Editorial

Zum ersten Mal erscheint in diesem Jahr 2021 die Rechtsgeschichte – Legal History als Zeitschrift des »Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie«. Die beiden Änderungen des inzwischen mehr als ein halbes Jahrhundert alten Namens – also der Zusatz »Rechtstheorie« und die Streichung »europäische« – stehen für die Erweiterung unserer Arbeitsgebiete in den letzten Jahren. Dass wir nicht mehr allein »europäische« Rechtsgeschichte betreiben, diese heute vielmehr als Rechtsgeschichte von Europa in globalhistorischer Perspektive oder als Geschichte der europäischen Integration erforschen, ist nicht zuletzt in den Beiträgen dieser Zeitschrift seit 2010 deutlich geworden.

Auch die Rechtstheorie war am Institut in der Vergangenheit bereits mit unterschiedlichen Konjunkturen präsent. Doch mit der Berufung von Marietta Auer zur Direktorin am Max-Planck-Institut zum 1. September 2020 hat die Max-Planck-Gesellschaft eine zusätzliche neue Forschungsabteilung »Multidisziplinäre Rechtstheorie« eingerichtet, die neben die bestehenden rechtshistorischen Abteilungen tritt. Marietta Auer gibt in ihrem Beitrag zu Beginn dieses Heftes im Teil Recherche einen Einblick in das Forschungsprogramm, mit dem sie nach Frankfurt gekommen ist. Wir – die Direktoren der rechtshistorischen Abteilungen »Europäische und vergleichende Rechtsgeschichte« (Stefan Vogenauer) und »Historische Normativitätsregime« (Thomas Duve), die Leiterinnen unserer Forschungsgruppen sowie alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – halten dies für eine wichtige institutionelle Weichenstellung. Vor allem sind wir aber sicher, dass sie auch für die Rechtsgeschichte eine wichtige intellektuelle Stärkung mit sich bringt. Was für das Institut und das Fach gilt, gilt auch für die Zeitschrift, in deren Herausgeberkreis sie nun eingetreten ist : Willkommen !

Wie sehr das Fach einer auch rechtstheoretisch reflektierten Methode bedarf, versucht der zweite Beitrag im Rechercheteil zu verdeutlichen. Unter dem mit einem Fragezeichen versehenen Titel »Rechtsgeschichte als Geschichte von Normativitätswissen ?« wird hier der Versuch unternommen, eine Methodik für eine Rechtsgeschichte jenseits der Kategorien der Moderne zu skizzieren (Thomas Duve). Dabei wird deutlich, in welch hohem Maße auch eine solche auf die nachmoderne Kondition des Rechts ausgerichtete Rechtshistorie auf der geduldigen Rekonstruktion von historischem Normativitätswissen aufbauen muss. Ein eindrucksvolles Zeugnis einer solchen rechtshistorischen Grundlagenforschung ist der dritte Beitrag im Recherche-Teil : Der Rückblick von Wolfram Brandes auf die über Jahrzehnte hinweg am Institut durchgeführte Forschung zur Byzantinistik. Diese wurde noch von Dieter Simon angestoßen und konnte durch langjährige Förderung der Göttinger Akademie der Wissenschaften von Wolfram Brandes bis in das Jahr 2020 fortgeführt werden.

Auch zwei der drei foci stammen aus Forschungsprojekten der rechtshistorischen Abteilungen des Instituts. Der Fokus zu »Early Modern Books in Motion and the Production of Normative Knowledge«, der von Manuela Bragagnolo herausgegeben wird, knüpft an ihre Arbeiten in der Abteilung »Historische Normativitätsregime« zu Mediengeschichte und Rechtsgeschichte insbesondere in den Iberian Worlds an. Mit der Bildstrecke dieses Jahres hat Michael Widener von der Lillian Goldman Law Library der Yale University eine kleine Geschichte der juristischen Bücher zusammengestellt und in einer Marginalie kommentiert. Der zweite Fokus, herausgegeben von Sigfrido Ramírez Pérez und Stefan Vogenauer, widmet sich mit der Oral History einer Methode, die in der Abteilung »Europäische und vergleichende Rechtsgeschichte« vor allem in der Forschung zur Rechtsgeschichte der europäischen Integration genutzt wird. Der dritte Fokus schließlich enthält fünf Beiträge, die im Juni 2019 auf der Tagung des XXVth Forum of Young Legal Historians vorgetragen worden sind. Die Organisatoren, Wouter De Rycke, Cornelis Marinus in ’t Veld, Maxime Jottrand, Romain Landmeters, Stephanie Plasschaert, haben die Auswahl eingeleitet.

In der diesjährigen Debatte geht es um ein Buch, das bereits im Vorfeld seiner Publikation hohe Erwartungen geweckt hat : Martti Koskenniemis über 1000-seitiges To the Uttermost Parts of the Earth. Das Werk beginnt mit dem Hinweis, dass es sich nicht um eine Geschichte des internationalen Rechts handele – und wird doch, wie in der Einleitung zur Debatte hervorgehoben wird, unweigerlich als eine solche gelesen werden. Dreizehn Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Disziplinen und Wissenschaftskulturen haben ihre ersten Leseeindrücke skizziert, Martti Koskenniemi hat auf diese reagiert. Eine wie stets große Zahl von Rezensionen, auch in diesem Heft in vielen Fällen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts erstellt, sowie eine weitere – umfangreiche – Marginalie zu Wechselbeziehungen zwischen Formen des Handels, Recht und Architektur von Johannes W. Flume runden dieses Heft ab.

Die Themen der Zeitschrift zeigen auf eindrückliche Weise, wie sehr uns Michael Stolleis fehlen wird. Er war nicht nur Direktor des Instituts und langjähriger Herausgeber dieser Zeitschrift. Wie in unserem Nachruf nur angedeutet werden kann, war er neben vielem anderen auch ein Pionier der Völkerrechtsgeschichte, er hat sich früher als andere mit der Verbindung von Bildern, Architektur und Recht beschäftigt, die europäische Integration hat er aufmerksam begleitet und in seine Geschichte des öffentlichen Rechts integriert, und nicht zuletzt waren ihm Fragen der rechtshistorischen Methode stets ein besonderes Anliegen. Was vielleicht weniger bekannt ist : Auch die im Fokus publizierten Vorträge des XXV. Forum of Young Legal Historians in Brüssel 2019 wären ohne ihn wohl nicht gehalten worden. Denn Michael Stolleis war es, der mit den Mitteln des Gottfried Wilhelm Leibniz-Preises im Jahr 1992 junge Rechtshistoriker aus Ost und West zu einer ersten Besprechung nach Frankfurt einlud. Es ging ihm um die Zusammenführung der Disziplin nach dem Fall der Mauer. Aus der Initiative wurde bald eine Institution : Das sogenannte »Forum junger Rechtshistoriker«, das zum ersten Mal 1995 in Halle tagte, 1996 in Berlin stattfand und sich 1997 in Graz »Europäisches Forum junger Rechtshistorikerinnen und Rechtshistoriker« nannte. Wieder einige Jahre später – und eher als im Fall des Max-Planck-Instituts – fiel der Zusatz »europäisches« weg. Inzwischen ist das Forum ein Treffpunkt für junge Rechtshistorikerinnen und Rechtshistoriker aus der ganzen Welt geworden. Michael Stolleis hätte seine Freude gehabt, die in dieser Ausgabe publizierten Beiträge der Jubiläumstagung und die vielen anderen Schlaglichter auf die bunte Rechtsgeschichte von Byzanz bis Brüssel in den Händen zu halten.–

Zitiervorschlag:
 Download  Zitiervorschlag kopieren   Export 

Zitiervorschlag

 Zitiervorschlag kopieren   Export 

Rezensiertes Buch

 Zitiervorschlag kopieren 
 kopieren   Export 

Abstract

Marcia Kupfer, Adam S. Cohen, J. H. Chajes (eds.), The Visualization of Knowledge in Medieval and Early Modern Europe (Studies in the Visual Cultures of the Middle Ages 16), Turnhout: Brepols 2020, 520 p., ISBN 978-2-503-58303-7

Zitiervorschlag:
 kopieren      
 

Mit Tunnelblick durch Europas Wissenslandschaft *

Um es gleich vorweg zu sagen: Wer diesen Band bei seinem Titel nimmt, wird enttäuscht sein. Das slawische Europa kommt ebenso wenig vor wie das islamische (von Erwähnungen in zwei Beiträgen abgesehen), und auch Byzanz wird nur von einem Artikel berührt. Das titelgebende Europa wird ganz aus der christlichen (mithin: meist katholischen) und jüdischen Tradition (immerhin drei Essays von insgesamt 19) heraus definiert. Ein solcher »Tunnelblick« überrascht schon. Europa von den Pyrenäen bis an die Oder und ohne den Balkan und Griechenland unter dem Aspekt des Wissens zu betrachten, erfordert schon … Ja, was eigentlich?

Mit seiner gediegenen Ausstattung und im coffee table book-Format ist der Band durchaus ansprechend gestaltet, der hohe Preis von 200 Euro dürfte allerdings den Leserkreis begrenzen. Für wen hier geschrieben wurde, wäre demnach die zweite Frage an das Buch.

In der eloquenten »Introduction« von Marcia Kupfer (10–32), die sie mit Nikolaus von Kues eröffnet, findet man eine diskursive Auslegung der Inhalte des Bandes, aber keinen Hinweis, warum sich Astronomie, Mathematik, Medizin und andere life sciences, um es modern auszudrücken, ohne ›östliches‹ Wissen hatten entwickeln können. Es ist schließlich hinlänglich bekannt, dass die iberische Halbinsel die Kontaktzone zwischen Arabern, Christen und Juden seit dem Frühmittelalter war; man denke nur an Gerbert von Aurillac, den späteren Papst der Jahrtausendwende Sylvester II. (* um 950, † 1003), dessen von Zeitgenossen – wie Kaiser Otto III. – geschätzte und gepriesene Bildung er nicht zuletzt seinem Aufenthalt jenseits der Pyrenäen zu verdanken hatte, wo er das Astrolabium kennenlernte.

Teil I zur »Visualization between Mind and Hand« wird von Mary Carruthers eröffnet (»Geometries for Thinking Creatively«, 33–44), deren Überlegungen der unmittelbar folgende Beitrag von Lina Bolzoni zur Seite zu stellen ist (»Visualization of a Universal Knowledge: Images and Rhetorical Machines in Giulio Camillo’s Theatre of Memory«, 45–60), da beide jeweils frühmittelalterliche mit frühneuzeitlicher Kognitionslehre verbinden. Jeffrey F. Hamburger spannt einen Bogen von der Karolingerzeit bis in das ausgehende Mittelalter bzw. mit Charles S. Peirce († 1914) gar bis in die Moderne: »Mindmapping: The Diagram Paradigm in Medieval Art – and Beyond« (61–86).

Der zweite Teil über »The Iconicity of Text« wird von Beatrice Kitzinger eröffnet (»Framing the Gospels, c. 1000: Iconicity, Textuality, and Knowledge«, 87–114), die sich mit den bekannten Arkadenhofdarstellungen der Evangeliensynopsen auseinandersetzt. In der graphischen Darstellung durchaus vergleichbar sind die Einbindungen von Glossen in Handschriften und frühen Drucken, die Lesley Smith vorstellt (»Biblical Gloss and Commentary: the Scaffolding of Scripture«, 115–136). Die jüdische Perspektive tritt im Beitrag von David Stern, »The Topography of the Talmudic Page« (137–162) erstmals hinzu, bei dem vor allem die Vergleichbarkeit der Anordnungen von Text und Kommentar in einem offenbar geteilten logischen System hervorsticht.

Gerade auf logische Systeme der Scholastik zielt die Abhandlung von Ayelet Even-Ezra, die mit Diagrammen und Schemata das auf Ordnung der Gedanken ausgerichtete, strenge System verständlich macht (»Seeing the Forest beyond the Trees: A Preliminary Overview of a Scholastic Habit of Visualization«, 163–182). Dem steht korrespondierend eine Einführung in das magische Denken jüdischer Gelehrter gegenüber (Yuval Harari, »Functional Paratexts and the Transmission of Knowledge in Medieval and Early Modern Jewish Manuscripts of Magic«, 183–210). |

In die Frühneuzeit führt schließlich A. Mark Smith, »More than Meets the Eye: What Made the Printing Revolution Revolutionary« (211–228), der anhand von Textstellenvergleichen den Übergang vom verbreiteten Manuskript zum frühen Buchdruck aufzeigt.

Nach der Ikonizität stehen im dritten Teil (»Graphic Vehicles of Scientia«) die grafischen Elemente im Vordergrund. Nicht zuletzt in diesem Abschnitt kommt die hervorragende Bildreproduktion des Bandes zu voller Blüte, wenn es um die Vorstellungen vom Universum oder des Raumes und der Zeit geht, denen sich jeweils ein Beitrag widmet: Barbara Obrist, »The Idea of a Spherical Universe and its Visualization in the Earlier Middle Ages (Seventh–Twelfth Centuries)« (229–258), Marcia Kupfer, »The Rhetoric of World Maps in Late Antiquity and the Middle Ages« (259–290) bzw. Faith Wallis, »Visualizing Knowledge in Medieval Calendar Science: a Twelfth-Century Family of ‘Graphic Glosses’ on Bede’s De temporum ratione« (291–326).

Mit den Bereichen der Musik (John Haines, »The Visualization of Music in the Middle Ages: Three Case Studies«, 327–340) und der Medizin (Peter Murray Jones, »Visualization in Medicine between Script and Print, c.1375–1550«, 341–360) wird die Übersicht der Disziplinen der »Scientia« beschlossen, der sich freilich nur wenig an den sieben freien Künsten des Mittelalters orientiert.

Teil IV., »Diagrammatic Traditions«, enthält den einzigen Byzanz gewidmeten Beitrag von Linda Safran, »A Prolegomenon to Byzantine Diagrams« (361–382). Der Überblick aus der Feder von Adam S. Cohen, (»Diagramming the Diagrammatic: Twelfth-Century Europe«, 383–404) widmet sich dem Wandel der diagrammatischen Visualisierung von Texten zum Diagramm, von dort über das imaginistic diagram und dem diagrammatic image zum Bild anhand zahlreicher Beispiele und deren phantastischer Reproduktion. Madeline H. Caviness, »Templates for Knowledge: Geometric Ordering of the Built Environment, Monumental Decoration, and Illuminated Page« (405–428) zeichnet den Weg von der Vorlage zum monumentalen Glasfenster am Beispiel der Kathedrale von Canterbury und Vergleichen dazu nach. Hier – und nur hier – wird der Übergang der Visualisierung von Bedeutungen von einem Medium auf ein anderes angesprochen. Die Nutzung einer im weitesten Sinne diagrammatischen Darstellung zur Unterweisung im hochmittelalterlichen christlichen Glauben ist Gegenstand von Lucy Freeman Sandlers Essay zu »Religious Instruction and Devotional Study. The Pictorial and the Textual in Gothic Diagrams« (429–448), der sehr eindrücklich um Beispiele der jüdischen Kabbala erweitert wird (J. H. Chajes, »The Kabbalistic Tree«, 449–473).

Es sind gerade diese beiden letzten Beispiele, die die Ausrichtung des Sammelbandes exemplifizieren. Es geht nicht um Europa als geographischen Kontinent, sondern um eine europäische Tradition aus jüdischen und christlichen Wurzeln. Arabische Einflüsse werden nur im Zusammenhang mit der mittelalterlichen Vorstellung eines sphärischen Universums – das Astrolabium wurde oben schon genannt – im Beitrag von Barbara Obrist thematisiert und visualisiert, was an dieser Stelle zu unterlassen auch sehr seltsam gewesen wäre. Eine Erwähnung finden die arabischen Wissenschaften ferner bei A. Mark Smith, der das Buch der Optik von Ibn al-Haytham (um 1030) zitiert (211).

Auch Marcia Kupfers bereits genannte Einleitung bringt keine Erklärung für diese Auswahl der Themen und Beiträger. Sie verortet den Sammelband in die Spitze der ideengeschichtlichen Forschung, bezieht sich auf die Berliner Philosophin Sybille Krämer (11 f.) und andere Referenzen, erläutert anschließend die vier Teile des zu besprechenden Buches, enthält sich aber einer Zusammenfassung. Immerhin kommt in der Einleitung einmal der arabische Einfluss zur Sprache (»lateinische Übersetzungen arabischer Texte«, 21).

Hier hätte man sich mehr Beispiele für den Wissenstransfer gewünscht, zumal sich ja Europa im Mittelalter gerade dafür angeboten hätte. Dennoch ist lobend festzuhalten, dass der Sammelband gehaltvolle Darstellungen bietet, die Beiträge hohen Ansprüchen gerecht werden und durch die Fülle und Qualität der Abbildungen kaum Wünsche offenbleiben. Dass das Recht nicht eigens thematisiert wurde, ist anhand der methodischen Leitfragen nicht zu kritisieren. Rechtshistorisch Interessierte werden genügend Aspekte ihrer Disziplin angesprochen finden, die zur weiteren Reflexion über Wissensregime und normsetzende Praktiken einladen.

Ein Literaturverzeichnis, bedauerlicherweise aber kein Register, schließen das aufwendige und mit den angegebenen Einschränkungen sehr gelungene Sammelwerk ab.

*

Marcia Kupfer, Adam S. Cohen, J. H. Chajes (eds.), The Visualization of Knowledge in Medieval and Early Modern Europe (Studies in the Visual Cultures of the Middle Ages 16), Turnhout: Brepols 2020, 520 p., ISBN 978-2-503-58303-7

TOC