abhandlung von Ayelet Even-Ezra, die mit Diagrammen und Schemata das auf Ordnung der Gedanken ausgerichtete, strenge System verständlich macht (»Seeing the Forest beyond the Trees: A Preliminary Overview of a Scholastic Habit of Visualization«, 163–182). Dem steht korrespondierend eine Einführung in das magische Denken jüdischer Gelehrter gegenüber (Yuval Harari, »Functional Paratexts and the Transmission of Knowledge in Medieval and Early Modern Jewish Manuscripts of Magic«, 183–210). |
In die Frühneuzeit führt schließlich A. Mark Smith, »More than Meets the Eye: What Made the Printing Revolution Revolutionary« (211–228), der anhand von Textstellenvergleichen den Übergang vom verbreiteten Manuskript zum frühen Buchdruck aufzeigt.
Nach der Ikonizität stehen im dritten Teil (»Graphic Vehicles of Scientia«) die grafischen Elemente im Vordergrund. Nicht zuletzt in diesem Abschnitt kommt die hervorragende Bildreproduktion des Bandes zu voller Blüte, wenn es um die Vorstellungen vom Universum oder des Raumes und der Zeit geht, denen sich jeweils ein Beitrag widmet: Barbara Obrist, »The Idea of a Spherical Universe and its Visualization in the Earlier Middle Ages (Seventh–Twelfth Centuries)« (229–258), Marcia Kupfer, »The Rhetoric of World Maps in Late Antiquity and the Middle Ages« (259–290) bzw. Faith Wallis, »Visualizing Knowledge in Medieval Calendar Science: a Twelfth-Century Family of ‘Graphic Glosses’ on Bede’s De temporum ratione« (291–326).
Mit den Bereichen der Musik (John Haines, »The Visualization of Music in the Middle Ages: Three Case Studies«, 327–340) und der Medizin (Peter Murray Jones, »Visualization in Medicine between Script and Print, c.1375–1550«, 341–360) wird die Übersicht der Disziplinen der »Scientia« beschlossen, der sich freilich nur wenig an den sieben freien Künsten des Mittelalters orientiert.
Teil IV., »Diagrammatic Traditions«, enthält den einzigen Byzanz gewidmeten Beitrag von Linda Safran, »A Prolegomenon to Byzantine Diagrams« (361–382). Der Überblick aus der Feder von Adam S. Cohen, (»Diagramming the Diagrammatic: Twelfth-Century Europe«, 383–404) widmet sich dem Wandel der diagrammatischen Visualisierung von Texten zum Diagramm, von dort über das imaginistic diagram und dem diagrammatic image zum Bild anhand zahlreicher Beispiele und deren phantastischer Reproduktion. Madeline H. Caviness, »Templates for Knowledge: Geometric Ordering of the Built Environment, Monumental Decoration, and Illuminated Page« (405–428) zeichnet den Weg von der Vorlage zum monumentalen Glasfenster am Beispiel der Kathedrale von Canterbury und Vergleichen dazu nach. Hier – und nur hier – wird der Übergang der Visualisierung von Bedeutungen von einem Medium auf ein anderes angesprochen. Die Nutzung einer im weitesten Sinne diagrammatischen Darstellung zur Unterweisung im hochmittelalterlichen christlichen Glauben ist Gegenstand von Lucy Freeman Sandlers Essay zu »Religious Instruction and Devotional Study. The Pictorial and the Textual in Gothic Diagrams« (429–448), der sehr eindrücklich um Beispiele der jüdischen Kabbala erweitert wird (J. H. Chajes, »The Kabbalistic Tree«, 449–473).
Es sind gerade diese beiden letzten Beispiele, die die Ausrichtung des Sammelbandes exemplifizieren. Es geht nicht um Europa als geographischen Kontinent, sondern um eine europäische Tradition aus jüdischen und christlichen Wurzeln. Arabische Einflüsse werden nur im Zusammenhang mit der mittelalterlichen Vorstellung eines sphärischen Universums – das Astrolabium wurde oben schon genannt – im Beitrag von Barbara Obrist thematisiert und visualisiert, was an dieser Stelle zu unterlassen auch sehr seltsam gewesen wäre. Eine Erwähnung finden die arabischen Wissenschaften ferner bei A. Mark Smith, der das Buch der Optik von Ibn al-Haytham (um 1030) zitiert (211).
Auch Marcia Kupfers bereits genannte Einleitung bringt keine Erklärung für diese Auswahl der Themen und Beiträger. Sie verortet den Sammelband in die Spitze der ideengeschichtlichen Forschung, bezieht sich auf die Berliner Philosophin Sybille Krämer (11 f.) und andere Referenzen, erläutert anschließend die vier Teile des zu besprechenden Buches, enthält sich aber einer Zusammenfassung. Immerhin kommt in der Einleitung einmal der arabische Einfluss zur Sprache (»lateinische Übersetzungen arabischer Texte«, 21).
Hier hätte man sich mehr Beispiele für den Wissenstransfer gewünscht, zumal sich ja Europa im Mittelalter gerade dafür angeboten hätte. Dennoch ist lobend festzuhalten, dass der Sammelband gehaltvolle Darstellungen bietet, die Beiträge hohen Ansprüchen gerecht werden und durch die Fülle und Qualität der Abbildungen kaum Wünsche offenbleiben. Dass das Recht nicht eigens thematisiert wurde, ist anhand der methodischen Leitfragen nicht zu kritisieren. Rechtshistorisch Interessierte werden genügend Aspekte ihrer Disziplin angesprochen finden, die zur weiteren Reflexion über Wissensregime und normsetzende Praktiken einladen.
Ein Literaturverzeichnis, bedauerlicherweise aber kein Register, schließen das aufwendige und mit den angegebenen Einschränkungen sehr gelungene Sammelwerk ab.