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GMS Medizin — Bibliothek — Information.

Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen (AGMB)

ISSN 1865-066X

Die Rolle der Bibliothekar*in im Cochrane Systematischen Review-Prozess: Ein persönlicher Erfahrungsbericht

The role of the librarian in the Cochrane systematic review process: a case report

Case Report Evidenzbasierte Medizin und Systematic Review

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  • corresponding author Brigitte Wildner - Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien, Österreich

GMS Med Bibl Inf 2020;20(1-2):Doc14

doi: 10.3205/mbi000471, urn:nbn:de:0183-mbi0004716

Published: September 1, 2020

© 2020 Wildner.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Im Bereich der Evidenzbasierten Medizin ist es äußerst wichtig, alle Veröffentlichungen zu identifizieren, die für eine bestimmte Forschungsfrage relevant sind. Wissenschaftlich Publizierende müssen überlegen, wie sie die geeigneten Datenbanken auswählen und mit Suchstrategien umgehen. Dieser Case Report zeigt, welche Teile im Recherche- und Publikationsprozess eines Systematischen Reviews für Cochrane von Informationsspezialist*innen übernommen werden können, welche Erfahrungen in der Beratung und im Austausch mit Wissenschaftler*innen gesammelt wurden und warum es in allen Stadien des Suchprozesses von Vorteil ist, wenn Personen mitarbeiten, die Expertise und Erfahrung in der Literatur- und Datenbanksuche haben.

Schlüsselwörter: Evidenzbasierte Medizin, Systematischer Review, Literatursuche, Suchstrategien, Datenbanken

Abstract

In the field of evidence-based medicine it is of utmost importance to identify all publications that are relevant to a specific research question. Scientific authors need to consider how to choose the adequate databases and how to handle search strategies. This case report shows which parts in the research and publication process of a systematic review for Cochrane can be performed by information specialists, which experiences have been gained in consulting and exchange with scientists, and why all stages of the search process benefit from the cooperation with people, who have expertise and experience in literature and database searching.

Keywords: evidence-based medicine, systematic review, literature search, search strategies, databases


Die Rolle der Bibliothekar*in im Cochrane Systematischen Review-Prozess

Ausgangspunkt

Seit der Gründung von Cochrane im Jahr 1993 folgt dieses internationale unabhängige Netzwerk von wissenschaftlich Forschenden einem übergeordneten Ziel, nämlich der Sicherstellung, dass die täglich in der Praxis und in der Klinik angewendeten Behandlungen auf dem bestmöglichen Wissen basieren. Zur Umsetzung dieses Zieles beitragen zu dürfen ist zugleich interessant und herausfordernd. Um eine zuverlässige und wissenschaftlich fundierte Beweislage zu schaffen, werden Systematische Reviews von hoher Qualität erstellt, die regelmäßig aktualisiert werden.

Die erstmalige Einladung, bei der Arbeit an einem Systematischen Review mitzuwirken, erhielt ich im Jahr 2003. Das gesamte Team bestand zu dem damaligen Zeitpunkt aus insgesamt sechs Personen aus unterschiedlichen Fachgebieten wie Kardiologie, Notfallmedizin, Angiologie und wissenschaftliche Recherche. Es sollte der Einfluss von perioperativ verabreichten Betablockern auf Mortalität und Morbidität untersucht werden. Als Orientierungshilfe bei der Erstellung eines Literatur-Reviews mit systematischen Methoden diente der Arbeitsgruppe das Cochrane Reviewers’ Handbook in der damals aktuellsten Version.

Suchstrategie

Die Konzeption der Suchstrategie und die Durchführung und Dokumentation der Literaturrecherche war meine Hauptaufgabe als Informationsspezialistin im Team. Angeleitet vom Methodenteil des Handbuchs wurde die erste Version der Suchstrategie aufgestellt und in den Datenbanken MEDLINE und EMBASE prozessiert. Es fand eine Be- und Auswertung der Ergebnisse statt, bei der passende Publikationen identifiziert und deren Referenzen auf geeignete Literaturzitate hin überprüft wurden. Basierend auf den Schlussfolgerungen aus diesen Wertungen und einer genauen Textanalyse ausgewählter Datenbank-Records wurde die Strategie in der Folge suchtechnisch verfeinert. Dies bedeutet in der Praxis, dass jedes Hinzufügen, Weglassen oder Abändern von Suchbegriffen und deren Kombinationen Schritt für Schritt in einer kontrollierten Art und Weise erfolgt und dokumentiert wird. Kontrolliert heißt in diesem Zusammenhang, dass laufend überprüft wird, wie sich die strategischen Änderungen inhaltlich und zahlenmäßig auf die Ergebnisse auswirken. Im Fokus stand dabei die Suche nach allen verfügbaren Randomized Controlled Trials (RCTs) von Betablockern in der perioperativen Phase. Hier kamen die von Cochrane empfohlenen RCT-Filter für MEDLINE und EMBASE zum Einsatz. Das Protokoll mit dem Titel „Perioperative beta-blockers for preventing surgery related mortality and morbidity“ wurde 2003 in der Cochrane Database of Systematic Reviews (CDSR) publiziert [1].

Datenbanken

Im Oktober 2005 wurde die Suchstrategie für die folgenden Datenbanken adaptiert und prozessiert: Medline, Embase, Cochrane Central Register of Controlled Trials, Biosis Previews, CAB Abstracts, CINAHL, Derwent Drug File, Science Citation Index, Current Contents, International Pharmaceutical Abstracts und Pascal Biomed. Darüber hinaus wurde konkret nach Conference Proceedings in weiteren Datenbanken gesucht: British Library Inside Conferences, System for Information on Grey Literature in Europe, Conference Papers Index, Index to Scientific and Technical Proceedings and Books und Index to Scientific and Technical Proceedings/Index to Social Sciences and Humanities Proceedings. Nach noch nicht veröffentlichten Studien wurde in online verfügbaren Trials-Registern recherchiert.

2007: Journal Artikel und The Faculty

Es wurden 69 Studien identifiziert, die in einem systematischen Review kritisch betrachtet und deren Daten in einer Metaanalyse quantitativ und statistisch dargestellt wurden. Die daraus folgende Publikation durchlief erfolgreich den Peer-Review-Prozess beim Journal Anesthesia & Analgesia und wurde im Jänner 2007 veröffentlicht [2]. Dieser Artikel über den Einfluss perioperativer Betablocker wurde im August 2007 in The Faculty, eine Review-Datenbank, aufgenommen. Yukio Hayashi, ein Faculty Member und international renommierter Forscher von der Osaka University Medical School, hat diesen Artikel empfohlen und als Key Paper bewertet [3].

2014: Cochrane Systematic Review

Um nach Erscheinen des Reviews in einem Fachjournal die nächste Etappe zu erreichen, und zwar als Cochrane Review in der Cochrane Database of Systematic Reviews (CDSR) als neue Publikation veröffentlicht werden zu können, war noch einiges an zusätzlicher Arbeit erforderlich. Sowohl die transparente Darstellung aller Erarbeitungs- und Entscheidungsschritte als auch die Implementierung der steigenden Anzahl von publizierten Betablocker-Studien erforderte diesen weiteren Aufwand. Die 2003 erarbeitete Suchstrategie war mittlerweile in die Jahre gekommen und musste neuerlich getestet werden. Die sich daraus ergebenden notwendigen Änderungen der Suchstrategie wurden vorgenommen. Im Verlauf dieser Arbeiten kam es zu einem Wechsel der Erstautorenschaft und einer Erweiterung des Teams. Nach dem Datenbank-Processing und der Auswertung der Ergebnisse konnten 89 Studien identifiziert und in den 2014 veröffentlichten Cochrane Review aufgenommen werden [4].

2018: zurückgezogene Studie, neue Fassung

Im Herbst 2017 kam von Cochrane die Information, dass eine in den Analysen vorkommende Studie zurückgezogen wurde. Nachweislich hatte ein Co-Autor der zurückgezogenen Studie Studiendaten ohne Genehmigung des Institutional Review Board (IRB) und ohne belegbare Einverständniserklärungen erhoben. Solch eine Genehmigung ist aber zwingend erforderlich, bevor mit einer Forschung am Menschen begonnen werden kann, um die Rechte und die Privatsphäre der in die Studie eingebundenen Personen zu wahren und den Schutz ihres Wohlergehens zu sichern. Nach Ausschluss der zurückgezogenen Studie wurden die Betablocker-Review-Daten neuerlich analysiert und eine aktuelle Fassung erstellt [5].

2019: Splittung des Reviews

Ende 2018 wurde die Cochrane Review Group durch das National Institute for Health Research (NIHR) im Rahmen des Incentive Awards Scheme gefördert, um laufende Review-Aktivitäten zu priorisieren und zeitlich voranzubringen. Das ermöglichte unserer Arbeitsgruppe, das anstehende Update gemeinsam mit Unterstützung von Cochrane-Reviewer*innen des National Health Service (NHS) durchzuführen. Nach Änderungen an der Suchstrategie und einem intensiven Forward-Backward-Citation-Searching wurde diese neue Version nun je nach Art der Operation in Reviews für Herzchirurgie und nicht-kardiale Chirurgie aufgeteilt. 63 bzw. 83 Studien entsprachen den jeweiligen Einschlusskriterien der beiden Reviews, deren Veröffentlichung 2019 erfolgte [6], [7].

Scientific Searching

Der kundenorientierte Ausbau von Dienstleistungen der Informationsvermittlungsstelle der Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien erfolgte kontinuierlich in den letzten eineinhalb Jahrzehnten. Von ehemals kurzen Auftragsrecherchen entwickelte sich das Angebot hin zu einem breiten Spektrum, das alle Teile eines fundierten Rechercheprozesses beinhaltet. Der steigende Bedarf nach umfassenden systematischen Recherchen für den Bereich der Evidenzbasierten Medizin führte dazu, dass die Entwicklung präziser und reproduzierbarer Ergebnisse liefernder Suchstrategien stark an Wichtigkeit zunahm. Zudem wird vom Kundenkreis auch Beratung und Unterstützung beim Publizieren gewünscht, sodass mittlerweile beispielsweise das Verfassen eines Suchmethodenteils für eine wissenschaftliche Arbeit oder ein Lektorat für bestimmte Publikationsteile angeboten werden. In den letzten Jahren werden diese Dienstleistungen vorwiegend von Personen angefragt, die selbst schon Rechercheerfahrung besitzen. Dadurch gestaltet sich die Zusammenarbeit hinsichtlich der Entwicklung einer genauen Forschungsfrage und der dafür maßgeschneiderten Recherche deutlich effizienter. Das übergreifende Arbeiten in den Review-Teams ist essentiell, um mögliche Fehler an den Schnittstellen zu vermeiden, z.B. an der Schnittstelle von Protokoll zu Suchstrategie. Die systematische Vorgehensweise beim Recherchieren bietet dabei ein solides Grundgerüst. Dazu gesellen sich aber weitere wichtige Impulse, ausgehend beispielsweise von Schlussfolgerungen strategischer Überprüfungen oder dem inspirierenden ‚Mäandern‘ in Datenbanken inklusive anschließender Analyse.

Schlusswort

Meiner Erfahrung nach ist es beim wissenschaftlichen Recherchieren für einen systematischen Review von großer Wichtigkeit, den gesamten Prozess vom Protokoll über die Suchstrategie bis zum Erstellen des Manuskripts zu begleiten, mit der vorhandenen Expertise und Erfahrung zu unterstützen, Reflexion anzubieten sowie auf gute und transparente Kommunikation Wert zu legen.


Abkürzungen

  • CAB: Commonwealth Agricultural Bureaux
  • CDSR: Cochrane Database of Systematic Reviews
  • CINAHL: Cumulative Index to Nursing and Allied Health Literature
  • EMBASE. Excerpta Medica dataBASE
  • IRB: Institutional Review Board
  • MEDLINE: Medical Literature Analysis and Retrieval System Online
  • NHS: National Health Service
  • NIHR: National Institute for Health Research
  • RCTs: Randomized Controlled Trials

Anmerkung

Interessenkonflikte

Die Autorin erklärt, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel hat.


Literatur

1.
Wiesbauer F, Domanovits H, Schlager O, Wildner B, Schillinger M, Blessberger H. Perioperative beta-blockers for preventing surgery related mortality and morbidity. Cochrane Database Syst Rev. 2003;(2):CD004476. DOI: 10.1002/14651858.CD004476 External link
2.
Wiesbauer F, Schlager O, Domanovits H, Wildner B, Maurer G, Muellner M, Blessberger H, Schillinger M. Perioperative beta-blockers for preventing surgery-related mortality and morbidity: a systematic review and meta-analysis. Anesth Analg. 2007 Jan;104(1):27-41. DOI: 10.1213/01.ane.0000247805.00342.21 External link
3.
Hayashi Y. Faculty Opinions Recommendation of [Wiesbauer F, Schlager O, Domanovits H, Wildner B, Maurer G, Muellner M, Blessberger H, Schillinger M. Perioperative beta-blockers for preventing surgery-related mortality and morbidity: a systematic review and meta-analysis. Anesth Analg. 2007 Jan;104(1):27-41]. Faculty Opinions [Internet]. 2007 Aug 30 [cited 2020 May 07]. Available from: https://facultyopinions.com/prime/1089340#eval542562 External link
4.
Blessberger H, Kammler J, Domanovits H, Schlager O, Wildner B, Azar D, Schillinger M, Wiesbauer F, Steinwender C. Perioperative beta-blockers for preventing surgery-related mortality and morbidity. Cochrane Database Syst Rev. 2014 Sep;(9):CD004476. DOI: 10.1002/14651858.CD004476.pub2 External link
5.
Blessberger H, Kammler J, Domanovits H, Schlager O, Wildner B, Azar D, Schillinger M, Wiesbauer F, Steinwender C. Perioperative beta-blockers for preventing surgery-related mortality and morbidity. Cochrane Database Syst Rev. 2018 Mar;3:CD004476. DOI: 10.1002/14651858.CD004476.pub3 External link
6.
Blessberger H, Lewis SR, Pritchard MW, Fawcett LJ, Domanovits H, Schlager O, Wildner B, Kammler J, Steinwender C. Perioperative beta-blockers for preventing surgery-related mortality and morbidity in adults undergoing cardiac surgery. Cochrane Database Syst Rev. 2019 Sep;9:CD013435. DOI: 10.1002/14651858.CD013435 External link
7.
Blessberger H, Lewis SR, Pritchard MW, Fawcett LJ, Domanovits H, Schlager O, Wildner B, Kammler J, Steinwender C. Perioperative beta-blockers for preventing surgery-related mortality and morbidity in adults undergoing non-cardiac surgery. Cochrane Database Syst Rev. 2019 Sep;9:CD013438. DOI: 10.1002/14651858.CD013438 External link