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Märchen-Novellen

2012
978-3-7720-5444-0
A. Francke Verlag 
Dieter Arendt

Novelle und Märchen sind in ihrer spezifischen Erscheinungsform klar umrissen und hinreichend erläutert. Dass die Verkoppelung von faszinierendem Märchenwunder und novellistischem Ereignis die vermeintlich klaren Gattungsgrenzen jedoch nicht selten aufweicht, ist in der Forschung bislang weitgehend ausgeklammert und die kontrastive Misch-Gattung wenig treffend als "Kunstmärchen" bezeichnet worden. Das vorliegende Buch will dem grassierenden Gattungsfetischismus nicht noch ein Exempel hinzufügen, wohl aber eine seit Langem bestehende Lücke in der deutschen Gattungsgeschichte schließen und den nahe liegenden Begriff der Märchen-Novelle etablieren.

Dieter Arendt Märchen-Novellen oder Das Ende der romantischen Märchen-Träume Märchen-Novellen Dieter Arendt Märchen-Novellen oder Das Ende der romantischen Märchen-Träume Einbandgestaltung nach einer Zeichnung von Martina Hofmann. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Printed in the EU ISBN 978-3-7720-8444-7 Danksagung Das Buch entstand im Anschluss an mehrere Seminare über sogenannte „ Kunstmärchen “ . Es wurde immer deutlicher, dass in der deutschen Gattungsgeschichte eine Lücke geschlossen werden musste. Die Anregungen und Darlegungen sind den mitarbeitenden Studierenden verpflichtet. Besonderer Dank gebührt der einsatzfreudigen Assistenz von Frau Martina Hofmann (M. A.). Von ihr kamen wichtige Anregungen und Beiträge und in ihrer Hand lag die redaktionelle Arbeit. I NHALT E INLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 E RSTES K APITEL Novalis: Hyazinth und Rosenblütchen (1798/ 1802) oder: „ Das Mährchen ist gleichsam der Canon der Poesie. “ . . . . . . . 13 Z WEITES K APITEL Johann Wolfgang Goethe: Die Neue Melusine (1772/ 1829) oder: „ nun aber haben wir den Schatz die Treppe hinuntergehen sehen “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 D RITTES K APITEL Ludwig Tieck: Der Runenberg (1802/ 1812 - 1816) oder: „ Wunderbare, unermeßliche Schätze [. . .] in den Tiefen der Erde “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 V IERTES K APITEL E. T. A. Hoffmann: Die Bergwerke zu Falun (1818/ 1819) oder: „ Unten liegt mein Schatz, mein Leben, mein alles! “ . . . . . . . . 44 F ÜNFTES K APITEL Friedrich de la Motte-Fouqué: Undine (1811) oder: „ Du aber siehst jetzt wirklich eine Undine, lieber Freund. “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 S ECHSTES K APITEL Adelbert von Chamisso und E. T. A. Hoffmann (1813/ 1814/ 1815) oder: Schlemihl und Spikher am „ Haken “ des Herrn „ Dapertutto “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 S IEBTES K APITEL Friedrich de la Motte Fouqué: Eine Geschichte vom Galgenmännlein (1810) oder: „ meine Seele hat er ohnehin “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 A CHTES K APITEL Carl Wilhelm Salice-Contessa: Magister Rößlein (1812) oder: „ seine arme Seele aus des Teufels Krallen gerissen “ . . . . . . . . . 82 N EUNTES K APITEL Wilhelm Hauff: Das kalte Herz (1827/ 1828) oder: „ aber - auf Kosten ihrer armen Seele “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Z EHNTES K APITEL Jeremias Gotthelf: Die schwarze Spinne (1842) oder: „ am Ende könnte man ihn übertölpeln “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 E LFTES K APITEL Eduard Mörike: Der Schatz (1836) oder: „ ich könnte wohl ein bißchen beschnapst gewesen sein “ . . . . 104 Z WÖLFTES K APITEL Gottfried Keller: Spiegel das Kätzchen (1855/ 1856) oder: „ Schönheit “ und „ ein schönes Vermögen “ . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 D REIZEHNTES K APITEL Robert Louis Stevenson: The Bottle Imp (1891) oder: „ A love for a love! “ - „ A soul for a soul! “ . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 V IERZEHNTES K APITEL Franz Kafka: Die Verwandlung (1912/ 1915) oder: „ Es war kein Traum. “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 F ÜNFZEHNTES K APITEL Peter Rühmkorf: Auf Wiedersehen in Kenilworth (1980) oder: „ Mit uns soll die Welt noch mal ihr blaues Wunder erleben. “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 A NMERKUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 8 Inhalt E INLEITUNG I. Das Buch ist weder eine neue Untersuchung zur Geschichte noch zum Formproblem der Novelle. Die wissenschaftliche Literatur zur Novellen- Diskussion ist ohnehin kaum noch überschaubar. Eine exemplarische Zusammenfassung bietet der Artikel von Tom Kindt im Handbuch der literarischen Gattungen. 1 Das vorliegende Buch will dem grassierenden Gattungsfetischismus nicht noch ein Exempel hinzufügen. Es geht lediglich um eine kleine Ergänzung: Zwischen Novelle und Märchen hält das pseudowissenschaftliche Wort „ Kunstmärchen “ beharrlich seinen Kurs. Wir wissen indessen längst, dass das so genannte Kunstmärchen nichts anderes ist als das disharmonische Ineinander von Märchen und Novelle, eine Dissonanz, die als Widerspruch sowohl gegen das in der romantischen Umgangssprache modisch gewordene Märchen als auch gegen die zunehmend kurrente Novelle ihren literarhistorischen Ort hat. Es wird deshalb vorgeschlagen, den nahe liegenden Gattungsbegriff Märchen- Novelle für eine gewisse Erzählform zu verwenden, die in den folgenden Seiten mit einigen Mustern vorgeführt wird. Zuvor einige Bemerkungen: Wo und wann immer über die Novelle geschrieben wurde, hat man gerne Goethes Äußerungen über „ die sonderbaren Ereignisse “ mit ihrem dazugehörigen „ Konflikt “ umständlich erläutert und an der Merkformel festgemacht: Die Novelle ist „ eine sich ereignete unerhörte Begebenheit “ . 2 Die Rahmenhandlung mit ihrer entrückten, vor Pest und Verfolgung bewahrenden Funktion kommt selbstverständlich auch zur Sprache und ist ein Rückgriff auf Boccaccio und mitunter sogar ein Seitenblick auf die berühmte Erzählerin Scheherazade und auf ihre lebensrettenden Novellen-Märchen in Tausend-undeine-Nacht. Aber seltener wird auch über die letzte möglicherweise gewichtigste Geschichte am Ende von Goethes Unterhaltungen gesprochen, nämlich über das mit Metaphern überladene Märchen, das in das Schema nicht passen will. Es könnte folgerichtiger sein und weniger verworren, wenn man, mit der gängigen Novellen-Formel weitergehend von Novelle zu Novelle, von der Romantik zum Vormärz und vom Realismus ins folgende Jahrhundert, nicht allein beiläufig die Varianten ihrer Theorie aufzählte, 3 sondern zugleich damit Bezug nähme auf die diametral entgegengesetzte, aber parallele Geschichte und Theorie des Märchens. II. Der penetrante Blick auf die Novelle verstellt leicht das parallele Phänomen des Erzählens: das Märchen. Es dürfte nachdenklich machen, dass über das 18. Jahrhundert verstreut und über den Anfang des folgenden Jahrhunderts hinaus auch das Interesse für das Märchen auffallend zunimmt. Nicht nur, dass viele Märchen artistisch produziert, sondern als so genannte Volksmärchen gesammelt werden und in vielbändigen Sammlungen erscheinen, 4 die mit den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm im Jahre 1812 ihren Höhepunkt erreicht haben. Die Geschichte des Märchens parallel zur Novelle und beide Gattungen gleichsam spiegelvergleichend darzustellen und komparatistisch zu erörtern, wäre insofern reizvoll, als die poetologische Frage nahe läge, ob auf der Folie der einen Gattung die andere sich nicht deutlicher konturiere, oder ob eine gegenseitige Beeinflussung, sei es zentripedal oder zentrifugal, stattgefunden hat. Über die gattungsspezifischen Formalien hinaus dürfte nicht zuletzt die Frage von Bedeutung sein, welche Rolle die zeitgenössischen Rezipienten bei der Herausbildung der Gattungen gespielt haben, und ob eine strukturale Homologie auszumachen sei zwischen dem Faszinosum des Märchenwunders einerseits und der Neugierde nach dem novellistischen Novum andererseits und den Lesebedürfnissen der Rezipienten, kurz: zwischen Poesie und Gesellschaft. Die Literatur zur Geschichte des europäischen Märchens ist gleichfalls kaum noch zu übersehen, und es erübrigt sich eine Aufzählung oder ein Auswahlkommentar. Das Gattungs-Handbuch enthält hinreichend lange Listen. 5 Was seine über Jahrhunderte variierte Erscheinungsform anbelangt, scheinen nicht nur invariable Motive sie zu bestimmen, sondern zugleich damit stilistische Prinzipien. Wie bei der Novelle ließe sich die Frage nach ihrem puren Dasein mit Goethe begründen und rechtfertigen. In den Unterhaltungen wird das Märchen eingeleitet durch ein Gespräch, in dem es entschieden konturiert und abgehoben wird von der „ Wahrheit “ - man möchte meinen: von der novellistischen Wirklichkeit - weil es in Verbindung mit dieser „ meist nur Ungeheuer “ hervorbringe. 6 Aber Jahrzehnte später - die Kinder- und Hausmärchen waren längst bekannt - setzt Goethe sich in den Noten und Abhandlungen zum Westöstlichen Divan bewusst ab von Mohameds religiös-mora- 10 Einleitung lischem Verdikt gegenüber den Märchen aus Tausend-und-eine-Nacht und konstatiert: Märchen haben „ keinen sittlichen Zweck “ , sondern führen „ ins unbedingte Freie “ . 7 Goethe aber spricht bereits in den Unterhaltungen von der „ entschiedenen Neigung unserer Natur, das Wunderbare zu glauben “ , 8 und es ist naheliegend, dass in jener Epoche, in der das Märchen zum „ Canon der Poesie “ 9 avancierte, das Wunder zu seiner formalen Konstituente erklärt wurde. In der Tat: Seit der Wiederentdeckung des sogenannten Volksmärchens, in Absehung seiner artistischen Restauration und endlich in seiner poetologischen Deskription und Analyse gilt das Wunder als „ selbstverständlich “ im Märchen. 10 Mit anderen Worten: Im Märchen ist die Welt nicht gespalten zwischen wunderbaren Phänomenen und wirklichen Dingen, zwischen wundersamen Phantomen und wirklichen Figuren; vielmehr wird es bestimmt durch „ Eindimensionalität “ , 11 das bedeutet, die Märchenfiguren agieren auf der gleichen Ebene mit Hexen und Feen, Riesen und Zwergen, Zauberern und Drachen, dankbaren Toten und sprechenden Tieren. III. Wo Novelle und Märchen in ihrer gattungsspezifischen Erscheinungsform klar umrissen und hinreichend erläutert sind, gilt dies für die Verkoppelung in Form der Märchen-Novelle keineswegs. Das Ineinandergreifen märchenhafter und novellistischer Sequenzen, das Nebeneinander von Wunder und Ereignis, der notwendigerweise am Ende entstehende Zwiespalt zwischen Utopie und Gegenwart, kurz: die Verschmelzung zweier Gattungen zu einer, für die die Wissenschaft bislang nur den wenig treffenden Begriff des Kunstmärchens bereit hielt, ist bislang in der Forschung weitestgehend ausgeklammert worden. Dies verwundert vor allem im Hinblick auf die doch beachtliche Zahl von Beispielen, die zur Bestimmung dieser Misch-Gattung heranzuziehen wären. Die Mischung muss durchaus nicht als Metabasis eis allo genos verstanden werden, vielmehr als eine über sich hinausweisende Kontrastharmonie. Es könnte sein, dass die kontrastiven Gattungsbegriffe mit ihren literarischen Beispielen und ihrer literarwissenschaftlichen Verfügbarkeit transparent werden zu zeitgeschichtlichen Fakten, indem die abstrakten gattungsbestimmten Kontraste ihre gesellschaftsbezogenen Konditionen freigeben. Es könnte sein, dass über die fixierten Gattungsbegriffe hinaus konkrete Gegensatzpaare sichtbar werden: Phantasie und Kalkül, Wunder und Wirklichkeit, Zufall und Ananke, Glück und Berechnung, Armut und Reichtum, Segen und 11 Einleitung Kapital, Gold und Geld und so weiter. Sie alle weisen über subjektive Begriffe hinaus in objektive Konturen, und Epochenbezeichnungen wie Romantik und Realismus bleiben nicht länger mehr nur temporäre Orientierungen, sondern erhalten einen hermeneutischen Sinn. 12 Einleitung E RSTES K APITEL N OVALIS : H YAZINTH UND R OSENBLÜTCHEN (1798/ 1802) ODER : „ D AS M ÄHRCHEN IST GLEICHSAM DER C ANON DER P OESIE . “ I. „ Das Mährchen ist gleichsam der Canon der Poesie. “ 1 Mit diesem Diktum, das der Bergassessor Friedrich von Hardenberg, der sich als Dichter Novalis nannte, um die Jahreswende von 1798 auf 1799 in seinem Allgemeinen Brouillon notiert, kündigt sich der Beginn einer neuen Epoche an. Das Märchen - wie immer man es definieren und definitorisch abgrenzen mag von Sage, Legende, Novelle oder von erzählten Geschichten überhaupt - stand im Jahrhundert der Aufklärung nicht hoch im Kurs im Rahmen der überkommenen Poetik. Zugegeben: seit der Querelle des Anciens et des Modernes, der Streitfrage zwischen den Repräsentanten der Antike und der Moderne, seit der Frage in der Académie française zwischen Boileau und Perrault, ob die Antike weiterhin poetologische Norm für die poetische imitatio sein müsse, oder ob die inventio des Poeten als kreatives Organ gelten dürfe, war das Märchen, genauer: das Feen-Märchen, durch die französische Initiative zur modernen Gattung avanciert und durch zahlreiche Sammlungen, sogenannte Feen- Kabinette, verbreitet über ganz Europa. 2 Aber das Feen-Märchen war seit Perrault und seit den ihren Meister imitierenden Damen in Paris - Marie- Catherine d ’ Aulnoy, Charlotte-Rose de La Force, Henriette-Julie de Murat, Jeanne-Marie Leprince de Beaumont und anderen - zum pädagogischdidaktischen Lehrstück aufgestutzt worden, das trotz der vielen zauberkundigen Feen, ihrer zauberischen Schönheit, zauberhaften Arrangements und Requisiten, trotz der erfindungsreichen Phantasie, letzthin doch vornehmlich dirigiert und dominiert war von der Vernunft und einer allzu aufdringlichen Moral. Das manipulierte Märchen-Wunder, in den fast verschollenen Volksmärchen noch durchaus „ selbstverständlich “ , 3 wirkt nun wunderlich im Dienste pädagogischer Aufklärung; die Phantasie dient am Ende des Aufklärungs-Jahrhunderts noch immer gehorsam als ancilla philosophiae, als Magd der Vernunft. In Deutschland findet die Staffage des Wunders noch bei Johann Karl August Musäus 4 und vor allem bei dem Bearbeiter und Übersetzer französischer Märchen, Christoph Martin Wieland, 5 seine kunstreich und künstlich formulierte rationale Begründung und Fortsetzung, bis sie jäh abbricht in Tiecks Märchen und ins Absurde umschlägt. Erst als die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm am Ende des Jahres 1812 erscheinen, scheint mit den Volksmärchen das Wunder im romantischen Sinn selbstverständlich zu werden. Novalis aber scheint sich bereits bewusst von der rationalisierenden und moralisierenden Feen-Märchen-Mode abzusetzen, wenn er im gleichen Brouillon von 1798 schreibt: „ Nichts ist mehr gegen d[en] Geist des Mährchens - als ein moralisches Fatum - ein gesezlicher Zusammenhang. - Im Mährchen ist ächte Naturanarchie. Abstracten Welt - Traumwelt - Folgerungen von der Abstraction etc. auf d[en] Zustand nach dem Tode. “ 6 Was Novalis mit dem Begriff „ ächte Naturanarchie “ andeutet, erklärt ein anderes Fragment aus dem Brouillon auf das genaueste: „ Das ächte Märchen muß zugleich Prophetische Darstell[ung] - ab[solut] nothwendige Darst[ellung] seyn. Der ächte Märchendichter ist ein Seher der Zukunft. “ 7 Auffallend in diesem Zusammenhang das Adjektiv „ ächt “ , das gewiss mehr ist als nur ein epitheton ornans: Das „ ächte Märchen “ gewinnt innerhalb der Poetik nun eine Bedeutung wie nie zuvor; im Märchen kommt, wie in keiner anderen Gattung, die romantische Naturauffassung, sich herleitend aus der platonisch-plotinischen Tradition über Hemsterhuis und vor allem über Rousseau und Herder voll zur Geltung: Die Natur ist teleologisch strukturiert, in der Natur liegt ein verborgener Sinn, sie ist petrifizierter Geist, der sich entwickelt auf sein sinnvolles Ziel, gipfelnd im goldenen Zeitalter, 8 das sich als Einheit von Geist und Natur ankündigt im Märchen. Mehr noch: im Märchen ist die ansonsten gestörte Harmonie von Natur und Geist verwirklicht wie sie einst vorhanden war und noch vorhanden ist im Kinde. Im Märchen manifestiert sich der Kindheits-Traum auf einer höheren Ebene des Bewusstseins; das Märchen spiegelt verschüttete und vergessene Kindheits-Visionen: Bekenntnisse eines wahrhaften, synthetischen Kindes - eines idealischen Kindes. (Ein Kind ist weit klüger und weiser, als ein Erwachsener - d[as] Kind muß durchaus ironisches Kind seyn.) - Die Spiele d[es] K[indes] - Nachahmung der Erwachsenen. (Mit der Zeit muß d[ie] Gesch[ichte] Märchen werden - sie wird wieder, wie sie anfing.) 9 Novalis entwirft mit diesem Satz programmatisch seine Geschichts-Utopie, in der zugleich mit dem poetologischen Rang des Märchens die Rolle und die Bedeutung des Kindes sich bei aller Ähnlichkeit deutlich abhebt sowohl von der Märchen-Mode in der Nachfolge der französischen Aufklärung als auch von der 14 Erstes Kapitel Kinder-Apotheose des Idealismus und der Romantik. 10 Das Märchen spiegelt zwar sowohl formal wie auch inhaltlich den ontogenetischen Verlauf der Menschheitsgeschichte: was in der Archaik, im Kindheitsstadium der gesamten Menschheit erlebter Mythos war, wiederholt sich zeitlich gerafft im Kindesalter in den Bildern des Märchens. Aber die charakterisierenden Adjektiva sind ebenso irritierend wie höchst aufschlussreich, denn sie provozieren geradezu die Frage: Gibt es denn überhaupt ein „ idealisches “ oder gar ein „ ironisches “ bzw. ein „ synthetisches “ Kind? Ist diese Vorstellung nicht ein Widerspruch in sich selbst? Und welche Bedeutung hat in dieser Wort-Konstellation das als „ selbstverständlich “ empfundene Wunder im Märchen? Novalis gibt eine klare Antwort: „ Sonderbar, daß eine abs[olute], wunderbare Synthesis oft die Axe des Märchens - oder das Ziel desselben ist. “ 11 Für Novalis also ist sowohl das „ ächte Märchen “ wie das Wunder das Produkt einer „ Synthesis “ , eine „ synthetische “ Achse. Mit anderen Worten: Das Wunderbare ist künstlerisch oder künstlich erzeugt, gemacht, gefügt! Das dichterische Bewusstsein gleicht zwar dem kindlichen Bewusstsein, das die „ Qualität des Urzustandes [. . .] ahnen lässt “ 12 , aber das Märchen ist eine Gattung, die die Einsicht voraussetzt oder wenigstens das Gespür aufdeckt, dass der naive Glaube an das Wunderbare eben nicht mehr „ selbstverständlich “ ist, dass er künstlerisch „ synthetisiert “ werden muss. Das Kind ist somit eine nostalgische Figur, geboren aus einer vom Bewusstsein dirigierten Phantasie des Erwachsenen. Die im Märchen erhoffte und ersehnte „ Synthesis “ also setzt einen zutiefst schmerzlich empfundenen Zwiespalt voraus, eine beunruhigende Gespaltenheit, eine akute Spaltung des erwachenden Bewusstseins, das sich „ synthetisch “ müht um seine verlorene Einheit. II. Im Novalis-Märchen Hyazinth und Rosenblütchen scheinen die Märchen- Figuren bereits durch die mineralogischen und botanischen Blumennamen novellistisch markiert, aber zugleich symbiotisch aufgehoben zu sein in der Natur. Das Märchen, entstanden etwa zeitgleich zum Allgemeinen Brouillon um die Jahreswende von 1798 auf 1799, bestätigt durch den Titel somit scheinbar die naturmystische Einheit von Geist und Natur, Seele und Welt, wie es der Leser gewohnt ist vom Feen- und Volksmärchen. Und obwohl das Märchen eingefügt ist in den Roman Die Lehrlinge zu Sais, und ein der Gattung Volksmärchen fremder Erzähler deutlich sichtbar ist und anschaulich beschrieben wird „ als ein muntrer Gespiele, dem Rosen und Winden die Schläfen zierten “ , und obwohl auch der Hörer als einer von den disputierenden 15 Novalis: Hyazinth und Rosenblütchen Lehrlingen erkennbar ist, ein Jüngling, der „ mit Bangigkeit die sich kreuzenden Stimmen “ hört, setzt die Erzählung scheinbar ganz naiv ein mit den geläufigen Formeln eines Kindermärchens: Vor langen Zeiten lebte weit gegen Abend ein blutjunger Mensch. Er war sehr gut, aber auch über die Maßen wunderlich. Er grämte sich unaufhörlich um nichts und wieder nichts, ging immer still für sich hin, setzte sich einsam, wenn die Andern spielten und fröhlich waren, und hing seltsamen Dingen nach. Höhlen und Wälder waren sein liebster Aufenthalt, und dann sprach er immer fort mit Tieren und Vögeln, mit Bäumen und Felsen, natürlich kein vernünftiges Wort, lauter närrisches Zeug zum Totlachen. Er blieb aber immer mürrisch und ernsthaft, ungeachtet sich das Eichhörnchen, die Meerkatze, der Papagei und der Gimpel alle Mühe gaben ihn zu zerstreuen, und ihn auf den richtigen Weg zu weisen. Die Gans erzählte Märchen, der Bach klimperte eine Ballade dazwischen, ein großer dicker Stein machte lächerliche Bocksprünge, die Rose schlich sich freundlich hinter ihm herum, kroch durch seine Locken, und der Efeu streichelte ihm die sorgenvolle Stirn. Allein der Mißmut und Ernst waren hartnäckig. 13 Das Märchen aber wird dem von „ Bangigkeit “ umgetriebenen Lehrling, wie aus dem Vorbericht deutlich wird, gleichsam als hilfreiches Gleichnis erzählt: Die überdeutlichen Märchenbilder scheinen geradezu beispielhaft aufgestellt wie gemalte Kulissen und ebenso scheint die allbelebte Natur in auffallend inniger Kommunikation mit den Menschen zu stehen - aber schon der erste Blick lässt ahnen, was bei näherem Hinsehen immer deutlicher wird: das „ selbstverständlich “ wunderbare Einverständnis ist synthetisch hergestellt. Unauffällig zwar, aber für den zeitgenössischen Leser unüberhörbar etwa die literarische Anspielung auf den damals bekanntesten Märchenerzähler Perrault und auf seine Märchensammlung Contes de ma mère l ’ Oye: „ Die Gans erzählte Märchen. “ 14 Und der Märchenheld ist kein Prinz, ist auch nicht der dritte und jüngste, verachtete und verkannte Sohn eines Müllers oder Schneiders, der ausziehen muss, um in der Welt sein Glück zu suchen, er ist kein gesichtsloser zeitenthobener Märchenjunge, sondern ein hübscher Jüngling, durchaus verbunden mit einem gleichfalls hübschen Mädchen. Überaus deutlich tritt das junge Paar vor Augen: Er war recht bildschön, sah aus wie gemalt, tanzte wie ein Schatz. Unter den Mädchen war Eine, ein köstliches, bildschönes Kind, sah aus wie Wachs, Haare wie goldne Seide, kirschrote Lippen, wie ein Püppchen gewachsen, brandrabenschwarze Augen. Wer sie sah, hätte mögen vergehn, so lieblich war sie. 15 Das scheinbar naive Erzählen also scheint gelenkt und dirigiert von der bewussten Steuerung durch epische Wie-Vergleiche, von einer wie immer 16 Erstes Kapitel „ idealischen “ so doch „ synthetischen “ Kindlichkeit, und der Leser erwartet eine Erklärung für den beharrlichen „ Mißmut “ des Jünglings und mit der Erklärung zugleich eine Aufhebung des gestörten Glücks. Beides wird ihm dargeboten: Ach! wie bald war die Herrlichkeit vorbei. Es kam ein Mann aus fremden Landen gegangen, der war erstaunlich weit gereist, hatte einen langen Bart, tiefe Augen, entsetzliche Augenbrauen, ein wunderliches Kleid mit vielen Falten und seltsame Figuren hineingewebt. Er setzte sich vor das Haus, das Hyazinths Eltern gehörte. Nun war Hyazinth sehr neugierig, und setzte sich zu ihm und holte ihm Brot und Wein. Da tat er seinen weißen Bart von einander und erzählte bis tief in die Nacht, und Hyazinth wich und wankte nicht, und wurde auch nicht müde zuzuhören. So viel man nachher vernahm, so hat er viel von fremden Ländern, unbekannten Gegenden, von erstaunlich wunderbaren Sachen erzählt, und ist drei Tage dageblieben, und mit Hyazinth in tiefe Schachten hinuntergekrochen. 16 III. Wie in den Volksmärchen ist die Zäsur zwar unauffällig, aber dennoch höchst bedeutsam und beredt, denn „ der Mann aus fremden Landen “ ist eine exemplarische Erscheinung und eine nicht leichthin zu deutende Symbolfigur, die im Unterschied zu den herkömmlichen Figuren der Märchen interpretatorischer Erklärung bedarf, denn gewiss ist: in der Begegnung mit den geheimnisvollen Fremden ereignet sich die Erfahrung der Befremdlichkeit, der Fremdheit und der Entfremdung. Der Fremde aber, der den Einbruch der Fremdheit verursacht, eröffnet ein Problem, das zunächst als Frage offen bleibt: ist diese Erfahrung die Infragestellung der Geborgenheit und des Aufgehobenseins in der bislang vertrauten Natur? Der wie immer märchenhaft figurierte Fremde eröffnet ein typisches novellistisches Ereignis. Mit dem Wort Entfremdung sozialpsychologisch oder existenzphilosophisch und ontologisch zu spielen und Anleihen bei Karl Marx 17 oder Heidegger, Sartre und Camus zu machen, ist zwar naheliegend, aber irreführend. Man sollte eher eingedenk bleiben des ursprünglichen und immer wiederkehrenden Topos der Fremde und der Fremdheit seit dem Platonischen bzw. Plotinischen Idealismus: der Mensch als Höhlenbewohner dieser Welt lebt im Reich der Schatten und somit grundsätzlich in der Fremde, und nur eine anamnetische Meditation und eine philosophische Reflexion verbindet ihn mit seiner translunaren Heimat. Ähnlich die altisraelische und christliche Tradition, dokumentiert im Alten 17 Novalis: Hyazinth und Rosenblütchen und Neuen Testament. Schon die Erzväter Israels haben „ sich genügen lassen und bekannt, daß sie Gäste und Fremdlinge auf Erden wären “ . 18 Gewiss: der christliche Nachfahre darf sich zwar trösten: „ So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen. “ 19 Aber trotz der Glaubensgewissheit weiß auch der Frömmste sich in der Fremde, und wie in der paganen Antike, so treffen wir auch im christlichen Zeitalter und seit dem Mittelalter immer wieder auf den Xenos und die Xene, auf den Peregrinus und die Peregrina, immer wiederkehrende Figurationen nicht erst seit Bunyan ’ s Pilgrim ’ s Progress oder seit Mörikes Peregrina-Gedichten. Näher liegt eine entwicklungspsychologische Erklärung der Selbst-Entfremdung, nämlich als Ablösung von der Kindheit und als Krise des Übergangs zu einer neuen Lebens-Epoche. Aber der theologische und psychologische Topos der Fremdheit gewinnt am Ende des Jahrhunderts philosophische Relevanz dadurch, dass Immanuel Kant mit seiner Kritik der reinen Vernunft den unmittelbaren Bezug zu den Objekten stört, indem sie philosophisch zu vermittelten Erscheinungen des Subjekts erklärt werden; zugleich schneidet er damit auch den anamnetischen Rückzug in transzendente Regionen ab, indem er die Vernunft auf ihr transzendentales Kategorien-System beschränkt. Der Mensch kann also nur wissen, was sein transzendental-kategoriales Denken ihm an Erfahrungen und Erscheinungen vorgibt, das Ding an sich kann er nicht erkennen, geschweige denn vordringen in transzendente Sphären. Mit der transzendental-philosophischen Reflexion des Denkens auf das eigene Selbst liegt ein doppeltes Missverstehen nahe: einerseits können die Erscheinungen resignativ zum bloßen Schein reduziert, andererseits aber als spontane Schöpfungen des Bewusstseins deduziert bzw. poetisiert werden - und es ist kein Zufall, dass in der frühromatischen Diskussion, vermittelt durch die Wissenschaftslehre Fichtes, der Begriff „ transzendental “ kreativ verstanden und übersetzt wird in eine facettenreiche poetologische Spekulation. Novalis ’ Freund Friedrich Schlegel dekretiert mit Bestimmtheit in seinen Athenäum-Fragmenten: Es gibt eine Poesie, deren eins und alles das Verhältnis des Idealen und des Realen ist, und die also nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache Transzendentalpoesie heißen müßte. [. . .] So wie man wenig Wert auf eine Transzendentalphilosophie legen würde, die nicht kritisch wäre, nicht auch das Produzierende mit dem Produkt darstellte, und im System der transzendentalen Gedanken zugleich eine Charakteristik des transzendentalen Denkens enthielte: so sollte wohl auch jene Poesie [. . .] in jeder ihrer Darstellungen sich selbst darstellen, und überall zugleich Poesie der Poesie sein. 20 18 Erstes Kapitel Mit dem Postulat der Transzendentalpoesie und mit der Deklaration der Selbständigkeit des Bewusstseins, genauer: mit der poetischen Selbstmächtigkeit und Freiheit, und darüber hinaus mit der kreativen Phantasie des Poeten, gewinnt das künstlerische Subjekt einen ungeahnten Spiel-Raum. Von französischer Seite ist zu dieser philosophisch-poetischen Emanzipation bemerkt worden: Die Romantik, der Anfang der poetischen Bewusstwerdung, ist keine schlichte literarische Schule, auch nicht nur ein wichtiges Moment der Kunstgeschichte: sie eröffnet eine neue Epoche; mehr noch, sie ist die Epoche, in der alle andern sich enthüllen, denn durch sie kommt das absolute Subjekt jener Enthüllung ins Spiel, das „ Ich “ in seiner Freiheit, die an keine Bedingung geknüpft ist. 21 Die Reflexion des Subjekts auf sich selbst ist gleichsam als Einkehr die Rückkehr aus der Fremde, die Heimkehr in das Selbst, in das Ich, und Novalis ’ berühmtes Blütenstaub-Fragment gewinnt wegweisende Transparenz: Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. - Nach innen geht der geheimnißvolle Weg. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit in ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt. Sie wirft ihre Schatten in das Lichtreich. 22 Novalis ’ Märchen von Hyazinth und Rosenblütchen erscheint durch diesen Seitenblick auf die zeitgenössische Philosophie in neuem Licht. Und auch „ der Mann aus fremden Landen “ bekommt möglicherweise eine gewisse Bedeutung: er trägt nicht nur „ ein wunderliches Kleid mit vielen Falten und seltsame[n] Figuren “ , er erzählt nicht nur „ von fremden Ländern “ , er steigt auch mit Hyazinth „ in tiefe Schachten “ herab und vor allem: er hat ihm am Ende „ ein Büchelchen dagelassen, das kein Mensch lesen konnte. “ Obwohl Rosenblütchen „ den alten Hexenmeister verwünscht “ und sich „ recht zum Erbarmen “ getan hat um Hyazinth, hat der Freund „ sich wenig aus ihr gemacht “ , ist immer schweigsamer geworden. Durch die Begegnung mit dem Fremden seines natürlichen Friedens beraubt und ausgestoßen aus der heimatlichen Geborgenheit, findet Hyazinth keine Ruhe und keine Rast, keinen Halt und keine Hilfe und auch keine Weisung im unlesbaren Büchelchen. Doch da trifft er auf eine „ alte wunderliche Frau im Walde “ , die ihm plötzlich und unverhofft den Weg der Genesung offenbart: sie wirft das Büchelchen ins Feuer und bedeutet ihm, sein Heil in der Ferne zu suchen. Die alte Frau erinnert mit ihrer Verheißung abermals an die gewohnten Märchen und an ihre Feen mit ihrer Weisung zum Glück, aber die unbestimmte Ferne scheint vielversprechender, denn dort in einer raum- und zeitlosen 19 Novalis: Hyazinth und Rosenblütchen Zukunft winkt Heimat als Heilung vom entfremdeten Bewusstsein, dort vollzieht sich die „ Auflösung der starren Abgrenzung zwischen Mensch und Natur “ , 23 dort ist heile Gegenwart als mögliches „ goldenes Zeitalter “ . 24 Hyazinth erfährt schmerzlich, aber ohne Reue, dass er ohne Verzug hinaus muss, um zu suchen, was er verloren hat und auf langer Wanderschaft vielleicht finden kann. Hyazinths Erklärungen aber sind ebenso entschieden wie vieldeutig; und wie oder was immer sie besagen und bedeuten mögen, sie nehmen sich doch höchst sonderbar weil auffallend literarisch aus im Märchen: „ Grüßt Rosenblütchen. Ich hätte sie gern gesprochen, ich weiß nicht, wie mir ist, es drängt mich fort; wenn ich an die alten Zeiten zurück denken will, so kommen gleich mächtigere Gedanken dazwischen, die Ruhe ist fort, Herz und Liebe mit, ich muß sie suchen gehn. Ich wollt ’ euch gern sagen, wohin, ich weiß selbst nicht, dahin wo die Mutter der Dinge wohnt, die verschleierte Jungfrau. Nach der ist mein Gemüt entzündet. Lebt wohl. “ Er riß sich los und ging fort. Seine Eltern wehklagten und vergossen Tränen, Rosenblütchen blieb in ihrer Kammer und weinte bitterlich. 25 Wie häufig in den Feen- und Volksmärchen ist der Weg ebenso mühsam und langwierig wie traumhaft kurz, die gewohnte und gewöhnliche Wirklichkeit scheint, wie auch Raum und Zeit, aufgehoben im vorauseilenden Bewusstsein, das wie auf einer Traum-Bühne agiert; fernste Zeiträume fallen zusammen in einem Augenblick; die mühsame horizontal-chronologische Zeitfolge wird durchkreuzt vom vertikalen Kairos. Es lag wie viele Jahre hinter ihm: Nun wurde die Gegend auch wieder reicher und mannigfaltiger, die Luft lau und blau, der Weg ebener, grüne Büsche lockten ihn mit anmutigen Schatten, aber er verstand ihre Sprache nicht, sie schienen auch nicht zu sprechen, und doch erfüllten sie auch sein Herz mit grünen Farben und kühlem, stillem Wesen. Immer höher wuchs jene süße Sehnsucht in ihm, und immer breiter und saftiger wurden die Blätter, immer lauter und lustiger die Vögel und Tiere, balsamischer die Früchte, dunkler der Himmel, wärmer die Luft, und heißer seine Liebe, die Zeit ging immer schneller, als sähe sie sich nahe am Ziele. Eines Tages begegnete er einem kristallnen Quell und einer Menge Blumen, die kamen in ein Tal herunter zwischen schwarzen himmelhohen Säulen. Sie grüßten ihn freundlich mit bekannten Worten. „ Liebe Landsleute “ , sagte er, „ wo find ich den geheiligten Wohnsitz der Isis? Hier herum muß er sein, und ihr seid hier vielleicht bekannter als ich. “ „ Wir gehn auch nur hier durch “ , antworteten die Blumen; „ eine Geisterfamilie ist auf der Reise und wir bereiten ihr Weg und Quartier, indes sind wir vor kurzem durch eine Gegend gekommen, da hörten wir ihren Namen nennen. Gehe nur aufwärts, wo wir herkommen, so wirst du schon mehr erfahren. “ 26 20 Erstes Kapitel Die Bilder der Natur werden lebendig: die Büsche sprechen zwar eine unverständliche Sprache, aber die Blumen weisen den aus der hohen Schule entflohenen Lehrling auf seine höchst unnatürliche Frage nach dem „ Wohnsitz der Isis “ doch auf den rechten Weg. Spätestens an dieser Stelle wird die „ aus dem Intellekt destillierte Naivität “ 27 deutlich, wird der Bruch offenkundig zwischen kindlicher Märchen-Sprache und religions-philosophischer Reflexion, die am Ende, was kaum noch überrascht, einmündet in eine mystische Erfüllung, in eine erotisch säkularisierte unio mystica: Die Blumen und die Quelle lächelten, wie sie das sagten, boten ihm einen frischen Trunk und gingen weiter. Hyazinth folgte ihrem Rat, frug und frug und kam endlich zu jener längst gesuchten Wohnung, die unter Palmen und andern köstlichen Gewächsen versteckt lag. Sein Herz klopfte in unendlicher Sehnsucht, und die süßeste Bangigkeit durchdrang ihn in dieser Behausung der ewigen Jahreszeiten. Unter himmlischen Wohlgedüften entschlummerte er, weil ihn nur der Traum in das Allerheiligste führen durfte. Wunderlich führte ihn der Traum durch unendliche Gemächer voll seltsamer Sachen auf lauter reizenden Klängen und in abwechselnden Akkorden. Es dünkte ihm alles so bekannt und doch in nie gesehener Herrlichkeit, da schwand auch der letzte irdische Anflug, wie in Luft verzehrt, und er stand vor der himmlischen Jungfrau, da hob er den leichten, glänzenden Schleier, und Rosenblütchen sank in seine Arme. 28 IV. Die nun aufbrechenden Fragen nach der „ Bedeutung der einzelnen Bilder “ 29 - das Büchelchen, die alte wunderliche Frau im Walde, die Mutter der Dinge, die verschleierte Jungfrau, der Schleier der Isis und das Bild von Sais - näher vor das Okular der Betrachtung zu rücken, wäre wohl reizvoll. „ Man könnte weiter mit gutem Grund danach suchen, was an platonischen, plotinischen, kabbalistischen und alchemistischen Ideen ins Märchen eingegangen ist, und man wird auch einiges finden. “ 30 Aber es ist Vorsicht geboten vor einer vereinfachenden und vereinseitigenden allegorisierenden Erstarrung; die Figuren und Dinge bedeuten nicht mit Bestimmtheit dieses oder jenes, sondern sind Assoziationskoordinaten eines triadischen Entwicklungsprozesses. Literarische Exempel komparatistisch zu bemühen, läge wohl nahe: Aber ob der Hinweis auf Immermanns Münchhausen und auf das dortige Waldmärchen Die Wunder im Spessart mit seinem Bekenntnis zur entzauberten Natur möglicherweise als Folie verstanden und verwendet werden und für das 21 Novalis: Hyazinth und Rosenblütchen Verständnis des wie immer sublimierten so doch gültigen Wunderglaubens der frühen Romantik gelten könnte, dürfte fraglich bleiben. 31 Schillers Gedicht Das verschleierte Bild zu Sais mit seiner gefährlichen Frage nach der Wahrheit zum erläuternden Vergleich heranzuziehen, böte sich eher an: dort hebt auch ein Jüngling den Schleier der Isis - aber er bezahlt mit seinem Leben und stirbt mit den warnenden Worten: „ Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld. “ 32 Endlich könnte ein religionsgeschichtlicher Exkurs nach der Bedeutung der Isis als Mutter aller Dinge einladend sein, aber solche weitschweifigen Interpretationen steuern mit gelehrtem Ballast ins Grenzenlose und führen an der Sache vorbei, die Novalis selbst mit einem Distichon auf den Begriff gebracht hat: Einem gelang es - er hob den Schleier der Göttin zu Sais - Aber was sah er? er sah - Wunder des Wunders - Sich selbst. 33 Hyazinth heißt dieser eine - und damit ist das Ziel, der Sinn seiner Wanderschaft genannt. Nun, es geht nicht um Wahrheit - es geht um das Selbst. Aber dennoch ist ein weiteres Wort vonnöten. Warum ist die Selbstfindung nur im Traum zu erreichen? Der Traum gewinnt seine Bedeutung nur als Metapher: Der Schlaf ist bezeichnenderweise ein „ Schlummer “ , entsprechend ist der Traum ein visionärer Wachtraum: im Traum von der Isis als Mutter der Dinge wird die transzendentale Wahrheit anschaulich. 34 Eine solche Wahrheit ist ein jenseits empirischer Realität liegendes Ziel: „ Es ist dem Realitätssinn des Helden noch des Lesers nicht fassbar und kann deshalb nur im zukunftsweisenden Motiv des Traumes zur Darstellung kommen. “ 35 Nicht zufällig hat der Traum in der frühen und späten Romantik eine in der Entwicklung des Kindes und überhaupt des Menschen dominierende und vorausweisende Bedeutung. 36 Wie im Feen- und Volksmärchen scheint die Scheidung zwischen Natur und Geist, Welt und Seele, Außen und Innen im Traum zwar aufgehoben, die Rückkehr zur Natur und zur natürlichen Kindlichkeit scheint zwar gelungen, aber der transzendentale Traumweg führt zu einer synthetischen Einheit. Diese nun gewonnene Harmonie ist keineswegs gleichzusetzen mit der natürlichen Vollkommenheit, die keiner akzelerierenden Hilfe mittels fremdgesteuerten Lernens bedarf und keine dirigierende Erziehung nötig hat, und die aufgrund der natürlichen Anlage sich organisch „ von selbst “ entwickelt - im Gegenteil: das organische Wachstum des Kindes und das selige Ruhen in sich selbst, wie es bei Rousseau und Herder und später bei Runge, Tieck und Hölderlin und noch bei den Brüdern Grimm 37 nicht nur die psychologische Pädagogik allgemein, sondern die definitorische und historische Bestimmung und Genese des Märchens und die Erziehung durch Märchen 38 im Besonderen bestimmt, 22 Erstes Kapitel ist bei Novalis bereits in genialer Vorausschau überholt. Wenn Novalis auch gleicherweise wie Rousseau und Herder ontogenetisch argumentiert und im Blick auf die Entwicklung der allgemeinen Menschheit und der einzelnen Menschen davon spricht, dass Kindheit „ der Erwachsenheit entgegengesetzt “ ist, und wenn er für diesen Gegensatz die Bilder „ Blüthe und Frucht - Frühling und Herbst “ 39 verwendet, wenn er auch von zunehmender „ Zerspaltung [. . .] der späteren Menschen “ 40 spricht, so ist bei ihm die Entwicklung des Kindes zum erwachsenen Menschen doch nicht ein kontinuierlich linear „ von selbst “ verlaufender Prozess, sondern ein dialektischer Progress: Weil im Kinde das ganze Menschsein angelegt ist, so soll und muss zwar das Kindsein aufgehoben werden im erwachsenen Menschen - aber im Durchgang durch das Ereignis der Entfremdung. Das Märchen von Hyazinth und Rosenblütchen zeichnet bzw. offenbart auf exemplarische Weise in ebenso einfach-kindlichen wie höchst artistisch reflektierten Bildern den Entwicklungsweg eines kindhaften Jünglings aus der unbewussten oder vorbewussten „ Bangigkeit “ und „ Wirrnis “ , aus der Unruhe der Selbst-Entfremdung in die Ruhe der Selbst-Findung. Die Übereinstimmung des irrenden Ich mit sich selbst aber gelingt erst in der verzweifelten Isolation. Die Wiedergeburt aber ist dort als transzendentaler Wach-Traum eine Synthese zwischen Bangen und Hoffen, Irren und Einsicht, Bewusstsein und Sein, zugleich damit aber die Einheit von Kindheit und Alter als das eigentliche Selbst, als die Wahrheit der menschlichen Existenz. Nun erst erfüllt sich die Liebe als Glück: Eine ferne Musik umgab die Geheimnisse des liebenden Wiedersehens, die Ergießungen der Sehnsucht, und schloß alles Fremde von seinem entzückenden Orte aus. Hyazinth lebte nachher noch lange mit Rosenblütchen unter seinen frohen Eltern und Gespielen, und unzählige Enkel dankten der alten wunderlichen Frau für ihren Rat und ihr Feuer; denn damals bekamen die Menschen so viel Kinder, als sie wollten. 41 Nun kann die Rückkehr in das eheliche Glück weder verwechselt werden mit philiströsem Nest-Heimweh, noch mit der Seligkeit der Glückspilze im Feen- und Volksmärchen; sondern hier ereignet sich trotz ihrer scheinbaren Nachfolge das „ selbstverständliche “ Wunder auf sublimere Weise - wenn auch abermals scheinbar als Märchen. Nun kann auch das berühmte Fragment voll verstanden werden und zur Geltung kommen: „ Wo Kinder sind, da ist ein goldenes Zeitalter. “ 42 Auf der Ebene dieser zweiten Kindheit fällt nicht nur zusammen, was durch „ Bangigkeit “ und „ Mißmut “ geschieden war, in diesem transzendentalen Wach- 23 Novalis: Hyazinth und Rosenblütchen Traum vollzieht sich das Geschehen wieder scheinbar wunderbarerweise „ von selbst “ . In den späten Teplitzer Fragmenten steht zwar die Konfession: Die Anstrengung überhaupt bringt nur, als indirecter, vorbereitender Reitz, eine Operation zu Stande. In der rechten Stimmung, die dadurch entstehn kann, gelingt alles von selbst. Der Mangel an mehreren, zugleich gegenwärtigen Ideen etc. rührt von Schwäche her. In der vollkommensten Stimmung sind alle Ideen gleich gegenwärtig - In dieser ist auch keine Passion, kein Affekt möglich - In ihr ist man wahrhaft im Olymp - und die Welt zu unseren Füßen. Die Selbstbeherrschung geht in ihr von selbst von Statten. Kurz alles scheint von selbst zu geschehn - wenn das rechte Medium vorhanden ist - wenn das Hinderniß gehoben wird. Alle Construction ist also indirect. On ne fait pas, mais on fait, qu ’ il se puisse faire. In einer gewissen Höhe der Sensation ist man von selbst, ohne Zuthun, tugendhaft und genialisch. 43 Im Märchen von Hyazinth und Rosenblütchen manifestiert sich aber wie in einem Vexierspiegel sowohl die individuelle Entwicklung des Kindes und des Jünglings zum erwachsenen Menschen als auch die ontogenetische Evolution der generellen Menschheit vom Kindheits-Stadium zur Reife; und es ist kein zufälliger, sondern ein notwendiger literarhistorischer Augenblick, dass sich damit die frühromantische Philosophie der Geschichte kundgibt als Märchen, und nun versteht sich jenes eingangs irritierende Fragment „ von selbst “ : „ Mit der Zeit muß d[ie] Gesch[ichte] Märchen werden - sie wird wieder, wie sie anfing. “ 44 In diesem geschichtsphilosophischen Sinn ist das Märchen in der Tat der „ Canon der Poesie “ . Aber es dürfte deutlich geworden sein: Das wunderbare „ von selbst “ ist keine naturhafte, organische, blütenhaft sich entfaltende Entwicklung, sondern vollzieht sich hier auf „ einer gewissen Höhe der Sensation “ , auf sublimierter Ebene nach dem Ereignis der Entfremdung. Nicht das Volksmärchen ist die Folie, wie wenig später bei den Brüdern Grimm, sondern das „ Mährchen “ ist pure Konstruktion eines auf hohem Niveau operierenden Dichters. Es wird sich zeigen, dass fast gleichzeitig mit den Kinder- und Hausmärchen ein widersprüchliches Konstrukt seine Stunde hat: Die Märchen-Novelle. 24 Erstes Kapitel Z WEITES K APITEL J OHANN W OLFGANG G OETHE : D IE N EUE M ELUSINE (1772/ 1829) ODER : „ NUN ABER HABEN WIR DEN S CHATZ DIE T REPPE HINUNTERGEHEN SEHEN “ „ Sie drückte mir einen Beutel mit Gold in die Hand und ich meine Lippen auf ihre Hände. “ Melusine - der aus mittelalterlicher Epik überkommene Name klingt anrührend durch seine fließenden Liquide und beschwört nachklingend wohlbekannte Figuren weiblicher Verführungs-Kunst: Lilith, Loreley, Lila, Lulu, Lola, Lolita. Clemens Brentano übertrug in einer romantisch-resignativen Stimmung ihren gefährlichen Zauber auf die gesamte Dichtkunst, auf die „ Poesie, die Schminkerin “ , und versuchte ihren verderblichen Sog mit der alliterierenden Formel zu bannen: „ Melusinenlippen lachen “ . 1 Der zweiundzwanzigjährige Straßburger Student Johann Wolfgang Goethe hatte im Pfarrhaus von Sesenheim die achtzehnjährige Tochter Friederike kennen gelernt. Zwischen Schwestern, Freundinnen und Dorfmädchen erzählte er dort in einer Laube das Märchen von einer Neuen Melusine. 2 Ob Friederike damals eine Erinnerung an die sagenhafte Melusine geweckt hat, ist mit dem Bild, das er fast ein halbes Jahrhundert später in Dichtung und Wahrheit zeichnet, kaum vorstellbar. In diesem Augenblick trat sie wirklich in die Türe; und da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel ein allerliebster Stern auf. Beide Töchter trugen sich noch deutsch, wie man es zu nennen pflegte, und diese fast verdrängte Nationaltracht kleidete Friederiken besonders gut. Ein kurzes weißes rundes Röckchen mit einer Falbel, nicht länger, als daß die nettsten Füßchen bis an die Knöchel sichtbar blieben; ein knappes weißes Mieder und eine schwarze Taffetschürze - so stand sie auf der Grenze zwischen Bäuerin und Städterin. Schlank und leicht, als wenn sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorge geben könnte; der Strohhut hing ihr am Arm, und so hatte ich das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmut und Lieblichkeit zu sehn und zu erkennen. 3 Naheliegend die Frage: Was für einen Inhalt hatte die Neue Melusine damals in der Laube? Die Frage stellt sich umso dringlicher, als das vorliegende Märchen weder mit der verführerischen Wasserfrau von Lusignan noch mit der biederen Pfarrerstochter von Sesenheim verwandt scheint. Die Sesenheimer Lauben-Geschichte zu rekonstruieren war lange Zeit ein ebenso ernsthaftes wie vergebliches Bemühen der Literaturwissenschaft. 4 Man wird sich endlich bescheiden und sich mit wenigen und vagen Anhaltspunkten begnügen müssen: Die Neue Melusine wird, wie „ neu “ auch immer, in Sesenheim gewiss noch ein Wasserweibchen gewesen und lange Zeit geblieben sein, so wenigstens geht es noch aus einer Werther-Stelle hervor, in der möglicherweise eine Sesenheimer Erinnerung nachklingt: „ Da ist gleich vor dem Ort ein Brunnen, an den ich gebannt bin wie Melusine mit ihren Schwestern. “ 5 Aber in seinen mehr als zwanzig Jahre später geschriebenen Briefen an Schiller, in denen er von einem „ undenischen Pygmäenweibchen “ 6 und von einem „ Weibchen im Kasten “ spricht, scheint das Wassermädchen eben eine sonderbare Metamorphose zu erleben: Melusine wird zur Zwergin. Schließlich erschien das Märchen von der Melusine als Märchen-Novelle nach mehreren Zwischenstufen in ihrer endgültigen Fassung erst im Jahre 1829 als sechstes Kapitel im dritten Buch des Romans Wilhelm Meisters Wanderjahre. 7 Und dort ist sie eine Zwergenprinzessin mit einer wundersamen Biographie und mit einem seltsamen Schicksal: Wie jede Märchenprinzessin verfügt sie zwar über Gold und kostbare Schätze und darüber hinaus über Zauberkräfte, aber ihre Dynastie kränkelt an einer lebensgefährlichen Schrumpfung und sie ist gezwungen, sich in der Menschenwelt nach einem Liebhaber umzuschauen, um ihre Lebenskräfte und Lebensform aufzufrischen und zu erneuern. Und nun geschieht das ebenso märchenhafte wie märchenfremde Wunder, dass sie in Gestalt einer wirklichen Frau in die Menschenwelt eintritt und unter Menschen nach einem gesunden und kräftigen Ritter sucht - und sie findet ihn! Mit der Verwandlung aber einer orts- und zeitenthobenen Märchen- Zwergin zur lebensechten schönen Menschenfrau endet das Märchen als Märchen und wandelt sich zu einer an Ort und Zeit gebundenen Novelle. Der zuschauende Leser ist nicht wenig verwundert und fragt sich: Wer erzählt eigentlich diese zwischen Märchen und Novelle spielende Geschichte und wie kommt eine solch kuriose Geschichte an ihr Ende? Der Autor Goethe also hat das Melusinen-Märchen ungewöhnlich lange mit sich herumgetragen und im Laufe von fünf Jahrzehnten ständig überdacht und verändert. Man darf sich fragen: Was für ein Interesse leitete ihn nicht nur bei diesem Märchen, sondern überhaupt bei der Gattung Märchen? Goethe kannte, wie er in Dichtung und Wahrheit berichtet, 8 nicht nur seit Kindertagen die deutschen Volksbücher und die ihnen verwandten Märchen, sondern zollte auch später sehr wohl der Märchen-Mode seiner Zeit ihren 26 Zweites Kapitel Tribut: „ Selig sind die da Mährchen schreiben, denn Mährchen sind à l ’ ordre du jour “ , 9 schreibt er an Schiller am 26. September 1795, just zu jener Zeit, da er sich eben wieder nach mehreren Ansätzen mit der Sage bzw. mit dem Märchen von der Schönen Melusine seiner Knabenzeit beschäftigte. Als Goethe später die neueren Ausgaben von Tausend-und-eine-Nacht las, war er von Scheherazades Erzählungen und Märchen zutiefst beeindruckt. 10 Es mag ihn vor allem das mutwillige Ineinander der lautlosen Begebenheiten im wundersamen Geisterreich und dem geschäftigen Lärm in den Straßen und Basaren des orientalischen Alltags angeregt haben. Nicht nur poetische Spuren sind sichtbar, etwa im mephistophelischen Homunkulus-Märchen im zweiten Teil seines Faust, 11 sondern auch poetologische Exkurse zur spezifischen Form der frühen orientalischen Märchen und ihrer Rezeption im Islam: In seiner Abneigung gegen Poesie erscheint Mahomet auch höchst konsequent, indem er alle Märchen verbietet. Diese Spiele einer leichtfertigen Einbildungskraft, die vom Wirklichen bis zum Unmöglichen hin und her schwebt und das Unwahrscheinliche als ein Wahrhaftes und Zweifelloses vorträgt, waren der orientalischen Sinnlichkeit, einer weichen Ruhe und bequemem Müßiggang höchst angemessen. Diese Luftgebilde, über einem wunderlichen Boden schwankend, hatten sich zur Zeit der Sassaniden ins Unendliche vermehrt, wie sie uns „ Tausend und eine Nacht “ , an einen losen Faden gereiht, als Beispiele darlegt. Ihr eigentlicher Charakter ist, daß sie keinen sittlichen Zweck haben und daher den Menschen nicht auf sich selbst zurück, sondern außer sich hinaus ins unbedingte Freie führen und tragen. Gerade das Entgegengesetzte wollte Mahomet bewirken. 12 Märchen lautet gleichsam provokativ der Titel seiner symbolträchtigen Wundererzählung, und sie scheint in der Tat ins „ unbedingte Freie “ der Phantasie zu führen, während der Märchen-Freiraum für die Neue Melusine notwendigerweise begrenzt ist, denn der Erzähler agiert höchstselbst mit einer bedeutsamen Rolle in seinem Märchen! Es bleibt nicht aus, dass er an der Wirklichkeit zuweilen aneckt. Frage also: Wer ist der Erzähler? Er ist zwar ein Anonymus, aber der Autor rückt ihn trotz seiner Anonymität auffallend in den Vordergrund. Er wird vorgestellt als „ Rotmantel “ , als „ Bartkünstler “ und „ derber Wundarzt “ , der auf „ Gewöhnliches und Zufälliges “ Verzicht getan hat und stattdessen „ reich an wunderlichen Erfahrungen “ ist und „ wahrhafte Märchen und märchenhafte Geschichten zu erzählen “ weiß. 13 Mag der rote Mantel auch zu seinem Beruf gehören, er gemahnt indessen an ein mephistophelisches Kostüm. Aber er wartet in einer „ weit umherschauenden Laube “ 14 (! ) einer achtbaren und ehrsamen Gesellschaft mit seiner sonderbaren Geschichte auf: Er sei bzw. war, 27 Johann Wolfgang Goethe: Die Neue Melusine wie er nun seinen Zuhörern weismachen will, der erwählte Ritter jener Märchen-Prinzessin! Er spielte also als wirklicher Mensch seine Rolle in einem unwirklichen Märchen. Der geneigte, aber literarisch kundige Leser merkt auf: Ein nicht nur formaler, gattungsspezifischer, sondern ein existentieller Kontrast fürwahr! Das selbstverständliche Wunder des Märchens wird zum sonderbaren Ereignis der Novelle und spielt auf ungewohnte Weise mitten in der Wirklichkeit des Alltags. 15 Ein Bartkünstler und Haarkräusler als Märchen-Erzähler in einer noblen Gesellschaft! Von ihm seien „ schon gar manche wahrhafte Geschichten zu hoher und allseitiger Zufriedenheit ausgegangen “ , betont er nachdrücklich und stellt sich mit dieser anbiedernden Versicherung selbstbewusst seinen Zuhörern vor als abgedankter Prinzgemahl in eben diesem Märchen! Es klingt wie hochstapelnde Schaumschlägerei, aber er erzählt treuherzig und beinahe glaubwürdig: Er hatte einmal das Glück, der Reisebegleiter einer schönen Frau zu sein und auf ihren Reisen ein Kästchen für sie herumzutragen, um es in den Gasthäusern in einem besonderen Zimmer mit einem magischen Schlüssel einzuschließen. Natürlich ahnte er damals nicht, was seine „ Schöne “ in diesem wunderlichen Kästchen verbarg. Ohne sie weiter danach zu fragen, hatte er sich in diesen Dienst gefügt und sich unversehens eingelassen in einen immerhin einträglichen Vertrag: „ Sie drückte mir zuletzt einen Beutel mit Gold in die Hand, und ich meine Lippen auf ihre Hände. “ 16 Die Zuhörer von damals und die Leser von heute meinen längst zu wissen, wer die so freigiebige Frau ist, dürften aber dennoch gewiss neugierig sein, was sich tatsächlich in einem so wohlbehüteten Kästchen befinden könnte und wie diese seltsame Geschichte weitergeht. 17 Der Erzähler aber scheint wenig beeindruckt. Er hütete das Kästchen treulich wie einen kostbaren Schatz, ohne dass er ahnte oder wissen wollte, geschweige denn bedachte, welch ein wundersamer Schatz ihm innewohnte. Ahnungslos nahm er auch die komplizenhafte und doppeldeutige auf seine Dame gemünzte Anspielung eines Kellners, der sich über den wunderbaren, alle Türen ver- und entriegelnden Schlüssel wunderte, nicht zu Notiz: „ Wir vermuteten bei Euch viel Geld und Kostbarkeiten; nun aber haben wir den Schatz die Treppe hinuntergehen sehn und auf alle Weise schien er würdig, wohl verwahrt zu werden. “ 18 Obwohl oder weil er achtsam hoch entlohnt ward mit einem nie versiegenden Beutel und zusätzlich aus den Seitentaschen der Kutsche hinreichend Goldstücke entnehmen konnte, mochte er über sein „ Abenteuer nicht weiter nachdenken “ , wollte durchaus nicht merken, dass bei dieser inflationären Vermehrung seines 28 Zweites Kapitel Reichtums mysteriöse oder märchenhafte Mächte im Spiel waren und erwartete, wie er arglos erzählt, „ eine ganz natürliche Entwicklung der wundersamen Begebenheiten “ . 19 Wenig später aber - so erzählt er weiter - , als er sich einmal allein mit dem Kästchen auf einer nächtlichen Kutschfahrt befand, [. . .] ereignete sich doch gegenwärtig etwas, wodurch ich in Erstaunen, in Sorgen, ja in Furcht gesetzt wurde. Weil ich, um von der Stelle zu kommen, Tag und Nacht zu reisen gewohnt war, so geschah es, daß ich oft im Finstern fuhr und es in meinem Wagen, wenn die Laternen zufällig ausgingen, ganz dunkel war. Einmal bei so finsterer Nacht war ich eingeschlafen, und als ich erwachte, sah ich den Schein eines Lichtes an der Decke meines Wagens. Ich beobachtete denselben und fand, daß er aus dem Kästchen hervorbrach, das einen Riß zu haben schien, eben als wäre es durch die heiße und trockene Witterung der eingetretenen Sommerzeit gesprungen. Meine Gedanken an die Juwelen wurden wieder rege, ich vermutete, daß ein Karfunkel im Kästchen liege, und wünschte darüber Gewißheit zu haben. Ich rückte mich, so gut ich konnte, zurecht, so daß ich mit dem Auge unmittelbar den Riß berührte. Aber wie groß war mein Erstaunen, als ich in ein von Lichtern wohl erhelltes, mit viel Geschmack, ja Kostbarkeit möbliertes Zimmer hineinsah, gerade so als hätte ich durch die Öffnung eines Gewölbes in einen königlichen Saal hinabgesehn. Zwar konnte ich nur einen Teil des Raumes beobachten, der mich auf das übrige schließen ließ. Ein Kaminfeuer schien zu brennen, neben welchem ein Lehnsessel stand. Ich hielt den Atem an mich und fuhr fort zu beobachten. Indem kam von der andern Seite des Saals ein Frauenzimmer mit einem Buch in den Händen, die ich sogleich für meine Frau erkannte, obwohl ihr Bild nach dem allerkleinsten Maßstabe zusammengezogen war. Die Schöne setzte sich in den Sessel ans Kamin, um zu lesen, legte die Brände mit der niedlichsten Feuerzange zurecht, wobei ich deutlich bemerken konnte, das allerliebste Wesen war ebenfalls guter Hoffnung. Nun fand ich mich aber genötigt, meine unbequeme Stellung einigermaßen zu verrücken, und bald darauf, als ich wieder hineinsehen und mich überzeugen wollte, daß es kein Traum gewesen, war das Licht verschwunden, und ich blickte in eine leere Finsternis. Wie erstaunt, ja erschrocken ich war, läßt sich begreifen. Ich machte mir tausend Gedanken über diese Entdeckung und konnte doch eigentlich nichts denken. Darüber schlief ich ein, und als ich erwachte, glaubte ich eben nur geträumt zu haben; doch fühlte ich mich von meiner Schönen einigermaßen entfremdet, und indem ich das Kästchen nur desto sorgfältiger trug, wußte ich nicht, ob ich ihre Wiedererscheinung in voller Menschengröße wünschen oder fürchten sollte. Nach einiger Zeit trat denn wirklich meine Schöne gegen Abend in weißem Kleide herein, und da es eben im Zimmer dämmerte, so kam sie mir länger vor, als ich sie sonst zu sehen gewohnt war, und ich erinnerte mich, gehört zu haben, daß alle vom Geschlecht der Nixen und Gnomen bei einbrechender Nacht an 29 Johann Wolfgang Goethe: Die Neue Melusine Länge gar merklich zunähmen. Sie flog wie gewöhnlich in meine Arme, aber ich konnte sie nicht recht frohmütig an meine beklemmte Brust drücken. 20 Nicht nur der Erzähler spürt eine befremdliche Wende, sondern auch die Zuhörer und nicht zuletzt der Leser dürften an dieser Stelle merken, dass ein empfindlicher Bruch die „ natürliche Entwicklung “ stört, denn das „ ereignete “ Geschehen wird zum Wunder, die alltägliche Wirklichkeit wird zum Märchen, aber das Märchen spielt vor aller Augen und Ohren wie auf einer Bühne vor einem Publikum. Der Freund gesteht: Der Kontrast habe in ihm nicht nur „ Erstaunen “ erregt, sondern Furcht geweckt und ein unerklärbarer Verdacht gefährde die frohsinnige Zuneigung. Seine Dame sieht sich genötigt, ihm zu gestehen, dass sie „ in zweierlei Gestalten “ 21 erscheinen könne, und sie rät ihm, sich genau zu prüfen und sich zu fragen, ob seine Liebe durch solche Erfahrung nicht Schaden genommen habe. Nun aber fragt sich der Leser: Was wird er tun, der durch Bankette, Geld und Juwelen inzwischen verwöhnte Galan? Wenig später klärt ihn die Dame vollends auf: Sie sei eine Zwergenprinzessin, und weil ihr Geschlecht durch Darre schrumpfe und auszusterben drohe, brauche und suche sie einen starken und gesunden Mann, und sie glaube, ihn gefunden zu haben. Und obwohl der Freund ausschweifend und verschwenderisch gelebt habe und das Kästchen, weil er dort Geld und Juwelen vermutete, sogar aufbrechen wollte, habe sie ihm verziehen; seine „ geheimnisvolle Freundin “ habe ihm sogar auf zauberische Weise seine bei einem Duell empfangenen Wunden geheilt. Ja, er hatte leichtfertig das Versprechen, sie in beiderlei Gestalt zu achten, und seiner „ Entdeckung niemals vorwurfsvoll zu gedenken “ , 22 gebrochen und sie weintrunken mit dem Ausruf beleidigt: „ Wasser ist für Nixen! “ und „ Was will der Zwerg? “ 23 Sie aber sei trotz Androhung des Abschieds doch bereit gewesen, sich mit ihm ehelich zu verbinden - denn sie war schwanger! Also habe sie ihm vorgeschlagen, ihr in das Zwergenreich zu folgen. Und er, „ ans Wunderbare seit geraumer Zeit schon gewöhnt “ , 24 sei ihr in der Tat gefolgt. 25 Nun aber habe er durch einen Goldring „ das größte Wunder “ 26 erlebt, nämlich sich in einen Zwerg zu verwandeln, um im Reiche der goldschürfenden Zwerge König zu werden, sofern er in die Hochzeit eingewilligt hätte - das aber habe zum Bruch geführt mit seiner Zwergenprinzessin. Der Erzähler erklärt es so: „ Wie schrecklich ward mir auf einmal zumute, als ich von Heirat reden hörte [. . .]. Ich hatte ein Ideal von mir selbst und erschien mir manchmal im Raum wie ein Riese. “ 27 Obwohl er am Ende tatsächlich verheiratet war und seiner Vaterschaft entgegenwartete, durchfeilte er den Zauberring und entfloh. 30 Zweites Kapitel Der reisende Rotmantel, der mit seinem vollen Säckel gerne auf großem Fuße lebte und als wohlhabender Herr etwas darstellte in der feinen Gesellschaft, der gerne in zweispänniger Kutsche von Gasthof zu Gasthof fuhr und aus dem Futter der Polsterung an den Türen so viel Geld herausnehmen konnte wie er wollte, kehrt am Ende wieder, so arm wie am Anfang, zurück „ an den Herd der Köchin “ , 28 bei der sein Abenteuer begonnen hatte. - Gold und Geld, im Märchen selbstverständlich wie das Wunder, versiegt in der profanen Wirklichkeit und ist dort nur ein Objekt der Ökonomie oder der poetischen Phantasie. Während indessen das weitere Schicksal des Erzählers ungewiss bleibt, hat seine mit weiblicher Berechnung operierende Märchenprinzessin ihr Ziel erreicht: Sie ist schwanger von ihm in ihr Zwergenreich zurückgekehrt, hat ihrer dynastischen Pflicht hinreichend Genüge getan und darf sich guter Hoffnung wissen auf eine kräftig-gesunde Thronfolge. - Es dürfte müßig sein, darüber zu spekulieren, welche oder ob überhaupt seinerzeit in Sesenheim eine biographische Motivation bei dieser Erzählung im Spiel war, genauer: was für eine Geschichte der Erzähler in der Sesenheimer Laube zum Besten gegeben hat. Der zweiundzwanzigjährige Jura-Student Johann Wolfgang Goethe kann seine Trennung schwerlich mit dem gleichen Satz oder Akt begründet haben wie jener windige Prinz-Gemahl, der sich „ im Traum wie ein Riese “ vorkam, denn seine Melusine war keine Zwergin. Die Scheu des Sesenheimer Erzählers namens Goethe aber vor übereilter Heirat und die damit verbundene Schuld-Obsession wegen Untreue ist in seinem späteren Werk augenscheinlich. 29 Und dass der Student sich damals in der Tat wie ein Riese fühlte, bezeugt ein wenig später geschriebener Brief an Kestner vom 15. November 1773, in dem er seine Freiheit gegenüber dem Willen und Plan seines Vaters demonstriert: „ Ein Riß! und die Siebenfache Bastseile sind entzwey. “ 30 Was das „ Ideal “ anbetrifft, so gibt der bereits zitierte Brief an Schiller hinreichend Auskunft: Für einen Reisenden geziemt sich ein sarkastischer Realism, was noch idealistisch an mir ist, wird in einem Schatullchen, wohlverschlossen, mitgeführt. [. . .] Wahrscheinlich werde ich Ihnen jenes Reisegeschichtchen auf der Reise zusammenschreiben können. 31 Der Autor also war in der Zeit der Reflexionen um den reisenden Erzähler des Zwergen-Märchens selbst auf Reisen, und just als die Diskurse um den kritischen und mystischen Idealismus auf dem Höhepunkt waren und seine Anteilnahme zwischen Faszination und Ironie hin und her schwankte, versteht sich der „ Seitenhieb auf die idealistische Philosophie “ 32 gleichsam von selbst. 31 Johann Wolfgang Goethe: Die Neue Melusine Die Parallelität mag verblüffend sein, aber die biographische Frage ist weniger wichtig für das vorliegende Problem als das literarhistorische und das literarische Phänomen: Zunächst dürfte auffallen, dass Goethe mehrere Jahrzehnte gebraucht hat, um das alte Sagenbzw. Märchen-Motiv, das angeblich Mittelpunkt der Sesenheimer Lauben-Erzählung war, zur Novelle umzuformen, um es in den späten Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre einzupassen. Wenn also gewiss außer Frage steht, dass „ weniger die Biographie als die Entstehungsgeschichte eine gewisse Rolle bei der Interpretation “ 33 spielt, so wird daher die andere Frage umso wichtiger, eben die Frage nach der Perspektive oder Intention dieser „ Interpretation “ . Anders gesagt: Ob es sich um Variationen älterer Motiv-Tradition 34 handelt, ob das Modell der neuen Märchen- Melusine nun Friederike Brion, Christiane Vulpius 35 oder Sylvie von Ziegesaar 36 ist, ob vielleicht die von der Zwergin erzählte Schöpfungsgeschichte bedeutsam und lenkend im Mittelpunkt steht, 37 ist so wichtig nicht; grundlegend und richtungsweisend ist zunächst der in der literaturwissenschaftlichen Betrachtung sich häufig wiederholende Hinweis auf den gattungsspezifischen Kontrast: „ Schon ist das Wunderbare nicht nur mehr ein angenehmer Traum; schon ist ein Strahl von der unglücklichen Wirklichkeit auf das Wunder gefallen, fast wie z. B. bei Tieck. “ 38 In einem Novellen-Märchen, in dem zwar die gewohnheitsmäßig zeitigende und verortete Wirklichkeit plötzlich aufgehoben wird, erhält notwendigerweise die handelnde Person der gegenwärtigen bzw. zeitgenössischen Gesellschaft einen bedeutsamen Stellenwert. Es tut dieser Bedeutsamkeit keinen Abbruch, dass die Person als Erzähler möglicherweise ein Charlatan ist, verbindlich für die Interpretation ist vielmehr die Tatsache, dass der Autor das Märchen, entgegen seiner Warnung, mit der Wirklichkeit auf riskante Weise vermischt und das „ selbstverständliche Wunder “ umfunktioniert zu einem zwar höchst verwunderlichen, aber doppeldeutigen „ sonderbaren Ereignis “ . Die im Märchen gewohnte Erlösung - sei es als Rückverwandlung vom Tier zum Menschen, sei es als Heimfindung des irrenden Mädchens oder als Avancement des armen Dummlings nicht nur zum Prinzgemahl, sondern am Ende zum König - bleibt aus. Das Märchen als geschlossene Erzählung mit ihrer ausgleichenden Harmonie zwischen Gut und Böse wird zur dissonanten Persiflage und wandelt sich zu einer historisch transparenten Geschichte mit einem ungelösten Konflikt, man darf sagen: zur offenen Novelle. Das Märchen aber ist dem Leser inzwischen mehr und mehr aus dem Blick geraten, ebenso die schwangere Märchenprinzessin. Vor Augen bleibt der Rotmantel. Und es scheint weniger wichtig, ob er als Charlatan nur geflunkert, als vielmehr dass er mit seiner kuriosen Erzählung doch einen wahren, zeittypischen Charakter 32 Zweites Kapitel verraten hat, der durch seine hochstapelnde Lust am feuchtfröhlichen Umgang in der vornehmen Gesellschaft nicht nur höchst auffällig, sondern durch den damit verbundenen Aufwand stets anfällig ist für die Versuchung durch Geld, Gold und Juwelen. Wie ein Leitmotiv zieht sich seine Sorge um Geld und Gold durch seine Erzählung, und es ist bezeichnend und bedeutsam, dass er beim Lichtschimmer des Kästchens sogleich an „ Juwelen “ denkt. 39 Was der Autor-Erzähler Goethe in der Laube von Sesenheim seinen Zuhörern erzählt hat, bleibe also dahingestellt. Was aber den Erzähler in der Laube des Romans betrifft, ihn hätten eigentlich schon seine dortigen Zuhörer nach der Lauterkeit seiner Absicht fragen dürfen; der nachdenkliche Leser von heute aber, vornehmlich der Interpret muss es tun, denn der Autor Goethe hält bei dessen Auftritt nicht hinterm Berg mit seiner Ironie. Das ist natürlich längst bemerkt worden: So fragwürdig wie die Erzähl- und Lebenslage von Goethes Märchenheld, so fragwürdig ist auch sein Charakter. [. . .] Seine spärlichen Begabungen zum verwegenen Märchenhelden sind nichts weiter als seine bürgerlichen Defizite: Verschwendung und Unlust an Seßhaftigkeit. 40 Es dürfte den Hörern und nicht zuletzt dem nachdenklichen oder gar dem professionellen Leser, dem Interpreten, erlaubt sein zu fragen, ob der windige Rotmantel mit der unfreiwilligen Aufdeckung seines wahren Charakters nicht zugleich auf einen typischen Charakter verweist, auf den an Geld, Gold und Juwelen orientierten Charakter einer Gegenwart, die über sich hinüberweist in eine neue, eben anbrechende Zukunft. Auffallend ist, dass er sogar unter den Juwelen einen Karfunkel vermutet. Aber der in den Märchen-Erzählungen der romantischen Tradition Wunder wirkende Karfunkel, der zauberkräftige Almandin, 41 scheint hier längst instrumentalisiert zum kalkulierbaren Schatz im Tresor, zum Mittel des Umtauschs, zum geheimen Medium der Goldwäsche - kurz: mit dem einst märchenhaft-wunderbaren, nun aber als Geldautomat durchaus brauchbaren Karfunkel, weist die Erzählung in ein novellistischereignisreiches, fast möchte man sagen in ein kapitalistisches Jahrhundert. Es ist einigermaßen beunruhigend, dass der über unermessliche Kapitalien spielerisch verfügende Grandseigneur ein hochstapelnder Barbier ist, ein kleinbürgerlicher Gernegroß, ein heiratsunwilliger Schwindler, ein einzig vom Geld dirigierter Abenteurer - so jedenfalls zeichnet ihn der gegenüber der bürgerlichen Revolution reservierte Autor Goethe. Treffend ist bemerkt worden: Im politischen Betracht [. . .] macht Goethes programmatisches Märchen die geläufige Märchenformel doppelt bedenklich: Wiederherstellung einer vorü- 33 Johann Wolfgang Goethe: Die Neue Melusine bergehend gestörten Ordnung. Hier wird der gattungseigene Vorgang im sarkastischen Doppelsinn Ereignis. 42 Mit dem Rotmantel scheint das in der Phantasie aufgehobene und vom Alltag abgehobene Motiv des utopischen Märchen-Glücks sich zum gewöhnlichen Wohlleben gewandelt zu haben, das nicht zuletzt auf Reichtum gründet und abhängig ist von kurrentem Geld, gemünztem Gold und pfandwürdigen Juwelen. Der gattungstypische Kontrast weist somit über sich hinaus, aber nicht nur, wie etwa bei E. T. A. Hoffmann, auf die transzendentale Duplizität zwischen Sein und Dasein, Wirklichkeit und Schein, Traum und Wachen, sondern auf einen höchst aktuellen Zwiespalt innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft, auf die Spaltung zwischen ideellem Soll und reellem Haben. Ob damit die Geldfrage zugleich für das Eheverhältnis „ sarkastisch “ durchgespielt und abgespiegelt wird, bleibe dahingestellt. 43 Die zunehmende Attraktivität und Bedeutung des Geldes im gesellschaftlichen Miteinander ist indessen durchaus literarische Tagesordnung und erscheint nicht nur gattungsspezifisch exemplarisch in der Märchen-Novelle, sondern allenthalben in vielen Texten des neuen Jahrhunderts. 44 Ein Beispiel aus Goethes Farbenlehre, ein Text, der anscheinend weitab liegt vom soziopolitischen Tagesgeschehen. Beiläufig spricht er dort von der „ Geheimniskrämerei “ und vom „ Aberglauben “ der Alchemisten und vom Wandel ideeller Werte zu niederen Hoffnungen mittels der Goldmacherei: Betrachtet man die Alchemie überhaupt, so findet man an ihr dieselbe Entstehung, wie wir oben bei anderer Art Aberglauben bemerkt haben. Es ist der Mißbrauch des Echten und Wahren, ein Sprung von der Idee, vom Möglichen, zur Wirklichkeit, eine falsche Anwendung echter Gefühle, ein lügenhaftes Zusagen, wodurch unsern liebsten Hoffnungen und Wünschen geschmeichelt wird. Hat man jene drei erhabenen, untereinander im innigsten Bezug stehenden Ideen, Gott, Tugend und Unsterblichkeit, die höchsten Forderungen der Vernunft genannt; so gibt es offenbar drei ihnen entsprechende Forderungen der höheren Sinnlichkeit, Gold, Gesundheit und langes Leben. Gold ist so unbedingt mächtig auf der Erde, wie wir uns Gott im Weltall denken. Gesundheit und Tauglichkeit fallen zusammen. Wir wünschen einen gesunden Geist in einem gesunden Körper. Und das lange Leben tritt an die Stelle der Unsterblichkeit. Wenn es nun edel ist, jene drei hohen Ideen in sich zu erregen und für die Ewigkeit zu kultivieren; so wäre es doch auch gar zu wünschenswert, sich ihrer irdischen Repräsentanten für die Zeit zu bemächtigen. Ja diese Wünsche müssen leidenschaftlich in der menschlichen Natur gleichsam wüten und können nur durch die höchste Bildung ins Gleichgewicht gebracht werden. 34 Zweites Kapitel Was wir auf solche Weise wünschen, halten wir gern für möglich; wir suchen es auf alle Weise, und derjenige, der es uns zu liefern verspricht, wird unbedingt begünstigt. Daß sich hierbei die Einbildungskraft sogleich tätig erweise, läßt sich erwarten. Jene drei obersten Erfordernisse zur höchsten irdischen Glückseligkeit scheinen so nahe verwandt, daß man ganz natürlich findet, sie auch durch ein einziges Mittel erreichen zu können. Es führt zu sehr angenehmen Betrachtungen, wenn man den poetischen Teil der Alchemie, wie wir ihn nennen dürfen, mit freiem Geiste behandelt. Wir finden ein aus allgemeinen Begriffen entspringendes, auf einen gehörigen Naturgrund aufgebautes Märchen. 45 Was Goethe mit seinem ironischen Hinweis auf den kryptischen Zusammenhang zwischen Alchemie und Märchen meint, ist auf den ersten Blick nicht sogleich verständlich. Der zweite Blick aber macht den Text transparent: In der Alchemie wie in der Märchen-Poesie geht es um Glück durch Allverwandlung. Mephisto ist es, der die magische Macht von Gold und Geld in eben diesem Sinne auf den Begriff bringt: „ Denn dies Metall läßt sich in alles wandeln “ , und sogar bei drohender Inflationierung lässt sich am Ende das „ Papiergespenst der Gulden “ 46 beschwören. 35 Johann Wolfgang Goethe: Die Neue Melusine D RITTES K APITEL L UDWIG T IECK : D ER R UNENBERG (1802/ 1812 - 1816) ODER : „ W UNDERBARE , UNERME ß LICHE S CHÄTZE [. . .] IN DEN T IEFEN DER E RDE “ „ Dem Märchen ist alles Gold was glänzt. “ 1 Da in der Märchen-Novelle aber streng geschieden wird zwischen Gold und Glanz, Geld und Wert, Ding und Ware, verkehrt sich die im Märchen überkommene wunderbare Identität von Gold und Gegenstand, von Natur und Glück zum kontrastiven und zum konfliktreichen Problem, das dem Menschen als Verhängnis unvermittelt zustößt und ihn verwandelt. Das seinen Wert in sich selbst bergende und beglückende Wunder behält zwar seine glückverheißende Macht, aber wird zur trügerischen Macht der Verführung, und ist eher ein Irrlicht als eine Zauberlaterne in der Waldnacht dieser Welt. Wie in vielen Märchen, so sind es auch hier vom Fernweh umgetriebene Jünglinge, die sich auf Wanderschaft und auf die Suche nach der Glücks- oder Selbstfindung begeben. Die Suche verspricht zwar Schätze, aber die verheißenen Schätze bemächtigen sich der Sinne und entfremden den Irrenden von seinem Selbst und treiben ihn nicht selten in den Wahnsinn und in den Tod. 2 Der Runenberg, angeblich in einer Nacht geschrieben, erschien zuerst im Jahre 1802, dann im Phantasus-Zyklus von 1812 - 1816. Obwohl der Titel bereits doppelsinnig klingt, untertitelt Ludwig Tieck den Zyklus noch einmal vielversprechend: Eine Sammlung von Mährchen. Wie in Boccaccios Decamerone und in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten werden die abwechselnden Erzählungen unterbrochen von Kommentaren und Reflexionen der Zuhörer, die mehr und mehr zum Selbstzweck geraten und höchst aufschlussreich sind für die zeitgenössische Thematik etwa der Schauspielkunst, der Philosophie und Ästhetik, nicht zuletzt für das Märchen. Die Unterhaltungen der Freunde finden in einem Baumgarten im Gebirge statt, und die Natur bildet als Kulisse zugleich die Folie für die Kunst. Mit Mährchen, sagte Clara, fängt das Leben an; in ihnen entwickelt sich das Gefühl der Kinder zuerst, und ihre Spiele und Puppen, ihre Lehrstunden und Spaziergänge werden von ihrer Phantasie zu Mährchen, die ich noch immer ganz vorzüglich liebe, das heißt, wenn sie so sind, wie ich sie liebe. So gebe die Muse, daß Ihnen die unsrigen wohl gefallen, sagte Anton. Indem stand die Gesellschaft auf, um vom nächsten Hügel den schönen Untergang der Sonne zu genießen. Auch ein Mährchen, sagte Rosalie, indem sie die Hand vor die Augen hielt, und dem blendenden Scheine nachsah; so wie der Frühling und die Pracht der Blumen, es blüht auf in aller Fülle und Herrlichkeit, der Schatten faßt den Glanz und zieht ihn hinab, und wir schauen ihm sehnsuchtsvoll nach. So wie dem Mährchen-Gedicht der Schönheit, sagte Anton; und Friedrich fügte hinzu: doch bleibt unser Herz und seine Liebe die unwandelbare Sonne. 3 Wenig später lenkt Ernst - nomen est omen - das Gespräch auf die Schattenseite bzw. Nachtseite der Natur, und unauffällig schleicht sich ein Misston in die Gespräche ein und weist voraus auf die Diskrepanz und Disharmonie zwischen der Märchen-Kunst und den Erscheinungen der Tageszeiten, zwischen Phantasie und Natur. Noch seltsamer, sagte Ernst, daß so wenige Menschen den wundervollen Schauer, die Beängstigung empfinden, oder sich gestehn, die in manchen Stunden die Natur unserm Herzen erregt. Nicht bloß auf den ausgestorbenen Höhen des Gotthard erregt sich unser Gemüth zum Grauen [. . .] sondern selbst die schönste Gegend hat Gespenster, die durch unser Herz schreiten, sie kann so seltsame Ahndungen, so verwirrte Schatten durch unsre Phantasie jagen, daß wir ihr entfliehen, und uns in das Getümmel der Welt hinein retten möchten. Auf diese Weise entstehn nun wohl auch in unserm Innern Gedichte und Mährchen, indem wir die ungeheure Leere, das furchtbare Chaos mit Gestalten bevölkern, und kunstmäßig den unerfreulichen Raum schmücken; diese Gebilde aber können dann freilich nicht den Charakter ihres Erzeugers verläugnen. In diesen Natur-Mährchen mischt sich das Liebliche mit dem Schrecklichen, das Seltsame mit dem Kindischen, und verwirrt unsre Phantasie bis zum poetischen Wahnsinn, um diesen selbst nur in unserm Innern zu lösen und frei zu machen. Sind die Mährchen, fragte Clara, die Sie uns mittheilen wollen, von dieser Art? Vielleicht, antwortete Ernst. Doch nicht allegorisch? Wie wir es nennen wollen, sagte jener. Es giebt vielleicht keine Erfindung, die nicht die Allegorie, auch unbewußt, zum Grund und Boden ihres Wesens hätte. Gut und böse ist die doppelte Erscheinung, die schon das Kind in jeder Dichtung am leichtesten versteht, die uns in jeder Darstellung von neuem ergreift, die uns aus jedem Räthsel in den mannichfalltigsten Formen anspricht, und sich selbst zum Verständniß ringend auflösen will. Es giebt eine Art, das gewöhnlichste Leben wie ein Mährchen anzusehn, eben so kann man sich mit dem Wundervollsten, als wäre es das Alltäglichste, vertraut machen. 4 37 Ludwig Tieck: Der Runenberg Das neue Wort „ Natur-Mährchen “ könnte aufschlussreich sein, wenn man es der zeitgemäßen Reflexion unterwirft, denn hier bereits scheint die landläufig werdende Eindeutigkeit der modischen Volkstümlichkeit angezweifelt. Manfred erzählt nun die Geschichte Der Runenberg. Der Freund, der kurz zuvor dem Spott der Freunde ausgeliefert gewesen war, weil er überraschend geheiratet hat, „ er, der so viel gegen alle Ehe deklamiert, so über alle gepriesene Häuslichkeit gespottet hat, der es zu seiner Aufgabe zu machen schien, das Phantastische mit dem wirklichen Leben aufs innigste zu verbinden, der vor nichts solchen Abscheu äußerte, als vor jener gesetzten kaltblütig moralischen Philisterei “ , 5 erzählt nun ein „ Mährchen “ , 6 das sich zunächst harmonisch in den Rahmen friedlicher Natur einzufügen scheint: Der Gärtnersohn Christian hat sein Dorf in der Ebene verlassen „ um sich aus dem Kreise der wiederkehrenden Gewöhnlichkeit zu entfernen “ , 7 ist ins Gebirge geflohen und im Dienste eines Försters ein Jäger geworden. Aber an einem Abend bei Sonnenuntergang, als er „ sein Schicksal “ 8 bedenkt, erfasst ihn plötzlich Heimweh und Sehnsucht, und in dem Augenblick, da er eben aufbrechen möchte und „ gedankenlos [. . .] eine hervorragende Wurzel aus der Erde “ zieht, schreckt ihn „ ein dumpfes Winseln im Boden “ 9 auf, und ihm ist zumute, „ als habe er eine Alraunwurzel “ berührt und „ der sterbende Leichnam der Natur “ 10 habe aufgestöhnt. Als er nun Hals über Kopf fliehen möchte, steht „ ein fremder Mann “ bei ihm, in dessen Anwesenheit er sich beruhigt und dem er auf dem Wege zu Tal vertrauensvoll sein in der Ebene verbrachtes Leben erzählt. 11 Der fremde Mann aber leitet ihn zu dem geheimnisvollen Runenberg, von dem der junge Jäger früher „ wundersame Dinge “ gehört hat und plötzlich „ noch manch Wunder aus der alten Zeit “ zu finden hofft. 12 Und fast unbewusst besteigt er den steilen Berg. Auf der Höhe des Gebirges, nahe dem Abgrund, schaut er gleichsam wie im Traum durch ein Fenster in die innerste Tiefe des Berges, wo eine schwarzlockige Frau, deren nackter Körper „ wie Marmor “ strahlt, aus einem „ goldenen Schranke “ eine Tafel herausnimmt, die wie „ eine wunderliche unverständliche Figur “ und „ von vielen eingelegten Steinen, Rubinen, Diamanten und allen Juwelen glänzte. “ Höhepunkt des Wunders: Die nackte, schwarzlockige Frau tritt zu ihm an das Fenster heran und überreicht ihm die Tafel! Als er am nächsten Morgen erwacht, erscheint ihm das Märchen-Wunder zwar „ ein Traum oder ein plötzlicher Wahnsinn “ , aber von nun an scheint ihm „ das Seltsamste und das Gewöhnlichste so ineinander vermischt, daß er es unmöglich sondern konnte. “ 13 Der Märchen-Traum zeitigt eine verhängnisvolle Nachwirkung: Zurückgekehrt „ in das flache Land “ wird er zwar ein braver Gärtner und heiratet eine 38 Drittes Kapitel „ blonde Elisabeth “ , aber in der Hochzeitsnacht gesteht er unverhohlen: „ Nein, nicht jenes Bild bist du, welches mich einst im Traum entzückte und das ich niemals ganz vergessen kann, aber doch bin ich glücklich in deiner Nähe und selig in deinen Armen. “ 14 Nach fünf Jahren - Christian und Elisabeth sind bereits Vater und Mutter mehrerer Kinder und haben seinen alten Vater bei sich aufgenommen - vergegenwärtigt und verkörpert sich plötzlich der fast verdrängte Traum: Der Fremde vom Berge kehrt bei ihnen ein, hinterlegt eine Summe Geldes und so überraschend wie er gekommen, so unmittelbar verlässt sie wieder. Aber Christian ist verwandelt, erzählt traumwandelnd „ wunderbare Dinge “ und bemerkt eines Tages, dass seine Elisabeth kein „ blühendes kindliches Mädchen “ mehr ist und insgeheim gesteht er sich ein: „ so habe ich mutwillig ein hohes ewiges Glück aus der Acht gelassen, um ein vergängliches und zeitliches zu gewinnen. “ 15 Spätestens an dieser Stelle erinnert sich der Leser: Das überkommene Märchen beginnt ungewöhnlich häufig mit dem Auszug des armen Jungen oder des Königssohnes und endet mit der glücklichen Heimfindung. Christians Heimfindung aber ist nicht gelungen. Er hat nicht gefunden, wonach er sich sehnte, sein „ hohes ewiges Glück “ und den Frieden seines Selbst! Und nun meldet sich die Frage: Wird er bleiben? Und die weitere Frage nach der Bedeutung des fremden Mannes und der schwarzlockigen Bergfrau. Sie scheinen volkstümliche Gestalten aus den Märchen - Zauberer und Hexe - aber sind doch zugleich bedeutsame Symbolfiguren, die hinüberweisen aus der mysteriösen Atmosphäre der Märchen in die gegenwärtige Situation. Der fremde Mann - wir kennen ihn schon aus Novalis ’ Märchen-Erzählung Hyazinth und Rosenblütchen - agiert hier gleichsam als Botengänger seiner Herrin, die über die Reichtümer der Berge, über Gold und Edelsteine verfügt, und die in ihrer marmornen Schönheit das „ ewige Glück “ in der Tiefe des Berges repräsentiert. Traf der fremde Mann Christian also nicht zufällig im Gebirge und machte er ihn dort nicht ohne Grund aufmerksam auf den Runenberg, in dessen Schacht er haust? Bringt und deponiert er nicht mit kalkulierter Absicht nun auch das Goldgeld in Christians Haus? Die damalige Begegnung mit dem fremden Mann zeitigt nun Folgen, die als untergründige Mächte in die alltägliche Häuslichkeit einbrechen. Das Goldgeld bemächtigt sich augenblicklich seiner Sinne und bezaubert ihn wie er selbst gesteht: „ Ja [. . .] weder bei Tage noch in der Nacht läßt es mir Ruhe; seht, wie es mich jetzt wieder anblickt, daß mir der rote Glanz tief in mein Herz hineingeht! Horcht, wie es klingt, dies güldene Blut [. . .] wenn ich es mit meinen Fingern 39 Ludwig Tieck: Der Runenberg berühre, es wird vor Freuden immer röter und herrlicher; schaut nur selbst die Glut der Entzückung! “ 16 Der Leser fragt sich endlich: War auf der Traum-Tafel der schwarzlockigen Marmorfrau Christians Schicksal vielleicht vorgezeichnet? Warum verfällt der Mensch der Ebene, als Gärtner ein Pfleger der Bäume und Blumen, der Versuchung des Goldgeldes, das, wie er plötzlich zu wissen glaubt, in den Schächten der Gebirge verborgen ist? Seiner Selbst und seiner vertrauten Häuslichkeit abermals entfremdet, scheint sein menschliches Herz erkaltet und verhärtet zu Metall - wie sein Vater bemerkt: „ So ist sein verzaubertes Herz nicht menschlich mehr, sondern vom kalten Metall; wer keine Blume mehr liebt, dem ist alle Liebe und Gottesfurcht verloren. “ 17 Christian aber meint sich rechtfertigen zu dürfen vor seinem besorgten Vater mit seiner Erinnerung an das Erlebnis im Gebirge. Was er damals beim Ausreißen der Wurzel als „ Winseln am Boden “ hörte, was er aber nicht verstand und fast vergessen hatte, fällt ihm wieder ein, und mit gewissem Trotz offenbart er dem Vater seine Vision gleichsam als seine Konfession - und, wie es scheint, die Konfession seiner Generation: die Philosophie der Romantik: „ Nein “ , sagte der Sohn, „ ich erinnere mich ganz deutlich, daß mir eine Pflanze zuerst das Unglück der ganzen Erde bekannt gemacht hat, seitdem verstehe ich erst die Seufzer und Klagen, die allenthalben in der ganzen Natur vernehmbar sind, wenn man nur darauf hören will; in den Pflanzen, Kräutern, Blumen und Bäumen regt und bewegt sich schmerzhaft nur eine große Wunde, sie sind der Leichnam vormaliger herrlicher Steinwelten, sie bieten unserem Auge die schrecklichste Verwesung dar. Jetzt verstehe ich es wohl, daß es dies war, was mir jene Wurzel mit ihrem tiefgeholten Aechzen sagen wollte, sie vergaß sich in ihrem Schmerze und verrieth mir alles. Darum sind alle grünen Gewächse so erzürnt auf mich, und stehn mir nach dem Leben; sie wollen jene geliebte Figur in meinem Herzen auslöschen, und in jedem Frühling mit ihrer verzerrten Leichenmiene meine Seele gewinnen. Unerlaubt und tückisch ist es, wie sie dich, alter Mann, hintergangen haben, denn von deiner Seele haben sie gänzlich Besitz genommen. Frage nur die Steine, du wirst erstaunen, wenn du sie reden hörst. “ 18 Und Christian macht sich am Ende in der Tat auf den Weg und glaubt genau zu wissen, was er tut: „ Wunderbare, unermeßliche Schätze muß es noch in den Tiefen der Erde geben, [. . .]. Hier nebenan ist ein alter verfallener Schacht, schon vor Jahrhunderten von einem Bergmanne aufgegraben, vielleicht, daß ich sie dort finde. “ 19 Christian verlässt Weib und Kinder; er bleibt lange, wie es scheint für immer fort und scheint wirklich verschollen, Elisabeth heiratet erneut. Nach vielen 40 Drittes Kapitel Jahren aber kehrt er auf einmal zurück und trägt „ in einem festgeschnürten Sack eine schwere Ladung “ ; als er sie ausschüttet sind es „ Kiesel, unter denen große Stücke Quarz neben andern Steinen lagen. “ 20 Der Heimkehrer scheint überzeugt davon, dass er „ die kostbarsten Schätze “ 21 mitgebracht habe; den Steinen fehlt zwar noch „ Auge und Blick “ 22 , das heißt, das Leben ist noch nicht sichtbar, aber man kann es aus ihnen „ herausschlagen “ und ihre „ Verstellung “ aufbrechen: „ Er nahm mit diesen Worten einen harten Stein und schlug ihn heftig gegen einen andern, so daß die roten Funken heraussprangen. “ 23 Die Frage liegt nahe: Ist Christian wahnsinnig? Es hat den Anschein. „ In goldgierigem Wahnsinn verwirrt sich ihm alle Sinnlichkeit [. . .] wenn er Kiesel für Edelsteine hält. “ 24 Aber vom Wahnsinn ist an dieser Stelle nirgends die Rede, indessen ist die poetische Mania in diesem zeitgenössischen Augenblick nahe an der Wahrheit. Christian ist nicht nur im Sinne des Wortes steinreich, sondern im Sinne der romantischen Naturphilosophie: nach ihrem Prinzip ist der Anfang aller Dinge das Mineral; die Steine leben, aus ihnen wächst das Edelgestein, das Erz mit seinen goldenen Adern, am Ende die Blume, das Tier und zuletzt der Mensch. Der Stein symbolisiert somit den Anfang des Lebens und der Geschichte, die Einheit von Zeitlosigkeit und Zeit, das „ ewige Glück “ ; im Stein steht die Zeit still, insbesondere im Urgestein, in dem das Edelgestein und das Edelmetall wie im Keim verborgen ist und aus dem es in der Tiefe des Berges schmerzvoll aus sterbender Natur herauswächst und zu Tage gefördert werden kann. Es ist nicht ohne Grund häufig bemerkt worden, dass das Bergwerk zum ungewöhnlich faszinierenden Motiv der Epoche der Romantik avanciert, denn als „ Bergwerk der Seele “ 25 wird es zum beredten Symbol: Wie in der Tiefe des Berges die Schätze der Erde, so in der Tiefe der Seele der Schatz der Wahrheit, der Sinn des Daseins und der Ursprung des Selbst. Christian hat als Jüngling, irritiert durch seinen Adoleszenz-Traum, nicht mehr herausgefunden aus seiner Identitätskrise. Die Zuhörer von damals werden sich gefragt haben und die Leser von heute werden sich gleichfalls fragen: hat er gefunden, wonach er sich sehnte: das „ ewige Glück “ des Selbst? Offenbar ist doch: Seine Heimfindung war Selbst-Täuschung, und sein nochmaliger Auszug war ebenso notwendig wie gelenkt von trügerischer Sehnsucht nach der Wahrheit. Die Wahrheit aber ist eben die Spaltung seines Wesens. Christian ist somit eine Repräsentationsfigur der romantischen Generation, in der die Sehnsucht nach Harmonie, nach der Identität zwischen Natur und Geist, Wunder und Wahrheit, Fremdheit und Selbstheit - beispielhaft proklamiert in der gängigen 41 Ludwig Tieck: Der Runenberg Identitäts-Philosophie - doch wohl nichts als Selbst-Täuschung zu sein scheint. Vom Bergassessor Novalis war der Abstieg in die Tiefe der Seele mit dem einprägsamen Aphorismus empfohlen worden: „ Nach innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns oder nirgends liegt die Ewigkeit mit ihren Welten. “ 26 Was Christian dort fand, wissen wir: Steine. Und indem er sie für Edelsteine hielt, verdeutlicht er stellvertretend, dass die Wahrheit als unversöhnte Dualität die Signatur der in den Bergen Schätze suchenden Epoche ist. Der Erzähler Manfred bemerkt zwar, dass seine Zuhörer und „ noch auffallender “ seine Zuhörerinnen „ blaß geworden “ 27 sind. Aber, obwohl Emilie den Schluss „ zu schrecklich “ 28 findet, bleibt der Kommentar aus; erst nach der nächsten Erzählung mit dem lieblichen Titel Liebeszauber, setzt er umso heftiger ein: Alle Zuhörer waren bewegt, am meisten aber Clara, die schon früher Zeichen von Ungeduld gegeben hatte. „ Nein! “ rief sie aus und erhob sich: „ es ist nicht auszuhalten! Diese Geschichten gehn zu schneidend durch Mark und Bein, und ich weiß mich vor Schauder in keinen meiner Gedanken mehr zu retten. Es ist geradezu abscheulich, dergleichen zu erfinden. Ich zittre und ängste mich, und vermuthe, daß aus jedem Busche, aus jeder Laube ein Ungeheuer auf mich zutreten möchte, daß die theuersten bekanntesten Gestalten sich plötzlich in fremd gespenstische Wesen verwandeln dürften, und man ist und bleibt thöricht, und hört zu, läßt sich von den Worten immer weiter und weiter verlocken, bis das ungeheuerste Grauen uns plötzlich erfaßt, und alle vorigen Empfindungen wie in einen Strudel gewaltthätig verschlingt. Es fängt an Abend zu werden, laßt uns hinein gehn und aufhören. “ 29 Und Manfred ist es, der Erzähler des Runenbergs, der daraufhin das Wort nimmt und die Poesie verteidigt: „ Wie ihr nun seid “ , fuhr Manfred fort, „ das eine ist vielleicht gut, und das andre darum noch nicht schlimm. Die Phantasie, die Dichtung also wollt ihr verklagen? Aber eure Wirklichkeit! Thut doch nur die Augen auf, angenehme Gegner und Widersacher, und seht, daß es dort, vor euren Augen, hinter eurem Rücken, wenn ihr euch nur erkundigt, weit schlimmer hergeht. Schlimmer und herber, und also auch viel gräßlicher, weil das Schrecken hier durch nichts Poetisches gemildert wird. “ 30 Die in den Freundesgesprächen bemühte Apologie erschien im Jahre 1812 und ist deshalb von bedeutsamer poetologischer Relevanz. Es wird unmissverständlich eingeräumt, dass die „ Wirklichkeit “ erfüllt ist vom „ Schrecken “ , dass eben diese „ Wirklichkeit “ die furchtbaren „ Ungeheuer “ gebiert, und die Poesie allein vermag es, das Grauen zu mildern. Es hat den Anschein, als sollte das pervertierte Wunder durch die Poesie noch einmal gerettet, sein selbstver- 42 Drittes Kapitel ständlicher und hilfreicher Zauber wiederhergestellt, die Unschuld des Märchens zurückgewonnen werden - was in der Tat just zu eben dieser Zeit den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm gelang mit ihren am Ende des Jahres 1812 in der Reimerschen Schulbuchhandlung erschienen Kinder- und Hausmärchen, die in den folgenden Jahren und Jahrzehnten die Lesekultur bestimmen sollten. Indessen blieb die Sammlung, die bezeichnenderweise kein auf Erzähldistanz angelegter Zyklus, sondern eine zum Eintritt einladende, in sich geschlossene Einheit war, eine zeitenthobene Ausnahme, in der das „ selbstverständliche “ Wunder noch einmal glaubhaft schien - wenn auch nur für Kinder. Parallel zu ihren Neuauflagen bis zum Jahr 1856 und darüber hinaus aber dominierte, trotz gelegentlicher Imitationen des Volksmärchens, die mit märchenhaftem Zauber dekorierte Novelle. Was aber Tiecks frühe „ Mährchen “ anbetrifft, dürfte eine Unterscheidung des Wunderbaren zu seinen späten Novellen angeraten sein. 31 Der frühen Konfrontation mit der von schauerlichen Wundern schwangeren Natur entspricht in späterer Zeit die Auseinandersetzung mit den kuriosen oder bedrohlichen Wundern in der „ Wirklichkeit “ der Gesellschaft, beispielhaft etwa in der Novelle Des Lebens Überfluß oder in dem Novellen- Roman Der Hexensabbat. Die Annahme scheint nahe zu liegen, dass die frühen „ Mährchen “ mit ihrem schockierenden Zusammenprall von Ungewöhnlichem und Alltäglichem noch beeinflusst sind von der dem Autor über Jahre geläufigen und nachwirkenden trivialen Schauerliteratur und von deren „ physio-psychologischen Grundreaktionen “ . 32 Aber von der Hand zu weisen ist auch nicht der Hinweis auf des Autors generelle Abwehrreaktion gegenüber natur-philosophischen Bedrohungen, die den naiven Glauben an die romantisch-teleologische Naturgeschichte unterminieren. Der Leser spürt ein gewisses Bemühen, die „ Dämonie des Nichts “ 33 mit den Mitteln der Poesie - wie Manfred am Ende der Freundesgespräche konstatiert - zu mildern. Es dürfte aber zu fragen sein, ob mit der ängstlich beschworenen „ Wirklichkeit “ allein die bedrohliche Natur gemeint ist, ob nicht vielleicht über die modische Natur-Philosophie hinaus eine vom Gold der Berge dirigierte „ Wirklichkeit “ gemeint sein könnte, eine zwischen Wahrheit und Ware gespaltene Gesellschaft. Ludwig Tieck, der Berliner Autor, weist mit dieser Problem-Frage in das neue Jahrhundert. Ob es ein Zufall ist, dass sich gleichzeitig mit der Öffnung der Phantasie zum Wunderbaren Skepsis und Widerstand meldet? 43 Ludwig Tieck: Der Runenberg V IERTES K APITEL E. T. A. H OFFMANN : D IE B ERGWERKE ZU F ALUN (1818/ 1819) ODER : „ U NTEN LIEGT MEIN S CHATZ , MEIN L EBEN , MEIN ALLES ! “ Mephistopheles: „ Fasse wacker meinen Zipfel! Hier ist so ein Mittelgipfel, Wo man mit Erstaunen sieht Wie im Berg der Mammon glüht. “ (Faust I. V. 3911 ff.) Tiecks makabre Runenberg-Geschichte scheint wie der Auftakt zu einer langen Reihe von Berg- und Bergwerks-Märchen. Falls es richtig ist, dass, wie gesagt wurde, der Anfang der Romantik auf dem Berliner Pflaster stattgefunden hat, 1 so ließe sich mit Fug und Recht von einer Berliner Romantik sprechen, sofern man eingedenk eines ironischen Widerspruchs bleibt, der sich mit dem Erscheinen der Kinder- und Hausmärchen und den ihnen nun folgenden märchenhaften Novellen auftut. Dass das Bergwerks-Motiv in diesem Zusammenhang eine ominöse Bedeutung gewinnt, ist möglicherweise nicht von ungefähr, denn eine untergründige Stimmung war ohnehin latent in Deutschland vorhanden. 2 Berlin, die Hauptstadt des Königreichs Preußen, die junge Metropole europäischer Politik, steht noch unter dem Schock von Jena und Auerstedt, wo die preußische Armee von den Truppen Napoleons vernichtend geschlagen wurde. Nicht nur ihr Oberbefehlshaber, Herzog Ferdinand von Braunschweig, war gefallen, sondern auch Prinz Ferdinand von Preußen, der kürzlich noch ein beliebter Gast in den Berliner Salons gewesen war. Die Königsfamilie war nach Ostpreußen über die Memel geflohen und war endlich in Tauroggen in Sicherheit. Abseits, ohne Wissen und entgegen der verpflichtenden Bündnispolitik des Königs bricht General Yorck den Bündnisvertrag und koaliert mit den Russen. Ein heikles Unternehmen, denn es kann als Hochverrat gelten. Außerdem steht die Existenz Preußens auf dem Spiel. Napoleon hatte zwar das Ende des Römischen Reiches Deutscher Nation verfügt, nicht aber die Auflösung Preußens. Das aber könnte im Falle einer neuen Niederlage nachgeholt werden. Und das Volk? Es ist modisch, dass die gebildete Welt und der Adel in Europa französisch spricht. In Berlin aber gründet Wilhelm von Humboldt im August 1809 angesichts der französischen Besatzung in Europa die Berliner Universität, die im Sommersemester 1810 mit Vorlesungen den Betrieb aufnimmt. Zu Weihnachten 1812 erscheint in der Schulbuchhandlung Reimer in Berlin der erste Band der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, dem 1815 der zweite Band folgt, und die Märchen-Sammlung versteht sich, trotz abendländischer und französischer Hugenotten-Überlieferung als germanisches und deutsches Volksgut. Als die vereinten Armeen von Preußen, Russland, Österreich und Schweden tatsächlich in der Völkerschlacht bei Leipzig die Napoleonische Armee besiegen, scheint ein historischer Gipfel erreicht. In Preußen, nicht zuletzt in Berlin, droht sich ein nationaler Rausch auszubreiten, dem nationalpolitische und nationalpoetische Hoffnungen anhaften, die in Übermut umzuschlagen beginnen. Studenten, die als freiwillige Grenadiere und Offiziere in den Befreiungskriegen mitgekämpft hatten, initiieren am Rande des Wartburgfestes 1817 die Verbrennung mehrerer Dutzend als antinational und reaktionär klassifizierter Bücher und fordern lautstark die versprochene Einheit Deutschlands ein, werden jedoch auf Veranlassung des Österreichischen Kanzlers Metternich gestoppt durch harte Gesetze und Verbote, die als Karlsbader Beschlüsse durchgreifen. Das Wunder der kulturpolitischen Freiheit scheint damit am Ende. Aber der Schein trügt. Hinter dem Rücken der offiziellen Institutionen trifft sich in Salons, in Kneipen und Privatwohnungen bei Tabak und Punsch eine gewisse gebildete Elite. In E. T. A. Hoffmanns Wohnung am Gendarmenmarkt und später im Weinkeller bei Lutter und Wegener lesen sich ein paar befreundete Poeten gegenseitig ihre Elaborate vor. Es sind höchst sonderbare, abseitig scheinende Geschichten - zwar der Mode entsprechende Märchen, die aber durchaus artistisch mit dem volkstümlich gängigen Märchen-Wunder laborieren. Die Namen der Autoren gehören inzwischen in die Reihe der Repräsentanten deutscher Kulturgeschichte: die Schriftsteller Friedrich de la Motte Fouqué, Karl Wilhelm Salice- Contessa, der Kriminal- und Pupillenrat Julius Eduard Hitzig, der weltreisende Naturforscher, preußische Offizier und Poet Adelbert von Chamisso und der Arzt Ferdinand Koreff. Gelegentlich finden sich auch andere bekannte Männer ein, wie etwa die Offiziere Robert und Franz von Pfuel, der hochgeschätzte Schauspieler Ludwig Devrient und andere. Es dürfte angebracht sein, einige ihrer Märchen vorzustellen, die sich von den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm so auffallend unterscheiden, dass man fast eine bestimmte Absicht dahinter vermuten könnte. Gotthilf Heinrich Schubert hatte im Jahre 1808 in seinen Vorlesungen über die Nachtseite der Naturwissenschaft 3 ein seit 1720 bekanntes Motiv aktualisiert. 45 E. T. A. Hoffmann: Die Bergwerke zu Falun Eine Zeitung in Kopenhagen hatte damals gemeldet, dass der Körper eines in der Grube zu Falun verschütteten Bergmanns, der fünfzig Jahre in Kupfervitriol gelegen, unversehrt gefunden worden sei, und niemand habe ihn mehr gekannt: „ Da kömmt an Krücken und mit grauem Haar ein altes Mütterchen “ und erzählt, der Tote sei „ ihr verlobter Bräutigam gewesen “ . 4 Ein Jahr nach Schuberts Vorlesung ruft die Zeitschrift Jason auf zu einer poetischen Bearbeitung des Stoffs: Dichteraufgabe: Man fand einen ehemaligen Bergmann in der schwedischen Eisengrube zu Falun, als zwischen zween Schachten ein Durchschlag versucht wurde. Der Leichnam, ganz mit Eisenvitriol durchdrungen, war anfangs weich, wurde aber, sobald man ihn an die Luft gebracht, so hart wie Stein. Fünfzig Jahre hatte derselbe in einer Tiefe von dreihundert Ellen in jenem Vitriolwasser gelegen; und niemand hätte die noch unveränderten Gesichtszüge des verunglückten Jünglings erkannt, niemand die Zeit, seit welcher er in dem Schacht gelegen, gewußt, da die Bergchroniken sowie die Volkssagen bei der Menge der Unglücksfälle in Ungewißheit waren, hätte nicht das Andenken der ehemals geliebten Züge eine alte treue Liebe bewahrt. Denn als um den kaum hervorgezogenen Leichnam das Volk, die unbekannten jugendlichen Gesichtszüge betrachtend, steht, da kommt an Krücken und mit grauem Haar ein Mütterchen, mit Tränen über den geliebten Toten, der ihr verlobter Bräutigam gewesen, hinsinkend, die Stunde segnend, da ihr noch an Pforten des Grabes ein solches Wiedersehen gegönnt war, und das Volk sah mit Verwunderung die Wiedervereinigung dieses seltenen Paares, da sich das eine im Tode und in tiefer Gruft das jugendliche Aussehen, das andere bei dem Verwelken und Veralten des Leibes die jungendliche Liebe treu und unverändert erhalten hatte; und wie bei der fünfzigjährigen Silberhochzeit der noch jugendliche Bräutigam starr und kalt, die alte und graue Braut voll warmer Liebe gefunden wurde. 5 Wenige Jahre später entfaltet sich aus dem faszinierenden Motiv die „ exemplarische Novelle der Romantik “ . 6 E. T. A. Hoffmann übernimmt das Motiv zwar aus der Jason-Zeitschrift, aber er schreibt in Anlehnung an Tiecks Runenberg nun seine eigenwillige Märchen-Novelle Die Bergwerke zu Falun. Der sprechende Name Christian ist ausgetauscht gegen den gängigen schwedischen Namen Elis Fröbom. Der eine wie der andere ist als Melancholiker bzw. als „ Neriker “ umgetrieben von einer unbestimmten Sehnsucht, die sich bei beiden zu erfüllen scheint im Banne einer über alle Schätze der Erdtiefe gebietenden Bergfee. Wie Christian seinen Beruf in der Ebene als Gärtner aufgibt, so wechselt auch Elis vom Beruf des Seemanns zum Knappen, und weder eine Ehefrau Elisabeth noch eine Braut Ulla vermag den bergsüchtigen 46 Viertes Kapitel Ehemann bzw. Bräutigam zu binden an das idyllische Glück des Dorfes oder der ehelichen Gemeinschaft. Beide sind, obzwar junge Männer, die sich auszeichnen durch Tüchtigkeit und sich bewähren in der Arbeit und in der Wirklichkeit, der Bergkönigin verfallen - einer Figur aus dem Märchen! Elis wird, wie Christian, irregeleitet von einem rätselhaften „ Alten “ , der ihn immer wieder auf die mächtige Königin der Tiefe und „ ihre geheimsten Schatzkammern “ verweist. Und Elis wird, wie Christian, seitdem verfolgt von einem „ verhängnisvollen Traum “ 7 , in dem sich die Erzählungen des alten Bergmanns als Visionen einer metallenen Pflanzenwelt in der Tiefe des Berges wiederholen, eines erstarrten Paradieses, über dem das Antlitz der Bergkönigin schwebt. Aber zugleich mit dem Erscheinen der Königin hört er die warnende Stimme seiner verstorbenen Mutter und glaubt sogar „ ihre Gestalt zu schauen oben an der Spalte “ , indessen ist es „ ein holdes junges Weib, die ihre Hand tief hinabstreckte in das Gewölbe und seinen Namen rief. “ Elis, längst in Liebe verbunden mit Ulla, der Tochter seines Masmeisters Pehrson Dahlsjö, „ fühlte sich wie in zwei Hälften geteilt, es war ihm, als stiege sein besseres, sein eigentliches Ich hinab in den Mittelpunk der Erdkugel und ruhe aus in den Armen der Königin, während er in Falun sein düsteres Lager suche. “ 8 Elis ist, wie Christian, in der Tiefe des Gemüts gespalten; der Zwiespalt ist affiziert allein durch eine unbestimmte Sehnsucht nach einem Berg-Wunder. Der eigentliche Schatz des Herzens ist, wie für den Ehemann Christian, so für den Bräutigam Elis, nicht die Ehefrau und nicht die Braut, sondern das Edelgestein und das Gold in dem Stollen des Berges. In der Tat: In einem verzweifelten Augenblick, da er Ulla irrtümlicherweise anderwärtig längst verlobt glaubt und sich in der Bergtiefe in die Arbeit stürzt, ruft er aus: „ Unten liegt mein Schatz, mein Leben und mein alles! “ 9 Die Frage nach dem Fortgang und Ausgang der „ exemplarischen Novelle der Romantik “ liegt auf der Hand: Das märchenhafte Berg-Wunder lockt den Bergmann in der Tiefe ins Unglück und wird in der Oberwelt zum Ereignis. Elis, ernsthaft mit Ulla versprochen, einem „ in der höchsten Anmut der blühendsten Jugend “ 10 stehenden Mädchen, sieht in freudiger Erwartung dem Hochzeitstag - es ist der Johannistag - entgegen. Es hat den Anschein, als würde er sich an diesem symbolischen Tage befreien können aus seinem Konflikt zwischen der wundersamen Sehnsucht nach der Bergkönigin und seiner irdischen Liebe zu Ulla. Aber sein offenbar ernsthafter Befreiungsversuch führt ihn wider Erwarten hinunter in den Schacht. Am frühen Morgen des Hochzeitstages - es war der Johannistag - klopfte Elis an die Kammer seiner Braut. Sie öffnete und fuhr erschrocken zurück, als sie den Elis erblickte schon in den Hochzeitskleidern, todbleich, dunkel sprühendes 47 E. T. A. Hoffmann: Die Bergwerke zu Falun Feuer in den Augen „ Ich will “ , sprach er mit leiser schwankenden Stimme, „ ich will dir nur sagen, meine herzgeliebte Ulla, daß wir dicht an der Spitze des höchsten Glücks stehen, wie es nur dem Menschen hier auf Erden beschieden. Mir ist in dieser Nacht alles entdeckt worden. Unten in der Tiefe liegt in Chlorit und Glimmer eingeschlossen der kirschrot funkelnde Almandin, auf den unsere Lebenstafel eingegraben, den mußt du von mir empfangen als Hochzeitsgabe. Er ist schöner als der herrlichste blutrote Karfunkel, und wenn wir in treuer Liebe verbunden hineinblicken in sein strahlendes Licht, können wir es deutlich erschauen, wie unser Inneres verwachsen ist mit dem wunderbaren Gezweige das aus dem Herzen der Königin im Mittelpunkt der Erde emporkeimt. Es ist nur nötig, daß ich diesen Stein hinauffördere zu Tage, und das will ich nunmehr tun. Gehab dich so lange wohl, meine herzgeliebte Ulla! Bald bin ich wieder hier. “ 11 Elis steht, wie Christian, im Banne seines dunklen Schicksals, das auf einer „ Lebenstafel “ eingezeichnet scheint. Und nahe „ an der Spitze des höchsten Glücks “ wird er von diesem Schicksal eingeholt und herausgerissen aus dem Kreise seiner Freunde und Hochzeitsgäste. Es ist der „ Almandin “ , der ihn lockt, „ der herrlichste blutrote Karfunkel “ , der Stein, der mit seinem „ wunderbaren Gezweige “ hervorkeimt „ aus dem Herzen der Königin im Mittelpunkt der Erde “ . Der Karfunkel, seit Jahrtausenden ein Stein mit wunderbaren Eigenschaften, ist zwar zum Symbol des Wunders schlechthin geworden in der Romantik, 12 aber zeitigt auf verderbliche Weise seine Kräfte: Elis wird seine Braut Ulla nicht damit beglücken können am Hochzeitstag, er feiert seine Hochzeit in den Armen der Bergkönigin, Hochzeit mit dem Tod. Die Märchen-Novelle könnte an dieser Stelle wohl zu Ende sein, aber es folgt ein für die Zeit höchst bedeutsames Nachspiel: Fünfzig Jahre sind vergangen, ein halbes Jahrhundert, eine lange Zeit: Längst war der wackere Masmeister Altermann Pehrson Dahlsjö gestorben, längst seine Tochter Ulla verschwunden, niemand in Falun wußte von beiden mehr etwas [. . .]. Da geschah es, daß die Bergleute [. . .] den Leichnam des jungen Bergmanns fanden, der versteinert schien, als sie ihn zu Tage förderten. Es war anzusehen, als läge der Jüngling in tiefem Schlaf, so frisch, so wohlerhalten waren die Züge seines Antlitzes, so ohne alle Spur der Verwesung seiner zierlichen Bergmannskleider, ja selbst die Blumen an der Brust. 13 Aber niemand kennt den Toten, nur „ ein steinaltes eisgraues Mütterchen “ , genannt „ das Johannismütterchen “ , weil sie alle Jahre am Johannistag am Eingang des Bergstollens erschienen ist, weiß, wer der Tote ist und sie erzählt unter Tränen ihr Schicksal: 48 Viertes Kapitel „ Als ich mit Gram und Jammer fortzog nach Ornäs, da tröstete mich der alte Torbern und sprach, ich würde meinen Elis, den das Gestein begrub am Hochzeitstage, noch wiedersehen hier auf Erden, und da bin ich jahraus jahrein hergekommen und habe ganz Sehnsucht und treue Liebe hinabgeschaut in die Tiefe. - Und heute ist mir ja wirklich solch seliges Wiedersehen vergönnt! - O mein Elis - mein geliebter Bräutigam! “ Aufs neue schlug sie die dürren Arme um den Jüngling, als wolle sie ihn nimmer lassen, und alle standen tief bewegt ringsumher. Leiser und leiser wurden die Seufzer, wurde das Schluchzen der Alten, bis es dumpf vertönte. Die Bergleute traten hinan, sie wollten die arme Ulla aufrichten, aber sie hatte ihr Leben ausgehaucht auf dem Leichnam des erstarrten Bräutigams. Man bemerkte, daß der Körper des Unglücklichen, der fälschlicherweise für versteinert gehalten, in Staub zu zerfallen begann. In der Kopparbergs-Kirche, dort wo vor fünfzig Jahren das Paar getraut werden sollte, wurde die Asche des Jünglings beigesetzt und mit ihr die Leiche der bis in den bittern Tod getreuen Braut. 14 Elis ist, wie Christian, ein Opfer der Sehnsucht nach einer wunderbaren Frau in der Tiefe des Berges. In seinem Innern stoßen Phantasie und Tagwerk hart aufeinander, aber das Wunder hat sich konkretisiert: die Rede ist unmissverständlich von „ wunderbaren Schätzen “ und von Gold und Geld, und es ist eine beredte Sprache, wenn Christians Vater verzweifelnd klagt, sein Herz sei „ nicht menschlich mehr, sondern von kaltem Metall “ , 15 und wenn der Sohn bekennt: „ Wer diese [Schätze] ergründen, heben und an sich reißen könnte! Wer die Erde so wie eine geliebte Braut an sich zu drücken vermöchte, daß sie ihm in Angst und Liebe gern ihr Kostbarstes gönnte. “ 16 Elis scheint in der Tat verwandelt zu sein: an der Stelle des Herzens herrscht „ der kirschrote funkelnde Almandin “ , der „ blutrote Karfunkel “ . Die „ exemplarische Novelle der Romantik “ hat sich unter der Hand zum Märchen gewandelt, genauer: zur Märchen-Novelle. Märchen und Märchen-Novelle aber verraten ihre Verwandtschaft und Fremdheit nirgends deutlicher als im Umgang mit Gold und Edelsteinen. Ist im Märchen die Identität gewahrt zwischen Gold und Geld, zwischen Geschenk und Gebrauch, zwischen Ding und Ware, 17 so bricht die scheinbare Einheit in der Märchen-Novelle auseinander und der Konflikt bzw. der Kontrast wird unlösbar; die Märchen-Erlösung ist pervertiert zur tragischen Verfallenheit an eine dämonische Macht, an das Gold, das aber längst zum Decknamen fungiert für Geld. Es ist auffallend und nicht von ungefähr, dass in zeitlicher Nähe das „ selbstverständliche “ Märchenwunder nun verbal geradezu beschworen wird, es 49 E. T. A. Hoffmann: Die Bergwerke zu Falun wiederholt sich als Wort in vielen Titeln und zahlreichen Variationen im Text, 18 nicht zuletzt in den Bergwerks-Novellen - und man könnte mutmaßen, in dieser Beschwörung dokumentiere sich die poetische Mühe bzw. Mühsal, das zum „ Ungeheuer “ oder zum Ungeheuren gigantisierte Wunder zu bannen. Aber wie immer die Schätze des Berges Glück und Reichtum verheißen und zeitloses Leben versprechen - das Versprechen ist trügerisch, der Stein zerfällt am Ende zu Staub, zu Nichts. Im gleichen Jahrzehnt, da die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm die Aufmerksamkeit auf sich lenken, erscheint auch Tiecks Phantasus, und just zu dieser Zeit stört E. T. A. Hoffmann auf mit seinem Erzähl-Zyklus Die Serapionsbrüder. Höchst missverständlich und verschlüsselt lobt er die Phantasie als innere Schau, aber zugleich verweist er auf die Grenzsituation der Phantasie; die ungebundene Freiheit wird zur Illusion, wenn sie nicht mehr rückgebunden ist an die Tagespflichten. In jenem historischen Augenblick, da die Brüder Grimm die Märchen sammeln, um die überkommenen und arg verredeten Mythen im Märchenland kindlicher Phantasie aufzuheben, in eben diesem Augenblick, da die Phantasie noch einmal ihre romantische Verklärung erfährt, schaltet ein reflektierendes Bewusstsein sich ein und fordert, gewiss im Widerspruch gegen die petrifizierende, philiströse, dem Nichts verfallene Vernunft, zugleich von den bloß infantil-regressiven Träumen der Phantasie, dass sie sich nicht herausstehle aus dem Wissen um die Gegenwart. Zum Vorbild der Erzähler wird Serapion, ein Einsiedler im Gebirge, eigentlich ein Graf, der sich aus dem Getriebe der Welt zurückgezogen hat. Der einsiedlerische Graf, der sich allen Ernstes für den frühchristlichen Eremiten Serapion hält, lebt ganz und gar aus den Vorstellungen seiner Phantasie und darf somit zwar mit Recht zur Leitfigur der poetischen Freunde und zum Beispiel für die Einheit von Phantasie und Realität erhoben werden - aber die Freunde wissen im Unterschied zu ihrem Vorbild sehr wohl um das unverwechselbare Dasein und um die Solidität ihrer eigenen Existenz. Gewiss: Serapion scheint die personifizierte Phantasie, aber die Freunde konstatieren: „ Dein Einsiedler, mein Cyprianus, war ein wahrhafter Dichter, er hatte das wirklich geschaut was er verkündete, und deshalb ergriff seine Rede Herz und Gemüt. - Armer Serapion, worin bestand dein Wahnsinn anders, als daß irgendein feindlicher Stern dir die Erkenntnis der Duplizität geraubt hatte, von der eigentlich allein unser irdisches Sein bedingt ist. Es gibt eine innere Welt, und die geistige Kraft, sie in voller Klarheit, in dem vollendetsten Glanze des regesten Lebens zu schauen, aber es ist unser irdisches Erbteil, daß eben die Außenwelt in der wir eingeschachtet, als der Hebel wirkt, der jene Kraft in Bewegung gesetzt. Die inneren Erscheinungen gehen auf in dem Kreise, den die 50 Viertes Kapitel äußeren um uns bilden und den der Geist nur zu überfliegen vermag in dunklen geheimnisvollen Ahnungen, die sich nie zum deutlichen Bilde gestalten. Aber du, o mein Einsiedler! statuiertest keine Außenwelt, du sahst den versteckten Hebel nicht, die auf dein Inneres einwirkende Kraft; und wenn du mit grauenhaftem Scharfsinn behauptest, daß es nur der Geist sei, der sehe, höre, fühle, der Tat und Begebenheit fasse, und daß also auch sich wirklich das begeben was er dafür anerkenne, so vergaßest du, daß die Außenwelt den in den Körper gebannten Geist zu jenen Funktionen der Wahrnehmung zwingt nach Willkür. Dein Leben, lieber Anachoret, war ein steter Traum, aus dem du in dem Jenseits gewiß nicht schmerzlich erwachtest. - Auch dieses Glas sei noch deinem Gedächtnis dargebracht. “ 19 Hier fällt das Stichwort: Duplizität! Es ist der erwachten Phantasie hinfort weder möglich noch erlaubt, sich bewusstlos im Land der Phantasie zu tummeln, der Flüchtige weiß zu genau um seine Flucht. Der Umgang mit dem Märchen und seinem Wunder wird zum poetischen Spiel, das mitten in der Zeitlichkeit sich vorübergehend ereignet. Das selbstverständliche Wunder wird endgültig zum zwiespältigen und zweideutigen Ereignis und während das Volks-Märchen mit den Brüdern Grimm bei den Kindern angesiedelt wird, etabliert sich mit fortschreitendem Bewusstsein zunehmend die kontrastive Märchen-Novelle. Das Motiv vom Schatz in der Bergtiefe ist faszinierend, aber sein Wert ist trügerisch, und das im Stein oder in der Versteinerung aufgehobene Leben ist bloßer Schein. In Achim von Arnims Gedicht Des ersten Bergmanns ewige Jugend wiederholt sich die illusionäre Sehnsucht und in Hugo von Hofmannsthals Spiel Das Bergwerk von Falun, das an der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert entsteht, wandeln sich nur die Farben der Illusionen. Aber im Roman Hundejahre von Günter Grass, erschienen in der Mitte des von einem verheerenden Krieg heimgesuchten Jahrhunderts, offenbart sich in der Tiefe des Schachts die Wahrheit als unheilvolle Historie; der vermeintliche „ Schatz “ pervertiert zu beredten Drachen, die nichts verkünden, als die Absurdität der Geschichte. Der novellistische Kontrast zwischen unmessbarer Ewigkeit und messbarer Zeitlichkeit, zwischen Zeitlosigkeit und kalendarischer Zeit, zwischen Utopie und Geschichte, war in höchst komprimierter Form in einer kleinen Erzählung vor Augen geführt worden, die ebenso bescheiden wie anspielungsreich sich als Kalendergeschichte einführte. Der Autor Johann Peter Hebel, der Theologe und Prälat aus Karlsruhe, schrieb sie bereits im Jahre 1810 und gab ihr nicht ohne Grund den Titel: Unverhofftes Wiedersehen. Die journalistisch verbürgte 51 E. T. A. Hoffmann: Die Bergwerke zu Falun Geschichte ist zwar zur Kurzgeschichte bzw. zur Legende geworden, das zeitenthobene Geschehen scheint zwar gänzlich absorbiert in der Zeit, aber umso schroffer erscheint der Kontrast, der Bruch zwischen jenseitiger Geschichtslosigkeit und Zeit als Geschichte: „ In Falun in Schweden küßte vor guten fünfzig Jahren und mehr ein junger Bergmann seine junge hübsche Braut und sagte zu ihr: ‚ Auf Sankt Luciä wird unsere Liebe von des Priesters Hand gesegnet. ‘“ 20 Mit dem ersten Satz bereits wird Ort und Zeit fixiert und der Leser des Kalenders vom Jahre 1811 weiß genau, wo und wann die Geschichte spielt. Eine Hochzeitsankündigung mit folgendem Aufgebot, nichts sonst, aber dann der Satz: „ da meldete sich der Tod. “ 21 Der Bergmann ist weder ein Christian noch ein Elis, er ist keiner Bergkönigin verfallen und ist nicht auf der Suche nach Gold und Edelsteinen, er geht schlicht und einfach seiner Arbeit nach wie alle Tage. An diesem Tag aber, da er in der Frühe an ihrem Fenster vorbeigegangen ist und ihr einen guten Morgen gewünscht hat, kehrt er am Abend nicht mehr zurück - und nun vergeht bzw. dominiert die Zeit: Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch ein Erdbeben zerstört, und der siebenjährige Krieg ging vorüber, und Kaiser Franz I. starb, und der Jesuitenorden wurde aufgehoben, und Polen wurde geteilt, und die Kaiserin Maria Theresia starb, und der Struensee wurde hingerichtet, Amerika wurde frei, und die vereinigte französische und spanische Macht konnte Gibraltar nicht erobern. Die Türken schlossen den General Stein in der Veteraner Höhle in Ungarn ein, und der Kaiser Joseph starb auch. Der König Gustav von Schweden eroberte Russisch-Finnland, und die französische Revolution und der lange Krieg fing an, und der Kaiser Leopold II. ging auch ins Grab. Napoleon eroberte Preußen, und die Engländer bombardierten Kopenhagen, und die Ackersleute säten und schnitten. Der Müller mahlte, und die Schmiede hämmerten, und die Bergleute gruben nach den Metalladern in ihrer unterirdischen Werkstatt. 22 Die Zeit fließt, sinnenhaft und sichtbar läuft sie vor Augen ab, und die Aufzählung der Orte und Namen macht die Geschichte im wahren Sinn des Wortes zum sonderbaren Eräugnis. 23 Der Leser registriert nicht nur die dokumentarischen Daten, sondern die sinnliche Wahrnehmung macht zugleich mit den die historischen Ereignisse begleitenden Katastrophen die sinnlose Abfolge der Zeit augenfällig: Es sind die großen Männer der Geschichte, die gestorben sind, Kaiser, Könige und Heerführer, Geschichte offenbart als Weltgeschichte ihre ateleologische Struktur, die hinter den Kulissen der großen Ereignisse im einfachen Volk „ unverhofft “ ihren eigentlichen Sinn erhält: in der Liebe. Und in eben diesem Ereignis vollendet und 52 Viertes Kapitel transzendiert sich die Geschichte. Nicht die historischen Taten machen die Geschichte aus, nicht die kostbarsten Güter dieser Welt, die ohnehin höchst fragil ist und oft genug von Katastrophen aller Art heimgesucht werden kann, sichern ihren Bestand, ihr tiefster Wert liegt nicht verborgen in den Stollen der „ unterirdischen Werkstatt “ , sondern im menschlichen Herzen. Gewiss: es dominiert die Zeit, aber sie triumphiert nicht. Während der über ein halbes Jahrhundert sich erstreckenden Geschichte bleibt der junge Bergmann verschollen und wird schließlich vergessen, bis man ihn zufällig in einem Stollen findet; der Körper, der im „ Schutt und Vitriolwasser “ gelegen, ist „ unverwest und unverändert “ . 24 Als man ihn aber zutage ausgefördert hatte, Vater und Mutter, Gefreunde und Bekannte waren schon lange tot, kein Mensch wollte den schlafenden Jüngling kennen oder von seinem Unglück wissen, bis die ehemalige Verlobte des Bergmanns kam, der eines Tages auf die Schicht gegangen war und nimmer zurückkehrte. Grau und zusammengeschrumpft, kam sie an einer Krücke an den Platz und erkannte ihren Bräutigam; und mehr mit freudigem Entzücken als mit Schmerz sank sie auf die geliebte Leiche nieder, und erst als sie sich von einer langen heftigen Bewegung des Gemüts erholt hatte, sagte sie endlich: „ Es ist mein Verlobter, um den ich fünfzig Jahre lang getrauert habe und den mich Gott noch einmal sehen läßt vor meinem Ende. Acht Tage vor der Hochzeit ist er unter die Erde gegangen und nimmer heraufgekommen. [. . .] Schlafe nun wohl, noch einen Tag oder zehn im kühlen Hochzeitsbett, und laß dir die Zeit nicht lange werden. Ich habe nur noch wenig zu tun und komme bald, und bald wird ’ s wieder Tag. - Was die Erde einmal wiedergegeben hat wird sie zum zweitenmal auch nicht behalten “ , sagte sie, als sie fortging und noch einmal umschaute. 25 Der Theologe Johann Peter Hebel macht in seiner Kalendergeschichte aus dem märchenhaften Wunder ein homiletisches Legenden-Wunder, das allenthalben sein Echo fand unter den Lesern und in der Literaturgeschichte. 26 53 E. T. A. Hoffmann: Die Bergwerke zu Falun F ÜNFTES K APITEL F RIEDRICH DE LA M OTTE -F OUQUÉ : U NDINE (1811) ODER : „ D U ABER SIEHST JETZT WIRKLICH EINE U NDINE , LIEBER F REUND . “ Verräter! Wenn euch nichts mehr half, dann half die Schmähung. Dann wußtet ihr plötzlich, was euch an mir verdächtig war, Wasser und Schleier und was sich nicht festlegen läßt. (Ingeborg Bachmann: Undine geht) Undine - ein Name als Titel, mit dem der Autor im Jahre 1811 „ eine Erzählung “ ankündigt, die den damaligen wie heutigen Leser zurückverweist auf ein inhaltschweres Motiv aus altehrwürdiger Tradition. Abgesehen vom Homerischen Sirenen-Gesang 1 und seinen antiken Variationen wiederholt es sich mit wechselnden Namen auffallend häufig seit dem Mittelalter 2 und findet sein Echo bis in die Gegenwart. Im lexikalischen und literarischen Stichwort Mahrtenehe 3 verbirgt sich im Gattungsgewand der Sage oder des Märchens eine Natur-Tragödie. Seit der in platonisch-neuplatonischer Tradition stehende Arzt Paracelsus in seinem natur-philosophischen Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris 4 in populär-wissenschaftlicher Sprache die Elemente und die in ihnen lebenden Geister beschrieben hatte, war ein Mythos belebt worden, der über Jahrhunderte in Europa und insbesondere in der deutschen Romantik immer wieder in Gedichten, Erzählungen und Opern poetisiert und entsprechend häufig in der wissenschaftlichen Literatur behandelt wurde. 5 Die elementare Natur bzw. die Elementargeister - so Paracelsus - sind zwar lebendige Wesen, aber sie sind seelenlos und daher nicht unsterblich. Ihr Verlangen aber ist, in ehelicher Gemeinschaft mit einem Menschen eine Seele zu erlangen. „ Darauß volget nun, daz sie umb den Menschen bulen, zu ihm sich fleissen und heimlich machen. “ 6 Die unmittelbare Verbindung zwischen Natur und Element aber bleibt trotz Liebe und Ehe allezeit ihr Mysterium. Von Zeit zu Zeit verschwindet die geehelichte Wasser-Frau, denn sie muss, wenn auch nur für eine kurze Weile, zurück in ihren heimatlichen Bereich. Ferner darf sie nie in der Nähe ihrer elementarischen Bezirke beargwöhnt oder gar beleidigt werden. Der Mann hat mit dem Versprechen, das Geheimnis zu wahren, eine nicht gar leichte Bürde auf sich genommen, zumal ihm angedroht worden ist, dass seine Frau bei Verrat für immer verschwinde. Fouqué hat seine Paracelsus-Lektüre selbst bezeugt, klagt zwar, dass es schwierig sei, den „ rätseltiefen Naturphilosophen “ und seine aus „ Küchen- oder doch Mönchslatein “ und „ Provinzialdialekt “ zusammengesetzten „ Orakelsprüche “ einigermaßen zu verstehen, aber er habe das Exemplar einer alten Ausgabe sorgfältig zu studieren sich befleißigt. 7 Die Undine-Erzählung beginnt wie ein Märchen: Es mögen nun wohl schon viele hundert Jahre her sein, da gab es einmal einen alten guten Fischer, der saß eines schönen Abends vor der Tür und flickte seine Netze. Der grüne Boden, worauf seine Hütte gebaut war, streckte sich weit in einen großen Landsee hinaus . . . 8 Der vom Titel beeindruckte und gelenkte Leser meint zu wissen, was nun geschehen wird, aber nicht wie, und er wartet selbstverständlich auf das im Titel angekündigte Undine-Wunder. Doch er wird hingehalten. Die Erzählung, obwohl imperfektisch angelegt und auch durchgehend so strukturiert, wird unmittelbar szenisch, denn ihr Erzähler wird von Kapitel zu Kapitel wie von Bühnenbild zu Bühnenbild zum Regisseur und versetzt den Leser-Zuschauer im Parkett vor eine imaginäre Opernbzw. Operetten-Szenerie. Zunächst jedoch tritt die erwartete Undine nicht auf, sondern „ ein schön geschmückter Ritter “ , der sich gegenüber dem Fischer als Ritter Huldbrand vorstellt. Er berichtet, er habe sich im „ wunderlichen Wald “ , rückwärts der grauen Landzunge gelegen, verirrt und bittet für die Nacht um ein „ Unterkommen “ . 9 Undines Auftritt erfolgt erst als der Ritter, der alte Fischer und seine Frau geruhsam am Herdfeuer sitzen. Sie meldet sich mit störendem „ Plätschern “ am Fenster und mit koboldhaftem „ Gekicher “ , bis plötzlich die Tür auffliegt und sie als „ wunderschönes Blondinchen “ in die abendliche Hütte tritt. Der Ritter hat wenig Zeit, sich an ihrer „ holden Gestalt “ zu erfreuen und sich ihre „ lieblichen Züge “ einzuprägen, denn augenblicklich kniet sie ihm zu Füßen, fragt neugierig, ob er „ aus dem Walde “ komme, und bittet ihn, sogleich zu erzählen, was für „ wunderliche Abenteuer “ er dort erlebt habe. Als der alte Fischer dies dem Ritter jedoch angesichts der vorgerückten Stunde verweigert, fordert sie wie ein unerzogenes Mädchen unwirsch und trotzköpfig: „ Er soll nicht erzählen [. . .]? Er soll doch! “ Das „ zierliche Füßchen “ heftig zu Boden stampfend, verlässt sie ärgerlich die Hütte und läuft hinaus in die stürmische Nacht. 10 Das Mädchen Undine wird vorgestellt als unverstellte, ungebändigte und einigermaßen wilde Natur und gleich eingangs wird aus ihren Gesten und 55 Friedrich de la Motte-Fouqué: Undine Gebärden nicht nur ihr Wesen, sondern ihr andringliches Werben um ein neues Menschsein, aber zugleich damit der Kontrast zur häuslich-familiären Ordnung sichtbar. Die heimelige Stimmung scheint gestört und näher rückt der potentielle, fast möchte man sagen: der novellistische Konflikt zur zivilen Gesellschaft. Während das Mädchen Undine draußen im sturmnassen Wald herumstreift, erzählt der alte Fischer ihre „ Geschichte “ . Undine habe, wenige Tage nachdem ihr eigenes Töchterlein im See ertrunken und verschwunden sei, als „ wunderschönes Mägdlein “ , aus dessen „ goldenen Haaren “ das Wasser herabtröpfelte, vor ihrer Türe gestanden und sie „ aus seeblauen Augenhimmeln “ angeschaut. Obwohl oder gerade weil ihre Herkunft ihnen unbekannt war, hätten sie das fremde Kind als Gottesgeschenk angenommen und es bei der Taufe Dorothea nennen wollen. Da aber habe es plötzlich gesagt, es sei von seinen Eltern „ Undine “ genannt worden. 11 Der Ritter unterbricht die „ Geschichte “ , weil draußen der Sturm aufheult, der Bach anschwillt und die Landzunge in eine Insel verwandelt. Die beiden besorgten Männer machen sich sogleich auf die Suche und finden das Mädchen schließlich jenseits des Baches. Gegen Morgen, als das Unwetter vorbei ist und die „ Vöglein lustig auf den genäßten Zweigen “ singen, bekommt Undine dann doch ihren Willen und hört, „ zu den Füßen des Ritters im Gras “ hockend, seine „ Erzählung “ . 12 Er sei, so beginnt er, auf Geheiß der Pflegetochter seines Herzogs, Berthalda, die wissen wollte, „ wie es nun im berüchtigten Forste aussieht “ , losgeritten, um den Wunsch der Dame - „ eine hochmütige, wunderliche Maid “ - zu erfüllen. Im „ Forst “ habe ihn ein Waldgeist - „ ein schwarzes Ding in den Zweigen “ , „ ein langer weißer Mann “ , „ ein wunderliches Männlein “ - geneckt, auf absonderlichen Irrwegen herum geführt und plötzlich „ Trinkgeld “ verlangt. Der Leser merkt auf, denn es mutet seltsam widersprüchlich, wenn nicht gar anachronistisch an, wenn der mittelalterlich kostümierte Ritter von seinem ritterlich drapierten Schimmel herab dem Waldgeist nun ein Goldstück - eine Goldmünze also - zuwirft und als Echo dessen Spott erntet: „ Falsch Geld! Falsche Münze! Falsche Münze! Falsch Geld! “ Auf den wiederholten Versuch der Almosengabe erfährt er die schnarrende Antwort: „ Gold eben nicht [. . .] mein Jungherrlein; des Spaßes hab ich selbsten allzuviel; will ’ s Euch mal zeigen. “ Der Bericht der darauf folgenden Ereignisse mutet an wie eine seltsame Vision. Der Ritter erzählt: Da ward mir auf einmal, als könnt ’ ich durch den grünen festen Boden durchsehen, als sei er grünes Glas und die ebene Erde kugelrund und drinnen hielten eine Menge Kobolde ihr Spiel mit Silber und Gold. Kopfauf, kopfunten 56 Fünftes Kapitel kugelten sie sich herum, schmissen einander zum Spaß mit den edlen Metallen und pusteten sich den Goldstaub neckend ins Gesicht. Mein häßlicher Gefährte stand halb drinnen, halb draußen; er ließ sich sehr, sehr viel Gold von den anderen heraufreichen und zeigte es mir lachend und schmiß es dann immer wieder klingend in die unermeßlichen Klüfte hinab. Dann zeigte er wieder mein Goldstück, was ich ihm geschenkt hatte, den Kobolden drunten und die wollten sich drüber halb totlachen und zischten mich aus. Endlich reckten sie alle die spitzigen metallschmutzigen Finger gegen mich aus, und wilder und wilder, und dichter und dichter, und toller und toller klomm das Gewimmel gegen mich herauf; - da erfaßte mich Entsetzen. 13 Der Berg eine Schatzkammer! Ein Goldbergwerk als Goldschmiede und Tresor! Ein zwar nicht seltenes Motiv in der Literatur, nicht zuletzt in den Märchen seit Tausend-und-eine-Nacht, aber als durchsichtiger, gläserner Berg offenbart er hier nicht nur urtümliche, sich selbst genügsam scheinende Werte, sondern provoziert und demonstriert im Vergleich zu ihren ausgegrabenen, ausgebeuteten und umgemünzten Substraten den verführerischen Mammon. Der Leser erinnert sich: Nicht ohne Grund ist es Mephisto, der auf dem Weg zum Walpurgisfest auf dem Brocken seinem Begleiter Faust auf dem „ Mittelgipfel “ den Blick schärft für die im Berginnern schlummernde Werte: „ Wo man mit Erstaunen sieht/ Wie im Berg der Mammon glüht. “ 14 Der Ritter erfährt mit „ Entsetzen “ , was seine Goldmünze wert ist, begreift, als die Kobolde mit Goldstücken um sich werfen, sich Goldstaub ins Gesicht pusten und sich lustig machen über seine Münze, schockartig den krassen Gegensatz zwischen echtem Gold und gemünztem Geld. Fouqués Undine macht an dieser befremdlichen Szene eigentlich eine Reflexion erforderlich, die der Erzähler hätte einfügen müssen, aber an dieser höchst bedeutsamen Stelle ausspart, obwohl er ansonsten mit seinen Kommentaren freigiebig ist: Gold gilt in den Volks-Märchen gleichsam als ab-soluter Wert, der, im Handel re-lativiert zum beliebigen Tausch-Wert, seine authentische Wahrheit einbüßt. Indem Gold zu Geld wird, ist es „ immer falsch “ , weil es den ursprünglichen Wert nur vortäuscht; Geld ist als denaturierte Natur nur Schein, zieht als ihrer selbst entfremdete Natur den Menschen, der sich auf ihren viel versprechenden und allverheißenden Marktbrauch einlässt, in den Sog der Selbst-Entfremdung und erschafft neben oder jenseits der Natur, sozusagen als zweite Natur, nicht nur eine entartete Tausch-, sondern Täuschungs-Gesellschaft. 15 Des Ritters Vision vom gläsernen Berg kann man zwar als Märchen-Vision abtun, zumal seine Wald-Abenteuer allzu deutlich eine mysteriöse Sphäre beschwören, aber die fremden Figuren treten gleichsam wie aus geheimnisvollen 57 Friedrich de la Motte-Fouqué: Undine Kulissen auf eine imaginäre Bühne, und machen die Szene augenfällig und trotz der wundersamen Bilder beredt. Wenn beim Versuch des Verstehens 16 von einer „ Eindimensionalität “ die Rede ist, wird angespielt auf ein Strukturelement des Volksmärchens. 17 Wenn aber von einer „ historisierenden, sentimentalen Gestaltung “ gesprochen wird, die sich in der betulichen, altväterischen und archaisierenden Sprachgebung und „ plumpen Vertraulichkeit “ ausdrückt, 18 so dürfte ein Widerspruch offenbar sein, denn im Volksmärchen gibt es weder eine „ sentimentale “ oder „ archaisierende “ Sprache, noch „ Vertraulichkeit “ . Vielmehr ist die von wunderbaren Geschehnissen gesättigte Märchen-Sprache selbstverständlich und erlaubt keinerlei Reflexionen. Zum Geschehen auf der Landzunge aber werden die Erzähler-Reflexionen indessen in der Tat immer häufiger, zuweilen versteckt in urteilenden Epitheta, manchmal sogar als direkte Anrede: „ mein lieber Leser “ . 19 Undines Schicksal - das hat der Leser-Zuschauer längst bemerkt - verläuft von nun an, trotz wechselnder Bühnenbilder, sehr konsequent und sehr schnell: Ein Priester verirrt sich, nicht ohne Lenkung vom Wald- und Wassergeist Kühleborn, auf die von wirbelnden Wassern umspülte „ Insel “ , 20 vollzieht in der Hütte auf Wunsch des Ritters die Trauung zwischen dem aus vornehmer Gesellschaft stammenden Herrn und dem Natur-Mädchen, denn beide sind längst einander in Liebe zugeneigt. Die eheliche Verbindung bewirkt eine unvorhergesehene Wandlung. Das seelenlose und fühllose Naturkind spürt auf einmal das Geschenk der Seele, spürt es aber als schmerzhafte Beunruhigung und Beschwernis: Es muß etwas Liebes, aber auch etwas höchst Furchtbares um eine Seele sein. [. . .] Schwer muß die Seele lasten, sehr schwer! Denn schon ihr annahendes Bild überschattet mich mit Angst und Trauer. Und ach, ich war so leicht so lustig sonst! 21 Der Kontrast zwischen der einerseits freien ungebundenen und andererseits durch menschliche Normen gezügelten Natur wird mit dieser Wehklage offenbar, und der Konflikt scheint vorprogrammiert. Das dem Ritter jüngst angetraute Mädchen hat dem Geliebten in einer Konfession eben seine wahre Herkunft und die vom zauberischen Oheim, dem Wald- und Wassergeist Kühleborn fingierte Begegnung und Hochzeit anvertraut, gipfelnd in dem bekenntnisschweren Satz: „ Du aber siehst jetzt wirklich eine Undine, lieber Freund. “ Und gleichsam des Oheims und des fürstlichen Vaters Wunsch entschuldigend: „ Aber alles will höher als es steht. “ 22 Als ihr Ritter mit „ wunderlichen Gedanken “ über die „ seltsame Verwandschaft seiner Frau “ 23 58 Fünftes Kapitel tags drauf mit ihr an den Hof in die Stadt zurückkehrt, führt die Konfrontation mit der höfischen Gesellschaft - repräsentiert durch die mit dem Ritter durch höfische Konvention verbundene Dame Berthalda - zunehmend zur Entfremdung und zur Katastrophe. Berthalda, obwohl eifersüchtig, verhält sich zunächst „ als ein kluges Weib [. . .] und lebte aufs allerfreundlichste mit Undine, die man in der ganzen Stadt für eine Prinzessin hielt, die Huldbrand im Walde von irgendeinem bösen Zauber erlöst habe. “ 24 Als bald darauf aber der Wassergeist Kühleborn, eifersüchtig besorgt um das Glück seiner Nichte Undine, durch sein koboldhaftes Erscheinen im Brunnen oder im Schloss die traute Ruhe stört, überdenkt der Ritter „ mit einem geheimen Schauder “ 25 seine mysteriöse Verwandtschaft; und als über den herumspukenden Waldgeist offenbar wird, dass des Herzogs Pflegetochter Berthalda die ertrunkene Tochter des alten Fischers ist, und in den folgenden Tagen Berthalda die wahre Geschichte von Undines Herkunft und ihr dämonisches Wesen erfährt, ist es ihr zumute als ob „ sie nun selbst wie mitten in einem von den Märchen lebe, die sie sonst nur erzählen gehört. “ 26 Obwohl sie von nun an Undine „ mit Ehrfurcht “ anschaut, kann sie sich „ eines Schauders “ nicht erwehren, und auch der Ritter Huldbrand betrachtet von nun an seine „ arme Ehefrau als ein fremdartiges Wesen “ und ein „ kalter Schauer “ erfasst ihn zuweilen. 27 Undine spürt den drohenden Zorn ihres ritterlich beherrschten Gemahls und warnt ihn: Er möge nie „ auf einem Wasser “ oder nahe „ einem Gewässer “ mit ihr zürnen und schelten, weil er damit ihre Verwandten beleidige, die sie dann von ihm zurück fordern und von ihm reißen und sie vielleicht mit einer unheilvollen Botschaft zu ihm herauf schicken würden. 28 Auf einer Donaufahrt jedoch geschieht dies Unglück: Der Wassergeist Kühleborn hat die Schiffsbesatzung und Schiffsgesellschaft all zu auffällig geneckt und belästigt. Ritter Huldbrand, „ empört über so viele häßliche Gaukeleien “ und entrüstet über „ die tolle Verwandschaft “ , lässt sich zu einem Fluch hinreißen: „ Bleib bei ihnen in aller Hexen Namen [. . .] und laß uns Menschen zufrieden, Gauklerin du! “ Undine stürzt daraufhin „ über den Rand der Barke “ in die Flut und verströmt sich im Wasser. 29 Der Ritter Huldbrand heiratet nach ernster Reue und langer Trauer trotz priesterlicher Warnung ein zweites Mal - Berthalda! Und man könnte meinen, es wiederhole sich nun auf der Burg Ringstetten das entdämonisierte Glück der Fischer-Insel, es erfülle sich endlich die Insel-Utopie als imitiertes Märchen - aber eben dies geschieht nicht. Undine, scheinbar in der Donau ertrunken, lebt dort auf dem Grunde in ihren Kristallpalästen. Sie hat sich ihrem Ritter in seinen Träumen offenbart und ihn vor der neuerlichen Ehe vergeblich gewarnt. 59 Friedrich de la Motte-Fouqué: Undine In des Ritters Hochzeitsnacht steigt sie aus dem offenen Hofbrunnen, wandelt durch die Schlossgänge in sein Gemach und küsst den erschrockenen und erbleichenden Geliebten „ bis ihm endlich der Atem entging und er aus den schönen Armen als ein Leichnam sanft auf die Kissen des Ruhebettes zurücksank. “ 30 Am Ende aber lenkt die Geschichte zurück an den Anfang und stellt die Harmonie des Märchens wieder her: Bei des Ritters Beerdigung folgt Undine als weiße Gestalt dem Sarg und dort wo sie ihren Kniefall am Grab getan, entspringt eine Quelle; ein Bach schlängelt sich um den Hügel und sammelt sich zu einem kleinen Weiher. 31 Das Volk soll „ in späten Zeiten “ immer des Glaubens gewesen sein, die Quelle „ sei die arme verstoßene Undine, die auf diese Art noch immer mit freundlichen Armen ihren Geliebten umfasse. “ 32 Eine romantische Novelle? Gewiss nicht. Das mittelalterliche Burgpersonal mutet in Sprache und Gestik allzu modern an, genauer: zeitgenössisch, über das romantische Abenteuer hinausweisend in die hausbackene biedermeierliche Familien-Atmosphäre: Im Grunde entspricht die „ Frau “ Undine genau der männlichen Wunschvorstellung: einerseits züchtige Hausfrau ( „ demutsvoll “ ) zu sein, andererseits doch etwas vom Zauber und Charme der Nixe, Fee zu erhalten. 33 Der Baron de la Motte Fouqué kann den Aufbruch des Bürgertums und den Anbruch der bürgerlichen Gesellschaft nicht ignorieren oder gar eskamotieren; zu augenfällig sind die durchaus bürgerlich empfundenen Kontraste zwischen der heilen utopischen Insel-Familie und der wilden Wald- und Geister-Natur, zwischen der burghaft geschützten Innerlichkeit und der chaotisch bedrohten Geselligkeit. „ Hinter dem Bild des Mittelalters schimmert das ‚ zeitgenössische ‘ Bild der bürgerlichen Epoche des Autors durch. “ 34 Die wie auf einer Bühne erscheinende oder eher vorgeführte adlige Gesellschaft des Mittelalters ist ein gestelltes zeittypisches Gruppengemälde. Das Schloss des Ritters an den Quellen der Donau mutet an wie ein von durchsichtigen Kulissen umstelltes Bühnenbild, die dort agierenden Figuren sind aufwendig und farbenfreudig kostümierte Schauspieler und Tenöre - wie in einer Oper. Umso disharmonischer mutet die Bergwerk-Szene im Zauberwald an, in der ein hoch zu Ross daherreitender Rittersmann versucht, den aufdringlichen Wald- und Wassergeist mit Geld zu besänftigen, umso eindringlicher die widersprüchliche Erfahrung: Natur ist nicht korrumpierbar, nicht zu versöhnen und nicht zu bestechen mit künstlichen jüngst geprägten Goldmünzen. Der romantisierende, nach rückwärts schweifende Blick auf ein heiles ritterliches Mittelalter wird entzaubert, und der Märchen-Traum des- 60 Fünftes Kapitel illusioniert sich auf nahezu peinliche Weise. Von einer entmystifizierten „ Gegenreligion “ zu sprechen, scheint übertrieben, liegt aber nahe: Die deutsche Gegenreligion, deren verzifferte Heilige Schrift die Literatur der klassisch-romantischen Epoche war, hatte ihre Zeit und lief ab, und also wurde das tragisch-ekstatische Abenteuer historisch. 35 In diesem zeitgeschichtlichen Zusammenhang erhält die Gold-Bergwerk-Szene besondere Bedeutung, und es ist zu kurz geschlossen, wenn sie lediglich im Blick auf den lockeren Zusammenhang mit dem inhaltlichen „ Geschehen “ verstanden wird: Daß die grauslichen Kobolde den standfesten Huldbrand mit Gold locken und bedrohen, daß sie ihn durch die dünne Erdkruste hindurch die gleißenden Bodenschätze erblicken lassen, das mag auf die Anfechtungen einer unheimlichen, weil nach- und antiritterlichen Gesellschaft hinweisen, so wie bei Tieck. Es ist indes fürs weitere Geschehen ohne Belang. 36 Gewiss, „ fürs weitere Geschehen “ in der Erzählung, nicht aber für ihre literarhistorische Transparenz. Denn in dieser Spiegel-Facette wird die Dissonanz zwischen märchenhafter Szenerie und gängigem Tagesgeschehen deutlich: Ein Natur-Geist ist nicht käuflich und bestechlich, Gold ist als Wurzelstock des Geldes zwar in der Natur im Überfluss vorhanden, aber die Szene offenbart schlaglichtartig die kontrastive Disparatheit, die unversöhnliche Dichotomie zwischen Natur und bürgerlicher Gepflogenheit. Fouqués Undine-Märchen rangiert durch seinen gekünstelten Märchenton hart am Rande trivial-sentimentaler Literatur; wahrhaftig wird es nur durch seinen tragischen Ausgang: die Erfüllung von menschlicher Sehnsucht nach der naturhaften Befriedigung findet nur statt im Tod. Mit dieser Wendung und Wandlung aber mutiert das Märchen zur Novelle. Ist die Zeit der Märchen, in denen das Versprechen vom Glück der armen Häusler-Jungen und Königs-Kinder sich gleichermaßen erfüllt, vorbei? Doch wohl noch nicht, denn ein Jahr nach dem Erscheinen der Undine kommen die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm auf den Leser-Markt. Ein Zusammenhang mit der restaurativen Stimmung mag bei der Sammlung des Volksgutes sicherlich bestanden haben. Wie dem auch sei, den fleißigen Sammlern und Redakteuren scheint es in der Tat gelungen, noch einmal das alte Volks-Märchen im Ton seiner harmonischen Atmosphäre zu beschwören. Aber die Sammlung hat nicht ohne Grund einen verräterischen Titel, der die friedvolle Einheit zwischen Sehnsucht und Erfüllung mit einem adversativen „ aber “ auf das Reich der Kindheit beschränkt - mit Baudelaire zu sprechen: „ mais le vert paradis des amours enfantines. “ 37 61 Friedrich de la Motte-Fouqué: Undine Eine letzte Frage: Undine ist eine Frau! Ist ihr Schicksal in der langen Reihe der Sirenen- und Melusinen-Tragödien und -Komödien von besonderer Art? Kaum, denn wie in den antiken und mittelalterlichen Geschichten droht den Frauen Untreue und Verrat, den Männern aber Rache, Unheil und Tod. In der Undinen-Überlieferung ist es nicht anders, wenn auch das zeitbedingte Kolorit der Kulissen deutlicher erkennbar und in die Gegenwart übersetzbar ist. Das von romantischer Sehnsucht infizierte Insel-Glück geht allemal auf Kosten der weiblichen Natur; da die Wasser-Maid letztlich doch nicht einzufangen, zu zähmen, zu entmythisieren, zu zivilisieren und festzuhalten ist, bleibt dem Mann am Ende immer nur der bloße Schleier der Täuschung und der Trost in einer anderen verlässlicheren Ehe. Der verratenen Frau aber bleibt der Schmerz der Ent-Täuschung. Es liegt nahe, dass die enttäuschte Weiblichkeit immer wieder zum Gegenschlag ausholt, zur Rache an dem Mann, der, gebunden an die zu Normen erstarrten Gewohnheiten seiner Gesellschaft, seine männliche, sei es die ritterliche oder die bürgerliche Ehre, höher achtet denn die Liebe. Der Mann - heiße er Odysseus, Raimund, Huldbrand oder anders, agiere er als Schwertmann, als Rotmantel oder als Salonlöwe - ist meist ausgestattet mit dem Bonus Prestige, d. h. mit adligen Namen, Gütern und Kostümen, oder als Bürger mit kurrenten Gold-Talern. Der Mann tritt immer auf wie der Beschützer der Schwachen, wie ein Usurpator von Recht, Kraft und Macht. Seine prätendierte Mannheit aber ist falscher Glanz im Rampenlicht seiner virilen Regie. Die Undinen sollen keine Rächerinnen sein, keine Spielverderberinnen, sondern romantische Inbilder liebender Frauen. Die ausgebeutete, unterdrückte und am Ende verlassene Frau aber scheint im Rückblick auf Fouqués Undine-Tragödie in der Gegenwart eine neue Sprache zu gewinnen und ihren Zorn auf den Nenner zu bringen in Ingeborg Bachmanns Monolog Undine geht: Verräter! Wenn euch nichts mehr half, dann half die Schmähung. Dann wußtet ihr plötzlich was euch an mir verdächtig war, Wasser und Schleier und was sich nicht festlegen läßt. 38 Die Frage ist, ob die weiblich verschleierte Natur ihr Recht einklagt gegenüber der zu aller Zeit - ob aristokratisch, ob bürgerlich - männlich dominierten Geschichte? 62 Fünftes Kapitel S ECHSTES K APITEL A DELBERT VON C HAMISSO UND E. T. A. H OFFMANN (1813/ 1814/ 1815) ODER : S CHLEMIHL UND S PIKHER AM „ H AKEN “ DES H ERRN „ D APERTUTTO “ I. Adelbert von Chamisso schrieb Peter Schlemihls wundersame Geschichte im Kriegssommer 1813 in abseitiger Ruhe auf dem Landgut der gräflichen Familie Itzenplitz-Friedland in Kunersdorf. 1 Der historische Augenblick ist möglicherweise nicht ohne Belang für das Verständnis der Novelle: der französische Emigrant, hin und her schwankend zwischen Bewunderung für Napoleon einerseits und für Preußen andererseits, war trotz Napoleons Einladung der adligen Emigranten, im Unterschied zu seinen Eltern und Brüdern, nicht nach Frankreich zurückgekehrt, nahm aber auch nicht teil an den Befreiungskriegen. Schon der junge preußische Leutnant fühlte sich als Fremder in der Armee; in einem Brief schreibt er: „ J ’ y suis l ’ étranger, der Fremde, der Franzos . . . es sind gute Teufel diese braven Germanen, die keinen fressen, aber ich habe hier nur Bekannte, keine Freunde. “ 2 Und während eines Besuches der Eltern in Frankreich schreibt er an Varnhagen von Ense am 27. Januar 1807: „ Du sagst mir, ich fände ein Vaterland, wohin ich nur mich wende; nein, es verhält sich anders, wo ich auch sei, entbehr ich des Vaterlandes. “ 3 Also scheint die Kurzinterpretation nur eine rhetorische Frage: Peter Schlemihls Schicksal der Schattenlosigkeit eine autobiographische Metapher für die nationale Identitätsproblematik? Aber ein weiterer biographisch-zeitgeschichtlicher Aspekt käme hinzu: Schlemihls Verkauf des Schattens könnte Ausdruck sein für eine defiziente Solidität der personalen Situation des Asylanten inmitten der sichtbar zunehmenden Selbsteinschätzung und Sicherung des Selbst durch das Geld. Der Autor hat zwar zugegeben, dass er seinem Schlemihl „ in dem Leibe stecke “ , 4 gleichwohl hat er sich in den späteren Einleitungsversen entschieden von ihm distanziert und betont, dass der Versucher sich nicht rühmen könne, ihn „ jemals fest am Schatten “ 5 gehalten zu haben. Kurz und bündig ist konstatiert worden: „ Es handelt sich aber keineswegs um die Dokumentation der biographischen Existenz, sondern um den künstlerischen Ausdruck geistiger Auseinandersetzungen mit der eigenen geschichtlichen Situation. “ 6 Peter Schlemihl übrigens heißt der Erzähler und nicht Chamisso und er erzählt dem Autor Chamisso wie ein um Absolution bittendes Beichtkind seine „ wundersame “ Geschichte: Schlemihl kommt nach beschwerlicher Meerfahrt in einem schiffreichen Hafen an und logiert als armer Teufel in der Dachstube eines billigen Hotels. Auf seine Frage nach Herrn Thomas John wird er ans Nordertor verwiesen, wo er dessen aus rotem und weißem Marmor erbautes Landhaus sogleich erkennen werde. Im Park dortselbst unterhält Herr John, der sein Empfehlungsschreiben kaum beachtet, eben eine vornehme Gesellschaft. Die feinen Leute, die sich dort lustwandelnd ergehen, sind durchaus unverdächtig, auch das hochnoble Landhaus fällt Schlemihl nicht sonderlich auf, aber er horcht wohl auf, als der über Baupläne räsonierende Gastgeber zu den ihn umgebenden Gästen vollmundig sagt: „ Wer nicht Herr ist wenigstens einer Million, der ist, man verzeihe mir das Wort, ein Schuft. “ 7 Aber auch das mag noch angehen in einer vom Geld dirigierten Gesellschaft. Erst als ein unscheinbarer unbekannter Gast aus der „ Schoßtasche eines altfränkischen grautaffetenen Rockes “ 8 spontan alle eben begehrten Gegenstände herausholt, da wird es Schlemihl „ unheimlich, ja graulich zumute “ , 9 denn die erwünschten Dinge sprengen durchaus das Rocktaschenformat: ein Heftpflaster, ein Fernrohr, ein türkischer Teppich, ein Zelt mit Stangen und Schnüren, drei Rappen mit Sattel und Zeug. Der graue Herr, der der Gesellschaft mit seinen Handreichungen so freigiebig zu Diensten steht, scheint die Damen und Herren überhaupt nicht zu verwundern, um so mehr aber Schlemihl, der sich nun doch lieber aus dem Staub macht - aber siehe da: der graue Herr folgt ihm und bittet in devoter Höflichkeit, ob er ihm wohl seinen „ schönen, schönen Schatten “ , seinen „ herrlichen Schatten “ überlassen möchte. Schlemihl ist zwar nicht wenig überrascht oder gar erschrocken über den Wunsch des grauen Herrn, aber mehr noch über dessen wundersame Angebote: „ Springwurzel, Alraunwurzel, Wechselpfennige, Raubtaler, das Tellertuch der Rolandsknappen, ein Galgenmännlein [und] Fortunati Wunschhütlein. “ 10 Als ihm aber das Glückssäckel in die Augen sticht und er die Goldtaler in der Hand hält, ist der Tausch gemacht: sein Schatten gegen das Glückssäckel. Schlemihl, scheinbar nun ein gemachter Mann, wird aber seines Reichtums nicht froh, weil er, wegen des fehlenden Schattens gemieden von der Gesellschaft, am Ende mit zusätzlich erworbenen Siebenmeilenstiefeln in der Welt herumirrt, bis er endlich, als er das Glückssäckel weggeworfen hat, in einer Höhle der Thebaischen Wüste, die naturwissenschaftlichen Erfahrungen seiner Weltenwanderung aufschreibt und sie seinem Autor Chamisso zur Publikation übermacht. 64 Sechstes Kapitel Thomas Mann nennt die Geschichte mit gewissem Recht eine „ phantastische Novelle “ . 11 Und in der Tat bricht das novellistische „ Ereignis “ , um mit Goethe zu reden, als eine „ sich ereignete unerhörte Begebenheit “ in das gewöhnliche Leben ein. Aber da das Phantastische sich konkretisiert durch mehrfache Anleihen aus Volksmärchen und Volksbüchern, und zugleich deutlich ist, „ daß nicht nur das Märchenhaft-Phantastische das Dominierende in dieser Geschichte ist, sondern die Realität des bürgerlichen Lebens, das Verhältnis des Einzelmenschen zu seiner Umwelt “ , 12 scheint die Gattungsbezeichnung „ phantastische Novelle “ 13 durchaus treffend zu sein, obgleich die wundersame Phantastik nicht recht zum Volksmärchen passen will, in dem das Wunderbare von selbstverständlicher Homogenität ist und keinesfalls unterbrochen wird durch erfahrbare Alltagswirklichkeit. Die lange diskutierte Gattungsfrage ist nicht von ungefähr; die Form weist auf einen zeitbedingten und durchaus nicht singulären Zwiespalt. Auffallend die Überhäufung der Märchen-Motive - Taschenzauber, Wunschsäckel, Siebenmeilenstiefel, Tarnkappe - , die den Kontrast zum stringent ökonomisch agierenden und kalkulierenden Personal ungleichgewichtig verschärft. II. Im Herbst 1814 hatte E. T. A. Hoffmann die Geschichte von Peter Schlemihl zugleich mit dessen Autor-Erfinder Chamisso in Berlin kennen gelernt. Eduard Hitzig berichtet darüber in einem späteren Brief vom Januar 1827 an Fouqué: Nie werde ich die Stunde vergessen, in welcher ich es [das Büchlein] Hoffmann zuerst vorlas. Außer sich vor Vergnügen und Spannung, hing er an meinen Lippen, bis ich vollendet hatte; nicht erwarten konnte er, die persönliche Bekanntschaft des Dichters zu machen, und, sonst jeder Nachahmung abhold, widerstand er doch der Versuchung nicht, die Idee des verlorenen Schattens in seiner Erzählung „ Die Abenteuer in der Sylvesternacht “ , durch das verlorene Spiegelbild des Erasmus Spikher ziemlich unglücklich zu variieren. 14 Die Briefstelle wurde zum Anlass längerer literarwissenschaftlicher Diskussionen: Eine Nachahmung? Ein Plagiat? Der „ unglücklich “ gescheiterte Versuch einer Variation? Solche Fragen hielten sich bis zur Jahrhundertwende und provozierten als Antwort ebenso viele Apologien. Man darf es sich versagen, in die über Jahrzehnte geführte Diskussion einzutreten, inwieweit Erasmus Spikhers Geschichte vom verlorenen Spiegelbilde eine epigonale Variante von Peter Schlemihls Geschichte vom verlorenen Schatten ist oder ob es sich, 65 Adelbert von Chamisso und E. T. A. Hoffmann unerachtet der konkreten Anregung durch die Vorlage, um eine selbständige künstlerische Leistung handelt. Sowohl motivhuberische 15 wie beckmesserische Gelehrtheit und Vielwisserei oder Besserwisserei führt immer nur zurück auf den Ausgangspunkt, und die Frage dreht sich im Kreis. Der Erzähler, ein „ reisender Enthusiast “ , erlebt Spikhers Geschichte als „ Abenteuer “ nicht zufällig in der Silvesternacht, aber obwohl in solch exorbitanter Unterbrechung der gewöhnlichen Zeit ungewöhnliche Einbrüche nahe liegen, schildert er seine phantastischen Erlebnisse doch aus distanzierter Reflexion; die Bilder aber werden schärfer und erhalten tiefere Bedeutung. Die in seinem Leben stets wachsame „ feindliche Macht “ , die manchmal auch als „ Teufel “ beschworen wird, heißt nicht ohne Grund „ Dapertutto “ , 16 denn sie lauert ihm „ überall “ auf, besonders in solcher Nacht: Das hoffnungsvolle Wiedersehen mit seiner Geliebten Julia in der Tee- und Punsch-Gesellschaft endet als Fiasko, indem im Augenblick herzlicher Annäherung ihr Ehemann hereintritt, „ eine tölpische spinnenbeinigte Figur mit herausstehenden Froschaugen “ . 17 Des Enthusiasten Flucht aus der philiströsen Silvester-Gesellschaft geschieht Hals über Kopf und endet in einer Kellerkneipe, wo er sich bei einer „ Flasche Stettiner Bier und einer tüchtigen Pfeife guten Tabacks “ abermals sogleich in „ einem sublimen Philistrismus “ 18 befindet. Dieser Philistrismus aber wird unter der Hand zur Folie für nahende ungewöhnliche Ereignisse. Ein Fremder tritt ein, drückt sich „ auf ganz eigene Weise an der Wand entlang “ und fordert „ verdrießlich Bier und Pfeife “ . 19 Ein ganz unscheinbarer Gast, aber bei genauerem Hinsehen, so berichtet der Erzähler, habe er gesehen, „ daß er in eine schwarze Kurtka mit vielen Schnüren gekleidet war, sehr fiel es mir aber auf, daß er über die Stiefeln zierliche Pantoffeln gezogen hatte. Ich wurde das gewahr, als er die Pfeife ausklopfte, die er in fünf Minuten ausgeraucht. “ Noch etwas fällt auf: Der Fremde scheint in die Beschäftigung mit einer ganzen Reihe seltener Pflanzen vertieft. Der Enthusiast zeigt sich verwundert über die Gewächse, die aussehen, als seien sie gerade frisch gepflückt. Interessiert fragt er den Gast, „ ob er vielleicht im botanischen Garten oder bei Boucher gewesen “ 20 sei. Mit einem „ seltsamen “ Lächeln erwidert dieser: „ Botanik scheint nicht eben Ihr Fach zu sein, sonst hätten Sie nicht so “ - mitten im Satz stockt er und als er seinen Satz nach einer beredten Pause fortsetzt, geht dem reisenden Enthusiasten plötzlich auf, wen er vor sich hat: „ und es war mir, als habe ich den Fremden nicht sowohl oft gesehen als oft gedacht “ . 21 In diesem Augenblick klopft es ans Fenster und eine Stimme von draußen bittet, alle Spiegel zu verhängen. Herein tritt „ ein kleiner dürrer Mann “ 22 und es 66 Sechstes Kapitel dauert nicht lange, da hocken die drei zusammen wie eine kuriose vom Teufel gejagte Schicksalsgemeinschaft. Der reisende Enthusiast kommentiert: In dem Maskenspiel des irdischen Lebens sieht oft der innere Geist mit leuchtenden Augen aus der Larve heraus das Verwandte erkennend, und so mag es geschehen sein, daß wir drei absonderliche Menschen im Keller uns auch so angeschaut und erkannt hatten. 23 Selbstverständlich kommen die drei ins Gespräch und während sich der Leser nun natürlich fragt, worüber sie wohl gesprochen haben mögen, antwortet der Erzähler sogleich ohne Umschweife, ihr Gespräch sei „ in jenen Humor “ gefallen, „ der nur aus dem tief bis auf den Tod verletzten Gemüte “ komme. Auf den Einwand des „ Großen “ , dies habe aber auch seinen „ Haken “ , erwidert der Enthusiast wissend: „ wie viel Haken hat der Teufel überall für uns eingeschlagen, in Zimmerwänden, Lauben, Rosenhecken, woran vorbeistreifend wir etwas von unserm teuern Selbst hängen lassen. “ 24 Alles hat einen Haken - das scheint gleichsam das Leitmotiv des Erzählers zu sein, vielleicht sogar des Autors. Aber zunächst eine andere Frage: Peter Schlemihls Geschichte ist bekannt, seine Kurtka ist sein verräterisches Reisekostüm, seine Enttarnung deshalb für den reisenden Enthusiasten keine Schwierigkeit. Wer aber ist der Kleine, der eine panische Angst hat vor blinkenden Spiegeln? Die Geschichte steht noch aus - der reisende Enthusiast erfährt sie alsbald im Hotelzimmer, wo der in seiner Nachtruhe gestörte „ Kleine “ ihm seine Geschichte schriftlich hinterlässt, und überliefert dessen vermutlich subjektiven Ich-Bericht in einer objektiven Er- Geschichte, um damit seine vermeintliche Distanz zu einer selbstquälerischgespaltenen Persönlichkeit zu dokumentieren. Erasmus Spikher, so der Name des Kleinen, ist verheiratet, eine „ liebe fromme Hausfrau “ 25 sorgt für sein häusliches Wohl und für seinen kleinen Sohn Rasmus. Aber Spikher ist auch ein Künstler und darf sich „ endlich “ seinen lebenslangen Wunsch erfüllen, „ mit frohem Herzen und wohlgefülltem Beutel “ 26 nach Italien zu reisen. Aber Italien ist nicht nur oder nicht mehr das Land, wo die Zitronen blühn, sondern auch „ das Land der Liebe “ , 27 wie der Erzähler bemerkt. Manche Früchte aber können durchaus auch gefährlich sein. So gerät Spikher denn auch inmitten einer feuchtfröhlichen Garten-Gesellschaft an ein „ wunderherrliches Frauenbild “ . 28 Der Auftritt der schönen Dame fällt auf durch ihre Aufmachung: „ Das weiße, Busen, Schultern und Nacken nur halb verhüllende Gewand “ 29 heischt wohl seine Aufmerksamkeit, aber mehr noch, dass in ihrer Nähe stets in 67 Adelbert von Chamisso und E. T. A. Hoffmann gleichsam zuhälterischer Aufdringlichkeit eine „ seltsame Figur “ geschäftig ist, „ ein langer dürrer Mann mit spitzer Habichtsnase, funkelnden Augen, hämisch verzogenem Munde im feuerroten Rock mit strahlenden Stahlknöpfen “ . 30 Schlemihls grauer Herr hat seine Garderobe gewechselt, und hier endlich wird er vorgestellt mit seinem sprechenden Namen: Dapertutto! Signor Dapertutto ist es denn auch, der Spikher in Giuliettas Arme führt, und aus ihrem Munde hört er bei seinem Abschied die verhängnisvolle Bitte: „ Laß mir dein Spiegelbild du innig Geliebter, es soll mein und bei mir bleiben immerdar. “ 31 Spikher, nicht wenig verwundert ob dieser seltsamen Bitte, zögert eine Weile: Giulietta aber verstärkt die Beschwörung: „ Nicht einmal [. . .] diesen Traum deines Ichs, wie es aus dem Spiegel hervorschimmert, gönnst du mir, der du sonst mein mit Leib und Leben sein wolltest? “ 32 Und nun ist es um Spikher geschehen: während „ allerlei häßliche Stimmen meckerten und lachten in teuflischem Hohn “ , 33 darf er zusehen, wie sein Spiegelbild, sein „ schimmerndes Traumich “ , 34 wie Dapertutto es später hohnvoll nennt, in Giuliettas Arme gleitet. Auf seiner Heimreise erlebt Spikher nicht nur Spott und Hohn, sondern auch polizeiliche Verfolgung. Und obwohl er, endlich zu Hause angekommen, seinem entsetzten Weibe weismachen will, dass „ jedes Spiegelbild doch nur eine Illusion sei, Selbstbetrachtung zur Eitelkeit führe und noch dazu ein solches Bild das eigne Ich spalte in Wahrheit und Traum “ , 35 ist sie nicht zu beruhigen. Im Augenblick seiner tiefsten Verzweiflung ist plötzlich Dapertutto wieder da mit einem verführerischen Angebot: Giulietta „ ist gar nicht weit von hier und sehnt sich erstaunlich nach Ihrem werten Selbst, Verehrter, da doch, wie Sie einsehen, ein Spiegelbild nur eine schnöde Illusion ist. “ 36 Frau Spikher kann sich am Ende nicht mehr an einen Ehemann ohne Spiegelbild gewöhnen und wirft den verzweifelnden Erasmus mit einer schönen Abschiedsrede aus dem Haus: Der kleine Rasmus saß schon ganz munter auf ihrem Bette; sie reichte dem erschöpften Mann die Hand, sprechend: „ Ich weiß nun Alles, was dir in Italien schlimmes begegnet und bedauere dich von ganzem Herzen. Die Gewalt des Feindes ist sehr groß und wie er denn nun allen möglichen Lastern ergeben ist, so stiehlt er auch sehr und hat dem Gelüst nicht widerstehen können, dir dein schönes vollkommenes Spiegelbild auf recht hämische Weise zu entwenden. - Sieh doch einmal in jenen Spiegel dort, lieber guter Mann! “ Spikher tat es am ganzen Leibe zitternd mit recht kläglicher Miene. Blank und klar blieb der Spiegel, kein Erasmus Spikher schaute heraus. „ Diesmal “ , fuhr die Frau fort, „ ist es recht gut, daß der Spiegel dein Bild nicht zurück wirft, denn du siehst sehr albern aus, lieber Erasmus. Begreifen wirst du aber übrigens wohl selbst, daß du ohne Spiegelbild ein Spott der Leute bist und kein ordentlicher vollständiger 68 Sechstes Kapitel Familienvater sein kannst, der Respekt einflößt der Frau und den Kindern. Rasmuschen lacht dich auch schon aus und will dir nächstens einen Schnauzbart malen mit Kohle, weil du das nicht bemerken kannst. Wandre also nur noch ein bißchen in der Welt herum und suche gelegentlich dem Teufel dein Spiegelbild abzujagen. Hast du ’ s wieder, so sollst du mir recht herzlich willkommen sein. Küsse mich (Spikher tat es) und nun - glückliche Reise! Schicke dem Rasmus dann und wann ein Paar neue Höschen; denn er rutscht sehr auf den Knien und braucht dergleichen viel. Kommst du aber nach Nürnberg, so füge einen bunten Husaren hinzu und einen Pfefferkuchen als liebender Vater. Lebe recht wohl, lieber Erasmus! 37 Und Spikher? Er hebt seinen Sohn in die Luft und umarmt ihn. Als der Kleine aber erschreckt anfängt zu schreien, setzt er ihn wieder herab und verlässt die Familie, um den Rat seiner Frau zu befolgen und in die Welt hinaus zu ziehen. Die Frage, wohin genau er geht, bleibt unbeantwortet, es sei denn, man interpretiert den Schluss seiner Geschichte bzw. den Kommentar des Erzählers als Antwort. Dort heißt es: Er traf einmal auf einen gewissen Peter Schlemihl, der hatte seinen Schlagschatten verkauft, beide wollten Compagnie gehen, so daß Eramus Spikher den nötigen Schlagschatten werfen, Peter Schlemihl dagegen das gehörige Spiegelbild reflektieren sollte, es wurde aber nichts daraus. 38 III. Chamisso und Hoffmann - beide werden als Autoren direkt von ihren Erzählern mit Namen angesprochen: Der reisende Enthusiast gibt zwar vor, beim Blick in den Spiegel an seiner eigenen Wirklichkeit zu zweifeln, aber indem er sich fragt, ob wohl gar Julia-Giulietta in jener Silvesternacht ein „ Himmelsbild “ oder „ Höllengeist “ sei, beschwört er zugleich mit dem Namen Julia einen biographischen Bezug des Autors. Hinwiederum weiß er nicht recht, ob „ jenes verführerische Frauenbild von Rembrandt oder Callot war “ . 39 Der reisende Enthusiast scheint immerhin ein höchst reflektierter Repräsentant der serapiontischen Grenzsituation zu sein und weiß sich geschickt zwischen Wahnsinn und Philistrismus zu bewegen. Aber während er seine Mystifikation als bewusstes Spiel mit der „ Duplizität “ treibt, ist Erasmus Spikher ein ernster Fall und der kundige Leser fragt sich: Ist er ein Künstler oder ein Dilettant, ein Abenteurer oder Stubenhocker, ein Spinner oder Spießer, ein armer Teufel oder Räsoneur, ein Taugenichts oder der Dummling aus den Märchen? 69 Adelbert von Chamisso und E. T. A. Hoffmann Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm waren kurz zuvor 1812 erschienen. In ihren wie immer redaktionell stilisierten Volks-Märchen kommt der Weltenwanderer - meist ist es der Jüngste, der einfältige, aber gutherzige Dummling - immer ans Ziel, findet dort seine Prinzessin und gewinnt ein Königreich. Peter Schlemihl und Erasmus Spikher, die sich beide gleichfalls durch eine gewisse einfältige Gutherzigkeit auszeichnen, haben weder ein Ziel, noch finden sie eine Prinzessin oder gar ein Königreich; der eine endet als naturwissenschaftlicher Höhlenmensch in der Thebaischen Wüste, der andere wandert mutterseelenallein und ziellos in die „ weite Welt “ , und es sieht nicht so aus, dass ihm „ Gott will rechte Gunst erweisen “ , wie später dem Taugenichts des katholischen Freiherrn von Eichendorff. Fast hat es in der Tat den Anschein, als seien die beiden Novellen-Märchen ein resignativer Widerspruch gegen die utopische Märchen-Romantik. Die Frage, wie die Figuren Schlemihl oder Spikher und vor allem der Verlust ihres Schattens oder Spiegelbildes sachgerecht zu interpretieren seien, stellt sich mit Ernst an dieser Stelle. Aber es soll die kaum noch übersehbare Reihe von Interpretationen durchaus nicht fortgesetzt, sondern allenfalls gestreift werden mit dem Hinweis: jede allegorisierende Deutung mit ihrer Tendenz zur Fixierung einer Antwort ist eine unerlaubte Verengung, denn es handelt sich bei beiden Motiven um zwar höchst bedeutsame, aber unausdeutbare und mit vielen Andeutungen befrachtete Symbole, die nur mit Vorsicht zu umschreiben sind. Diese Vorsicht gilt auch bei der Interpretation der anderen Volksbuch-Motive. Das Motiv vom Glückssäckel, das auf spielerische Weise unbegrenzten Reichtum schenkt, ist weit verbreitet als Wunsch-Motiv des Volkes 40 - oder soll man sagen des frühen Bürgertums? Schlemihl erwirbt später bei einem mysteriösen Kauf noch die Siebenmeilenstiefel und ist nun ein reicher und freier Mann. Das Märchen-Motiv der Siebenmeilenstiefel als Ausdruck für den Wunsch nach Mobilität erscheint - ähnlich wie das Motiv des Wunschhütleins - gleichfalls recht früh im Volksbuch und mag symptomatisch sein für einen sich regenden Willen zur Emanzipation im Volke oder im frühen Bürgertum, vielleicht sogar für eine bereits beginnende, wenn vorerst auch nur imaginäre Selbstbefreiung. Und es mag durchaus richtig sein, wenn gefolgert wird: „ Zumindest in diesem fiktiven Sinn haben die volkstümlichen Motive des Glückssäckels und der Stiefel eine emanzipatorische Bedeutung. “ 41 Die soziologisierende Interpretation lässt sich unschwer fortsetzen: Schlemihl zieht am Ende Bilanz, als er erfährt, dass er den Ozeanischen Archipel über 70 Sechstes Kapitel das große Wasser nicht erreichen kann: „ Oh mein Adelbert, was ist es doch um die Bemühung der Menschen! “ 42 Und als er endlich nach einer längeren Erkältungskrankheit „ nach Hause kommt “ , das heißt in seine „ Höhle der Thebais “ , 43 will er dort zusammen mit seinem Pudel Figaro den Rest seines Lebens mit naturwissenschaftlichen Forschungen verbringen. Dazu aber muss er die weit ausschreitende Unruhe seiner Weltenwanderung mäßigen durch ein paar Hemmschuhe, die er als Pantoffeln über die Stiefel zieht. Der Leser wird nachdenklich: Pantoffeln sind nicht durchaus ein Märchen-Requisit, sondern assoziieren auf peinliche Weise ein biedermeierliches Philistertum. Und wenn sein Haus auch eine Thebaische Wüstenhöhle und sein Tun sublimate Forschungsarbeit eines publizierenden Gelehrten ist, ist dieser Hieronymus in seinem Wüstengehäuse kein Heiliger oder Märtyrer seiner Religion, sondern ein unglückliches Opfer seines Leichtsinns in einer von Normen der Gewohnheit dirigierten erbarmungslosen Gesellschaft. Schlemihl hat mit seinem Schatten - wie auch Spikher mit seinem Spiegelbild - mit der Befriedigung des leichtfertigen, die Normen missachtenden Wunsches sein „ Selbst “ verloren, seine Identität. Und wenn sie auch beide die „ weite Welt “ gewonnen haben, so haben sie doch - so möchte man das variierte Bibelzitat endigen - Schaden genommen an ihrer Seele! Aber eben das haben sie nicht! Beide haben sie dem grauen Herrn alias Dapertutto widerstanden. Dennoch hat der Verlust des Schattens oder des Spiegelbildes sie um ihr Heimatrecht in der bürgerlichen Gesellschaft gebracht. Als der Globetrotter Schlemihl am Ende spürt, dass seine Kraft schwindet, hat er immerhin „ den Trost, sie an einen Zweck in fortgesetzter Richtung und nicht fruchtlos verwendet zu haben “ , aber die Bescheidung ist ebenso rührend wie wunderlich, weil seltsam widersprüchlich: Der Aufbruch frühromantischer und naturphilosophischer Hoffnung, getragen von universalpoetischer Progressivität und identitätsphilosophischer Selbst-Sicherheit ist wie eine Illusion zerplatzt, und die vom poetischen Ideal dominierte Utopie ist mutiert, konvertiert oder pervertiert zur naturwissenschaftlichen Experimental-Botanik jenseits der realen Gesellschaft. Schlemihl wie Spikher, beide haben alle realen Begrenzungen transzendiert und befinden sich in einer ab-soluten Freiheit; aber ob naturwissenschaftlich forschend oder umgetrieben von unglücklicher Liebe, sie vagabundieren in einem verantwortungslosen Freiraum. Für Walter Benjamin figuriert Peter Schlemihl den Typus des Erfolglosen, er ist sozusagen der unpolitische Mitläufer oder Wegläufer: „ Erfolglosigkeit bei Preisgabe jedweder Überzeugung. Geniefall der Erfolglosigkeit: Chaplin oder der Schlemihl. - Der Schlemihl nimmt an nichts Anstoß; er stolpert nur über 71 Adelbert von Chamisso und E. T. A. Hoffmann seine eigenen Füße. Er ist der einzige Friedensengel, der auf die Erde paßt. “ 44 Schlemihl als „ Friedensengel “ ? Wie ist das Wort zu verstehen? Ironie? Schlemihl als die Repräsentationsfigur purer Resignation oder Indifferenz; sogar sein Pazifismus wäre die Nicht-Tat purer Gleichgültigkeit. Seine Passivität, der alles gleich-gültig ist und somit zugleich ungültig sein kann, ist jenes ideologische oder gesellschaftliche Vakuum, das für alles offen ist, auch für den Putsch der erstbesten hinterwäldlerischen Philister. Es hat den Anschein, als hätte Benjamin mit dem deutschen Schlemihl der zwanziger Jahre die Zukunft fixiert im Schlemihl-Deutschland. Aber hätte er nicht auch sprechen können von einem selbst-vergessenen und traumblinden Spikher in einem Spikher- Deutschland? Der romantische Idealismus scheint übersetzt in einen politischen Kosmopolitismus, aber in Ermangelung eines konkreten Zieles droht der poetische oder naturwissenschaftliche Elan sich zu verlieren in einen ateleologischen Nihilismus. Die frühromantische Setzung auf die Autonomie der Kunst und auf die poetische Existenz in einer poetisch verwandelten und verklärten Welt erfährt ein erschütterndes Echo: Die Weltveränderer desillusionieren sich als Weltenwanderer und unglückliche Globetrotter ohne Ziel, ohne Telos, ohne teleologische Relevanz; ihr Ziel liegt nicht einmal im Ungefähren einer kreativen Phantasie, es ist schlechterdings nicht vorhanden, es ist das pure Nichts. Darüber, dass Schlemihls Forschungsarbeit in nichts anderem besteht „ als mit Siebenmeilenstiefeln die Welt nach Moosen und Flechten zu durchstreifen “ , 45 spöttelte schon ein früher Rezensent. Dass mit seinen Goldtalern am Ende das Hospiz Schlemihlium erbaut worden ist, mag ihm selbst ein Trost und dem Interpreten ein humanistisch zu deutendes Zeichen sein. Seine naturwissenschaftliche Arbeit in seiner Höhle mag schließlich als Pol der in sich ruhenden Selbst-Zufriedenheit erscheinen - bei Hoffmann übrigens ist er wieder auf der Wanderschaft und hockt für eine Pfeifenlänge und für eine Kanne Bier in einer Berliner Kellerkneipe. IV. Man möchte am Ende fragen: Haben die zeitgenössischen Leser nicht bemerkt, dass die spätromantischen Poeten das einst hohe Ziel aus den Augen verloren haben? Doch, sie haben es bemerkt. Einer dieser Leser war Clemens Brentano. Und Brentano hatte ein sehr feines Gespür für die zutiefst verborgene Intention der Spikher-Geschichte. Das Spiegel-Symbol hatte er ohne Bedacht häufig genug in seinen Dichtungen 46 verwendet und war von den Spiegel-Verhei- 72 Sechstes Kapitel ßungen der Kunst zutiefst enttäuscht worden; umgehend schrieb nun der von den Gefühlen der Reue und Schuld geplagte und vor seiner Generalbeichte stehende Dichter in einem nicht abgesandten Brief an E. T. A. Hoffmann: Etwas drängt es mich, vor allem zu sagen, nämlich ich gratuliere Ihnen mit Erstaunen, daß es Sie alles dies zu sagen drängte [. . .] Denn stellen sie sich vor, ich möchte die Lichter ausputzen, meinen Schatten nicht zu sehen, die Spiegel verhängen, das Spiegelbild nicht zu erblicken; und dieser Schatten, dieses Spiegelbild von mir in Ihrem Buche hat mich darum oft geängstigt; weswegen ich nicht begreifen kann, daß Sie das Ihre selbst darin sehen und zeigen mochten. Seit längerer Zeit habe ich ein gewisses Grauen vor aller Poesie, die sich selbst spiegelt und nicht Gott. 47 Brentano nimmt nicht nur beiläufig Bezug auf Hoffmanns Geschichte vom verlorenen Spiegelbilde, auf das traurige Schicksal des zwischen Traum und Wachen, zwischen Enthusiasmus und Ernüchterung, zwischen Phantasie und Alltäglichkeit schweifenden Erasmus Spikher, vielmehr reizt es ihn, die Geschichte neu zu schreiben und mit einem guten Ende zu versehen. Brentano im gleichen Brief: Lieber Hoffmann, warum haben Sie den armen Spiecker seine Unschuld nicht wieder finden lassen, und zwar durch Jesum? Ich möchte schier Ihr Werk ausführen, wenn die gute Laune darin nicht wie ein Maulwurf um die Tiefe spielte. Und Brentano hat sein Spiegelbild gefunden, wie er weiter schreibt: Fromme Eltern, alte Diener mahnen die Kinder oft, nicht so mit dem lieben Brot zu spielen; das liebe Brot nicht auf den Rücken zu legen, ist ein altes Gesetz frommer Tischzucht, und als es zuerst aufkam, sich mit Brotkugeln nach Tisch zu werfen, trat eine Hungersnot ein. Ich habe vor solchen tiefen Sittengesetzen Scheu gehabt in der Jugend, ich habe diese Scheu mit dem Spiegelbild verloren, ich habe das Spiegelbild wieder und die Scheu, aber der Spiegel hat die Folie verloren, er ist durchsichtig. 48 Was Brentano meint, ist deutlich, und seine Gedanken lassen sich unschwer weiterführen: Der Spiegel reflektiert nicht die Wahrheit, sondern den „ Traum des Ichs “ , und dieser Traum führt nicht etwa über die Grenzen irdischer Befangenheit hinaus, sondern in sie hinein, hinein in den narzißhaften Selbstgenuss, wie immer dieser sich sublimieren mag in der Kunst oder in der Philosophie oder gar in der Religion. Ein Mensch ohne Spiegelbild ist, ebenso wie ein Mann ohne Schatten, wesenlos - man beachte, dass der Spiegel im Nordfriesischen schemstin heißt, das ist: Schattenstein! Mit dem Schatten erst ist die Fülle des Lebens und des Wesens gegeben, das Bewusstsein des Ich, 73 Adelbert von Chamisso und E. T. A. Hoffmann das Mit-wissen um sich selbst, das Ge-wissen. Wesenlos zu sein aber heißt seinslos zu sein, ganz und gar geworfen zu sein auf seine unreflektierte Erscheinung, gänzlich verbannt in sein wie immer genussreiches Dasein - verfallen dem Geist dieser Welt, dem Herrn Dapertutto. Brentano hat seine negative Kunst-Konfession in der Folge des Öfteren wiederholt, entschieden trennt er hinfort Kunst und Religion voneinander; in einem Brief an Johann Friedrich Böhmer im Jahre 1824 schreibt der gealterte Dichter: Fern sei es von mir, die Kunstspiegel unserer schöpferischen Abkunft zu verachten, aber noch ferner sei es von mir, die Weissagungen des Satans: eritis sicut Deus! in diesen Spiegeln zu feiern. [. . .] und so muß denn auch jeder Kunstspiegel ein Spiegel der Finsternis sein, der andere spiegelt als den Weg, das Licht und die Wahrheit. Alles aber, was dies nicht ist, was ableitet, hinhält, verlockt von ihm hinweg, in der Kunst wie im ganzen Leben, sei fern von mir und Ihnen, denn es ist des Teufels Versuchung. 49 Dass Brentano den Spiegel des Geistes rein erhalten wollte, geht am deutlichsten hervor aus der Chronika und der dort beschriebenen Spiegel-Seele Pelagia, jener von Gottfried Arnold und Jakob Böhme verehrten und in der Nachfolge der Jungfrau Sophie stehenden, weltentrückt und unbefleckt Gott spiegelnden Künstler-Seele - ob er es vermocht hat, bleibt eine offene Frage. Eines aber ist sicher. Die in der Spiegel-Kunst sich vermittelnde analogia entis ist zerstört, der Spiegel hat einen Sprung oder ist zerscherbt oder „ hat die Folie verloren, er ist durchsichtig “ . Hegel hat diesen Riss zwischen Kunst und Wahrheit - übrigens nicht zufällig ein Modewort der Zeit! - sehr wohl konstatiert und auf seine Weise beschrieben: Sonst hatten sie einen Himmel mit weitläufigem Reichtume von Gedanken und Bildern ausgestattet. Von allem, was ist, lag die Bedeutung in dem Lichtfaden, durch den es an den Himmel geknüpft war; an ihm, statt in dieser Gegenwart zu verweilen, glitt der Blick über sie hinaus, zum göttlichen Wesen, zu einer, wenn man so sagen kann, jenseitigen Gegenwart hinauf. 50 Wie Schlemihl seinen Schatten für das Glückssäckel getauscht und seine bürgerliche Heimstatt an das schnelle und trügerische Geld verloren und Spikher sein häusliches Ich bei einer Courtisane eingebüßt, so hat Brentano sein Seelenheil mit dem Gaukelspiel der Kunst vertan. Der graue Herr namens Dapertutto verspricht in allen Fällen ein Übermaß an Sein, bietet aber nichts als schönen Schein. Der Selbstverlust, wie immer bedingt durch singuläre Relationen der Epoche, fällt im Grunde unter das generelle Stichwort der Entfremdung. 74 Sechstes Kapitel Es scheint am Ende weniger wichtig, an welchem „ Haken “ des grauen Herrn Dapertutto „ wir etwas von unserm teuern Selbst hängen lassen “ , an wen oder was der Mensch sein Selbst vergibt, verkauft, verliert oder verschwendet, ob an kapitalen Reichtum durch das Geld, an erotischen oder sexuellen Reichtum durch die Liebe oder an ästhetischen Reichtum durch die Kunst - die Reihe ließe sich unendlich variieren - wichtig ist der Verlust überhaupt des Selbst. Schatten und Spiegelbild sind gewiss keine Allegorien der Seele, aber wohl doch Symbole für das Angeld des eigentlichen Seins - oder des Nichts. 75 Adelbert von Chamisso und E. T. A. Hoffmann S IEBTES K APITEL F RIEDRICH DE LA M OTTE F OUQUÉ : E INE G ESCHICHTE VOM G ALGENMÄNNLEIN (1810) ODER : „ MEINE S EELE HAT ER OHNEHIN “ Die Märchen verheißen mit ihrem Wunder-Gold und Wunsch-Geld seit eh und je Glanz und Glück. Lange bevor der Kapitalien-Markt sich etablierte, kannte man im Abendland die orientalischen Märchenschätze von Scheherazades Erzählungen aus Tausend-und-eine-Nacht, etwa Aladins Wunderlampe und Ali Babas Gold- und Juwelen-Erbschaft aus der Räuberhöhle. 1 Seit Basiles Pentamerone vom siebzehnten Jahrhundert 2 ist der Gold-Esel allbekannt, der, dem Befehl des Tölpels Antuono „ arre cacaure “ aufs Wort gehorchend, hinten und vorne Goldstücke auswirft. Clemens Brentano, der den italienischen Pentamerone besaß und übersetzte 3 bzw. für seine seit etwa 1800 geplante Märchensammlung bearbeitete, bescherte seinem Dummling Dilldapp auf dessen Ruf „ aure cacaure “ den gleichen Goldsegen von seinem Esel. 4 Wenige Jahre zuvor hatte schon Johann Karl August Musäus in seinem Märchen Rolands Knappen den Heckepfennig zu Ehren gebracht, der sich unter der Hand in Dukaten und Taler verwandelte. 5 Bekannt aber wurde der Gold-Esel-Reichtum durch die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, die allerdings den nicht gesellschaftsfähigen Imperativ „ cacaure “ durch das unverfängliche Wort „ Bricklebitt “ ersetzten. Aber bereits Jahrhunderte zuvor hatte das nie versiegende Goldsäckel des Fortunatus die Phantasie des armen Volkes erregt, und die Münzen stachen auch den gehobenen Schichten des Volkes in die Augen. Einer von ihnen hieß bekanntlich Peter Schlemihl. Von einem Teufel im Kostüm eines „ grauen Herrn “ überredet, ließ er sich in den Verkauf seines Schattens ein, bekam dafür das Goldsäckel eingehändigt, wurde zwar ein reicher Mann, aber seines Lebens nicht mehr froh. Es blieb ihm am Ende nichts als die Flucht in die weite Welt, und der unselige Schlemihl wurde zum heimatlosen Weltenwanderer. Da also ein Teufel bei dem Goldsegen und hinterlistigen Goldhandel offensichtlich die Finger im Spiel hat, liegt seit eh und je die Frage nahe, ob oder wie er wohl zu überlisten oder gar zu fangen wäre. Das Motiv vom gefangenen und dienstbaren Dämon, das in der Tat seit archaischen Zeiten bis hinein in die christliche Epoche und bis in die Gegenwart in zahllosen Geschichten und Schwänken wiederkehrt, deskriptiv zu verfolgen und die Varianten als Monographie zu dokumentieren, ist ein Desiderat und wäre eine lohnende Arbeit. 6 Indessen ist die Frage mindestens ebenso aufschlussreich, ob in den gattungsbedingten Wandlungen des Motivs vom Märchen zur Novelle sich nicht auch ein epochenbedingtes Phänomen des sich wandelnden Bewusstseins verrät, wodurch auch das Verhältnis vom märchenhaften Gold zum ökonomischen Geld zur bedeutsamen Komponente würde. Das Pentamerone-Märchen vom Gold-Dukaten kackenden Esel scheint in den Kinder- und Hausmärchen noch ein letztes Mal „ von selbst “ gut auszugehen. Aber es überrascht bei der Nachzeichnung dieser Szene ein dort in Klammern erscheinender Kommentar des Erzählers(! ) bzw. des Autors: „ Ich sehe dir ’ s an, du wärst auch gerne dabei gewesen. “ 7 Obwohl die prismatische Brechung des alten Motivs durch den Erzähler-Kommentar aufschlussreich ist, wird die im Wort „ cacaure “ beschworene Nähe von Gold und Kot kaschiert und bleibt dem Ende des Jahrhunderts, angeregt durch Freuds Psychologie, vorbehalten. In der Zwischenzeit aber hat der erzählende oder der erlebende Protagonist seine liebe Not mit den hinter den Dukaten agierenden dämonischen Mächten, um mit dem Metagonisten fertig zu werden. Es bedarf nicht nur märchenhafter Tricks, um den sagenhaften, legendären oder wie immer kostümierten, in Wahrheit aber dummen Teufel in ein Astloch oder in eine Flasche zu verbannen, sondern berechnender oder rechnerischer Künste und Pläne und höchst vorsichtiger Überlegungen. Es ist eine lohnende Frage, ob das genuin volkstümliche Motiv bzw. Thema sich überhaupt zum Märchen oder hinfort besser zur Novelle eignet oder zur Vereinigung beider gegensätzlicher Gattungen. Eine kurze Vorstellung ausgewählter Paradigmen ist angezeigt. Im Jahre 1810 erscheint in der Zeitschrift Pantheon in Leipzig eine Erzählung mit dem verräterischen Titel Eine Geschichte vom Galgenmännlein. 8 Der Kenner bzw. Leser von Grimmelshausens Simplizianischen Schriften könnte Bescheid zu wissen meinen. Es geht wohl um eine Variante von Simplizissimi Galgenmännlein von 1668 oder um eine Geschichte aus der Landstörtzerin Courasche von 1670. Die Geschichte handelt also von einer Teufelsbündnerschaft. Ein teuflischer Kobold in einer Flasche zaubert wunschgemäß jedem glücklichen Besitzer beliebige Mengen Gold und Geld herbei - allerdings um den Preis seiner Seele. Es ist auch hier in der Tat so. Fouqué aber verlegt seine Geschichte vom Galgenmännlein bezeichnenderweise in die Handelsmetropole Venedig. Konkrete und zudem kommentierte Raum- und Zeit-Kulissen werden sichtbar: Venedig als „ berühmte welsche Handelsstadt “ , die mit ihrem offenen Hafen schon immer das Einfallstor war für orientalisches Abenteurertum und 77 Friedrich de la Motte Fouqué: Eine Geschichte vom Galgenmännlein Kulturgut, nicht zuletzt für die Märchen und Geschichten aus Tausend-undeine-Nacht, wird nun Schauplatz für das Abenteuer eines abendländischen Handelsmannes. Ein „ junger deutscher Kaufmann “ tritt auf. Sein sprechender Name „ Reichard “ weist ihn aus als vermögend. Zwar haben ihn nur „ Geschäfte “ nach „ Welschland “ gerufen, aber er scheint auch froh, der „ mannigfachen Unruhe [. . .] des Dreißigjährigen Krieges “ für eine Weile zu entkommen. Er weiß vom Hörensagen, dass es dort viele Annehmlichkeiten des Landes gäbe, „ ganz köstlichen Wein “ , die „ wohlschmeckensten Früchte “ , „ viele wunderschöne Frauen “ , „ von welchen er ein absonderlicher Liebhaber war “ . Und der für das südliche Abenteuer offene junge Mann wird von einem Gondoliere sogleich auf ein Haus schöner Frauen aufmerksam gemacht, merkt aber erst nach seinem Besuch, als ihm „ das Fräulein fünfzig Dukaten “ abfordert, dass er in ein kostspieliges Bordell geraten ist. Der „ fröhliche Bursch “ erlebt scheinbar, wie auffallend häufig in Märchen und Novellen, seine etwas verspätete Adoleszenz-Krise, und obwohl ein gut situierter bürgerlicher Kaufmann, scheint er umgetrieben von unbefriedigten heimlichen Wünschen und begierig nach kompensatorischen Genüssen. 9 Mit seinem Reichtum indessen ist es bei dem Jüngling wohl doch nicht sonderlich gut bestellt, denn sehr bald nach den Vergnügungen mit einer betrügerischen Courtisane namens Lukrezia und mit weinseligen Freunden „ begann ihm das Geld auszugehen, und er mußte mit großer Betrübniß daran denken, daß ein so unerhört vergnügliches Leben nun bald für ihn ans Ende kommen müsse. “ 10 Aber im Augenblick seiner tiefsten „ Trübseligkeit “ 11 verhilft ihm ein hispanischer Hauptmann aus seiner Geldnot: Er bietet ihm ein Fläschchen an, in dem ein Teufelchen im Dienste seines „ Herrn Luzifer “ 12 erbötig ist, seinem Besitzer auf einen Wink alles zu beschaffen, „ was er sich nur Ergötzliches im Leben wünschen mag, vorzüglich aber unermeßlich vieles Geld. “ 13 Sein kaufmännischer Sinn kann nicht widerstehen, er kauft das Fläschchen mit dem darin herumhüpfenden Figürchen, macht sogleich die Probe aufs Exempel und der Handel stimmt: Der kleine tänzelnde Flaschenkobold zaubert ihm auf der Stelle beliebiges Wunschgeld in die Tasche, sodass er hinfort mit Stolz sagen kann: „ Reichard ist mein Name, und mein Reichtum ist so hart, daß ihm keine Ausgabe den Kopf einzustoßen vermag. “ 14 Es ist nicht weiter verwunderlich, und der junge Kaufmann weiß es, dass bei einem solchen Handel Luzifer sich die Seele als Einsatz ausbedingt, er weiß, dass der Kaufpreis zwischen den Handelspartnern deshalb so niedrig ist, weil das Fläschchen, das immer billiger weiterverkauft werden muss, bei einem letzten Käufer hängen bleiben wird, und dieser verfällt umso sicherer der Hölle. 78 Siebtes Kapitel Der Kaufmann Reichard hat das ebenso billige wie bedenkliche Geschäft wohl nicht hinreichend ernst genommen. Er meinte, das Fläschchen zeitig genug ebenso billig oder billiger losschlagen zu können. Aber er wird unruhig und nervös, als nach mehreren kaufmännisch unkorrekten Versuchen das Fläschchen immer wieder in seine Tasche zurückkehrt. In Reichards unselig wechselnden Schicksalsläuften - von der tückisch berechnenden Courtisane Lukrezia mehrmals betrogen, verraten und endlich verlassen, von seinem wachsamen Hausarzt klug übervorteilt, und von lumpigen Hausierern, trinkfesten und spiellüsternen Soldaten dummdreist übers Ohr gehauen - ist der Kaufpreis zusehends gesunken: Von ursprünglich zehn Dukaten, von ihm selbst damals leichtfertig heruntergehandelt auf fünf Dukaten, sind es später nach häufig missglückten Verkaufsversuchen nur noch vier, dann drei Dukaten, schließlich sind es nur mehr Groschen und am Ende Heller, Halbheller und Drittelheller. Als ihn eine schwere Krankheit nicht nur nahe an den Tod, sondern in fiebrig-heißen Nächten an den Rand der Hölle führt, weiß der Genesende plötzlich: Eile ist geboten! Und nach einer höchst marktfremden Selbstüberwindung weiß er noch mehr: Der immer kalkulierende und stets am Gewinn interessierte Geschäftsmann muss plötzlich unter dem Einkaufswert verkaufen, muss die kapitalorientierte Profitmaximierung in Profitminimierung verwandeln. Und weil ihm solch eine Geschäftspraxis nicht geläufig, beginnt nun eine nicht enden wollende, mit List und Betrug gewürzte Schacherei und steigert sich umso mehr, weil ein so billig zu erwerbendes Fläschchen Argwohn und Spott erregt. Nachdem alle Geschäfte misslungen sind, das Teufelchen immer wieder zu ihm zurückgekehrt ist und der Kaufpreis in der Tat nur eben einen Halbheller beträgt, erntet der einst reiche welsche Kaufmann die Bezeichnung dieser Münze als Spottnamen. Der Leser fragt sich längst, wie solch ein fatales Teufelsbündnis endet. Er erinnert sich an die Kinder- und Hausmärchen, in denen schon die Brüder Grimm in einem Märchen mit dem bezeichnenden Titel Der Geist im Glase ein solches Teufelchen vorstellten. Ein armer Holzhackerbube verhilft einem Astloch- oder Wurzel-Geist zur Befreiung bzw. zur Erlösung und erhält dafür wunderbare Heilmittel, die er später als Mediziner anwenden wird und als Arzt „ der berühmteste Doktor auf der ganzen Welt “ wird. 15 Reichard wird seinen diabolischen Assistenten am Ende überraschenderweise tatsächlich auch los, aber der geschürzte Knoten löst sich weniger auf wunderbare als vielmehr auf wunderliche Weise: Ein rot gekleideter Reiter sucht und findet den vielberufenen, inzwischen herumirrenden „ Halbheller “ irgendwo im Gebirge und bietet ihm seine Hilfe an: Freimütig erzählt der Rote ihm 79 Friedrich de la Motte Fouqué: Eine Geschichte vom Galgenmännlein sein Anliegen. Er habe einst seine Seele dem Teufel „ für hunderttausend Goldstücke des Jahrs “ verschrieben, und weil der „ Knauser “ nicht mehr geben will, wolle er „ dem alten Geizhals zum Possen “ das Fläschchen kaufen. Denn schau, meine Seele hat er ohnehin, und nun kommt das Teuflein in der Flasche dermaleinst ohne allen Gewinst in die Hölle, nach seiner langen Dienstzeit zurück. 16 Hoch im Gebirge am Schwarzbrunnen, jenseits einer furchterregenden Höhle, wird der Handel aber nur deshalb perfekt, weil der rote Reiter zuvor dafür gesorgt hat, dass ein Fürst seine Halbheller als Drittelheller hergibt, wodurch das Fläschchen für ihn kaufbar wird. Der rote Reiter macht sich, die Felswand emporreitend, davon, und Reichard begibt sich befreit ins Tal. Erst als er an der anderen Seite des Berges wieder herangekommen und eine große Strecke von dem Schlunde fortgelaufen war, drang das ganze frohe Gefühl der Befreiung durch sein Gemüt. Er fühlte es in seinem Herzen, daß er die anderen großen Fehler abgebüßt habe und ihm fortan kein Galgenmännlein mehr angehören könne. Ins hohe Gras legte er sich vor Freuden, streichelte die Blumen und warf der Sonne Kusshände zu. Sein ganzes heitres Herz von sonsther war wieder in ihm lebendig, nicht aber zugleich der ehemalige freche Leichtsinn und Frevelmut. Obwohl er sich jetzt mit ziemlichem Rechte rühmen konnte, den Teufel selbsten betrogen zu haben, rühmte er sich dennoch dessen nicht. Vielmehr richtete er seine ganze verjüngte Kraft darauf, wie er forthin auf eine fromme, ehrenwerte und freudige Art in der Welt leben möge. Das gelang ihm denn auch so wohl, daß er nach einigen Jahren tüchtiger Arbeit als ein wohlhabender Kaufherr in die lieben deutschen Lande zurückkehren konnte, wo er sich ein Weib nahm und oftmals in seinem gesegneten Greisenalter Enkeln und Urenkeln die Mär von dem verfluchten Galgenmännlein zu nutzreicher Warnung vorerzählte. 17 Die märchenhafte Erlösung in den Kinder- und Hausmärchen ist zur einseitigen Lösung des geschäftlichen Problems eines Kaufmanns geworden. Der glückliche Ausgang der Geschichte vom Galgenmännlein ist ein ästhetisches Konstrukt und scheint symptomatisch für das neue Jahrhundert. Es wird immer deutlicher: Das Wunder also zeitigt heimtückische Nachwirkungen, seine Gaben sind zwiespältig und gefährlich, sie sind wie eine Droge. Sie macht nicht nur abhängig, sondern es ist unmöglich, von ihr loszukommen ohne stellvertretendes Opfer. Das Wunder ist zum diabolischen Produktionsmittel verkommen, es hat seinen Wert nicht mehr in sich selbst, sondern erhält ihn auf einem von Angebot und Nachfrage dirigierten Markt - wobei nicht zu verkennen ist, wer nun der Dirigent ist in diesem theatrum mundi. Denn es handelt sich nicht um irgendein Produkt, sondern um das vom 80 Siebtes Kapitel unbegrenzten Märchengold längst abgelöste zählbare Geld. Der von Luzifer garantierte Wohlstand aber ist Schein und die Gegenwart ist stets umdroht von einem beängstigenden Ende. 18 81 Friedrich de la Motte Fouqué: Eine Geschichte vom Galgenmännlein A CHTES K APITEL C ARL W ILHELM S ALICE -C ONTESSA : M AGISTER R Ö ß LEIN (1812) ODER : „ SEINE ARME S EELE AUS DES T EUFELS K RALLEN GERISSEN “ Im Berliner Serapion-Kreis scheint der Umgang mit Geistern und Gespenstern und mit diabolischen Kobolden zur Gewohnheit geworden zu sein. Aber: Die scheinbare Vertrautheit mit dem Personal der Geisterwelt ist so harmlos nicht wie in jüngst erschienenen Volks-Märchen. Es gehört ein gehöriges Geschick oder wenigstens Glück dazu, sie zu bannen oder in ihre heimatliche Hölle zurückzuschicken. Dort ist es nicht sehr behaglich und man bleibt doch lieber in dieser gewohnten Welt. Diese ist zwar in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm für eine Weile halbwegs wohnlich, aber das nur für Auserwählte. Dort hält der Teufel nämlich nicht ganz allein haus, sondern zusammen mit seiner Großmutter. Die alte Dame aber paktiert gelegentlich mit den Besuchern und übertölpelt ihren schnarchenden Enkel. Einmal nimmt sie Partei für einen der Hölle verfallenen Soldaten, dem sie, „ weil er ihr wohlgefiel “ , das Geheimnis seiner Befreiung verrät. Ein andermal verhilft sie dem mit der „ Glückshaut “ geborenen „ Glückskind “ zu den drei goldenen Teufelshaaren und zu den von den fremden Wächtern geforderten Geheimnissen. 1 Zum Berliner Serapion-Kreis gehörte auch der heute fast vollkommen unbekannte Dichter Carl Wilhelm Salice-Contessa. Darum scheint es in diesem Zusammenhang angezeigt, seine Variante der Geschichte vom überlisteten bzw. vom „ dummen Teufel “ in angemessener Kürze vorzustellen, weil das sich über Jahrhunderte wiederholende Motiv faszinierend zu sein scheint, wie im Blick auf das Ende des Jahrhunderts noch zu zeigen sein wird. Contessa verortet durch einen ihm nahen Erzähler seine Geschichte mit dem unauffälligen Titel Magister Rößlein in der ihm wohlbekannten Stadt Bamberg. Er macht, wie man bereits treffend bemerkt hat, in dem alten spätmittelalterlichen Städtchen die „ Kulissen der kleinbürgerlichen Welt zur Erzählbühne “ 2 : Sichtbar wird die enge Wohnung eines gelehrten, lebensuntüchtigen Magisters, ein Wirtshaus, wo er sein kleines Vermögen bei gutem Wein durchbringt, die schmalen Gässchen einer Kleinstadt, ein lauter Wochenmarkt, Stadttürme und Stadttor. Korrekt ist auch der historische Rahmen der Verzeitlichung: Es ist die Regierungsepoche Karls des Fünften und die des Oberbefehlshabers Herzog Alba. Die scheinbar idyllisch umfriedete Atmosphäre aber trügt, sie scheint die Folie zu sein für ein unheilvolles Ereignis, das, wie zu erwarten steht, auch als bald einbricht. Der alte Magister hat, „ weil ihn die grauen Härlein da und dorten auf seinem Haupte an eine Pflegerin im Alter erinnerten “ , vorsorglich eine junge Witwe geheiratet, die indessen zum „ unleidlicheren Übel “ wurde. Frau Mathilde war „ gar hoffärtigen und herrischen Wesens und heftigen, unverträglichen Gemütes, wußte sich bald des Hausregiments dergestalt zu bemächtigen, daß er nichts ohne ihren Willen tun und lassen durfte “ . 3 Der in seiner unseligen Ehe wie in einem ausweglosen Käfig gefangene Magister kann nur noch auf ein Wunder hoffen - und das Wunder geschieht: Es ist ein „ zerlumptes Bettelweib “ , 4 das ihm ein Büchlein in die Hände spielt. Es sind nur „ wenige Seiten Pergament mit halb verblichener uralter Schrift, untermengt mit wunderlichen Zeichen und Figuren “ , 5 aber das bringt ihn um seine innere Ruhe. Als er es nämlich einmal genauer anschaute, „ da zeigte sich ihm klar, daß es nichts minder sei, als eine Anweisung und Formel, den Teufel zu beschwören und ihn zu des Menschen Dienst zu verpflichten. “ 6 Und obwohl der Magister nach Meinung seiner gestrengen Ehefrau „ mit aller seiner Gelehrsamkeit nicht bis drei zählen kann “ , 7 faszinieren ihn doch die Zeichen und Figuren, und es reizt ihn, „ ihre verborgene Kraft zu erproben “ , 8 wittert er doch in dem Experiment die Chance seiner Freiheit. Also ist er verständlicherweise insgeheim bereit, den Versuch zu wagen. 9 Er zieht einen Kreidekreis, deklamiert die Formel der Beschwörung, und erlebt eine Überraschung: „ Da öffnete sich leise die Tür und ein Männlein von geringem Wuchse, doch breit an Schultern, trat reich gekleidet, mit Federhut und Scharlachmantel flink herein. . . “ 10 Der mysteriösen Nachfrage folgt prompt das Angebot, und der Vertrag ist rasch geschlossen: Es geht um einen ausgeklügelten Tausch- und Kauf-Vertrag, gesteuert und vorgeschlagen von einem unter seinem Ehejoch verzweifelnden Magister, der seine Seele auf ewig verwettet, wenn der Teufel nur ein Jahr „ auf alle übermenschliche Macht verzichten “ wolle und in „ menschlicher Natur “ bei seinem Eheweibe auszuhalten sich bereit erklären würde. Als „ Schadloshaltung “ fordert der Magister nur tausend Goldgülden mit fünfhundert Gulden Anzahlung, und der Teufel verspricht, nach dem durchgehaltenen Jahr dem Magister „ vorerst noch zwanzig Jahre auf Erden zu Diensten zu sein. “ 11 Der Magister verlässt nach der stattlichen Anzahlung mit seinem Teufelsbüchlein flugs die Stadt Bamberg und reist, von Gasthaus zu Gasthaus sich weinselig vergnügend, über Bayreuth und Regensburg nach Wien, indes der Teufel die Rolle des geplagten Ehemannes zu spielen sich alle Mühe gibt, aber 83 Carl Wilhelm Salice-Contessa: Magister Rößlein sich ’ s gefallen lassen muss, dass die ahnungslose Frau Mathilde ihn „ einen dummen Teufel “ 12 schimpft und am Ende natürlich die Oberhand behält. Als der „ arme Teufel “ 13 allerdings im Gefängnis landet, ist die Grenze seiner Geduld schließlich doch erreicht; er holt seinen betrunkenen Vertragspartner aus Wien zurück und legt ihn „ statt seiner auf das harte Lager des Gefängnisses, zu einem nicht geahnten, unerfreulichen Erwachen “ , 14 denn ihn erwartet der Galgen. Magister Rößlein aber ist nicht wenig erstaunt, als er, wieder nüchtern und bei Sinnen, in dem in seiner Zelle gefundenen Papier „ den mit seinem Blute geschriebenen Vertrag “ erkennt, den der Teufel allerdings „ mitten entzweigerissen “ hat. 15 Aber der Teufel erweist sich als diabolus oeconomicus, als korrekter Kaufmann, wie der Erzähler ihm bescheinigt. Ein in der Zelle deponierter Beutel „ enthielt das bedungene Strafgeld ehrlichermaßen “ , nämlich fünfhundert Goldgülden - die sich allerdings die den Galgenvogel bewachenden Soldaten untereinander teilen. Der Magister wird tatsächlich zum Galgen geführt, aber er entgeht dem vorzeitigen Tod noch einmal. Der Herzog Alba, der zufällig „ des Zusammenlaufs ansichtig “ wird, lässt sich seine unselige Ehe- und Teufels-Geschichte erzählen, nimmt das mysteriöse Teufelsbüchlein an sich und spricht den Delinquenten frei. Magister Rößlein kehrt arm aber bußfertig zu seiner Frau Mathilde zurück und fügt sich in sein Los. Er ließ sie reden und schwieg, nahm auch von nun an alle harten Worte in Demut hin, widersprach niemals, sondern war ihr, als die doch lediglich allein seine arme Seele aus des Teufels Krallen gerissen, allzeit freundlich und untertänig und dachte nur immer: es ist doch besser, als in der Hölle zu brennen! 16 Contessas Geschichte ist hier zu Ende. Aber das Ende ist, wie der nachdenkliche Leser sehr wohl verstanden hat, keineswegs ein durch ein märchenhaftes Wunder bewirkter Sieg des der Hölle vertragsmäßig verfallenen Partners. Er erhält seine Freiheit nur durch einen Stellvertreter zurück, der an seiner statt das diabolische Angebot annimmt und das damit verbundene Risiko übernimmt. Man könnte einwenden, dass das in volkstümlichen Geschichten andeutungsweise auch schon so sein kann, wie es etwa im Märchen vom Teufel mit den drei goldenen Haaren der Fall zu sein scheint, wo am Ende ein König stellvertretend für das Glückskind sein Leben als Fährmann verbringen muss. 17 Der Magister Rößlein aber ist kein Glückskind, wenn er auch vom Galgen-Tod und damit von der Hölle befreit wird; und ein Herzog ist es nun, der das verhängnisvolle Pergament übernimmt, aber uns im Unklaren darüber lässt, was er damit macht 84 Achtes Kapitel oder machen wird. Auffallender ist, dass in der Magister-Teufels-Geschichte und überhaupt in den Teufels-Geschichten in zunehmendem Maße von Geld die Rede ist. Der gelehrte Magister benötigt es nur für seinen Weinkonsum, aber auch seine Reisen sind gewiss nicht umsonst zu haben. Seine wiedergewonnene Freiheit ist keine märchenhafte Erlösung, die mit dem Gewinn einer Prinzessin und eines Königsreiches einhergeht, sondern nur eine halbwegs glückliche Lösung seines Eheproblems. 85 Carl Wilhelm Salice-Contessa: Magister Rößlein N EUNTES K APITEL W ILHELM H AUFF : D AS KALTE H ERZ (1827/ 1828) ODER : „ ABER - AUF K OSTEN IHRER ARMEN S EELE “ I. Wilhelm Hauff, Theologie-Student im Tübinger Stift, Absolvent beider theologischer Examen und promoviert zum Doktor der Philosophie, war ein Kenner der Poesie seiner Zeit, insbesondere geschult an Ludwig Tieck, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. Nicht zuletzt war er, wie am morgenländischen Kolorit seiner Märchen ersichtlich, vertraut mit den orientalischen Märchen aus Tausend-und-eine-Nacht. Kaum über zwanzig Jahre alt, beeindruckt er seine Zeitgenossen durch ein solides theologisches und durch ein weit ausgreifendes literarisches Wissen. Tiecks Phantasus und Hoffmanns Serapions- Brüder mögen ihm als Vorbild gedient haben für seine Almanach-Erzählzyklen zwischen 1826 und 1828. Indessen ist trotz der schärferen Konturierung der märchenhaften Figuren und Geschehnisse die künstliche Legierung mit der heimatlichen Umgebung deutlich sichtbar, denn die Dorf- und Schwarzwald- Staffage, ebenso topographisch gestochen wie flüchtig gemalt, erinnert an Kulissen im Theater. Man mag die Wirkung seiner Märchen heute möglicherweise zu recht nicht hoch einschätzen und dem Märchen-Poeten „ für die Entwicklung der Formen des Märchenwunders nur geringe Bedeutung “ zubilligen, 1 indessen haben schon lange zuvor seine Märchen sich immer wieder als „ lebenskräftig “ bis ins 20. Jahrhundert erwiesen „ trotz aller nicht unberechtigten Vermutungen, die Wirkung des Schriftstellers sei endlich erloschen. “ 2 Die Zeit der Märchen schien längst vorbei zu sein. Im Jahrhundert der Aufklärung ohnehin nicht hoch geachtet, 3 hatte es in der romantischen Epoche, insbesondere seit der Jahrhundertwende, plötzlich Konjunktur: Im Jahre 1812 waren zu Weihnachten die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm erschienen. Aber es lassen sich überraschenderweise um dieses Jahr mehrere Titel artifizieller Märchen gruppieren: Goethes Die Neue Melusine (1800 ff.), Fouqués Undine (1811), und Eine Geschichte vom Galgenmännlein (1810), Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1813), Hoffmanns Das Abenteuer in der Sylvester-Nacht (1814/ 1815) und Die Berwerke zu Falun (1819); und in zwei kleineren Bänden erscheinen sogar sogenannte Kinder- Märchen von Contessa, Hoffmann und anderen (1816). 4 Der romantische Glaube an die mythische Würde der archaischen Zeiten und ihre stete Erneuerung im Kinde, die sogenannte ontogenetische Phasenwiederholung im Wachstumsprozess des Kindes, schien doch mehr und mehr nachzulassen und zugleich damit die Kinder-Märchen-Poesie - sollte man meinen. 5 Man möchte fragen: Wie ist das widersprüchliche Phänomen zu erklären? Hauffs Märchen-Almanache aus den Jahren zwischen 1826 und 1828, eine Spätblüte der romantisierender Mode, erschienen gleichsam „ nach Torschluß “ 6 und sind von vorne herein gedacht „ für Söhne und Töchter gebildeter Stände “ . Es hat den Anschein, als sei die romantische Epoche nur mehr epigonal oder gar parodistisch wiederholbar oder aber auf der Ebene eines familiären Biedermeier. Damit eröffnet sich auch ein neuer literarischer Weg, und immer deutlicher strukturiert sich eine neue Gattung heraus: die aus märchenhaften Phantasmen strukturierte und mit märchenhaften Motiven dekorierte Novelle. Jenseits der Jahrhundertmitte findet sie ihren Höhepunkt in Gottfried Kellers und Jeremias Gotthelfs ebenso märchenhaften wie novellistischen Erzählungen Spiegel das Kätzchen und Die schwarze Spinne. II. Das kalte Herz betitelt Wilhelm Hauff eine Geschichte aus dem Zyklus Das Wirtshaus im Spessart, die er selbst ein „ Märchen “ nennt. Das Titel-Bild lebt aus uralter abendländischer Sprichwort-Symbolik und spricht sogleich für sich selbst; aber sobald das Bild-Zeichen sich verselbständigt und seine Bedeutung losgelöst und wortwörtlich verstanden wird, ist der Betrachter wieder mitten in der wunderbaren Welt des Märchens - denn wer mit einem kalten oder gar mit steinernem Herzen lebt, ist, will er nicht zugrunde gehen, schließlich angewiesen auf ein erlösendes Wunder. 7 Der junge Autor gibt das Wort ab an einen ebenso jungen Erzähler, an einen Studenten, der indessen bei näherem Hinsehen wie sein Konterfei erscheint. Er erzählt in einem Spessart-Wirtshaus „ eine sonderbare Geschichte “ , 8 mit der er - wie Scheherazade in den Märchen aus Tausend-und-eine-Nacht, Boccaccio im Decamerone und Goethe in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten - ablenken will von einer Not oder einer drohenden Gefahr. Er arrangiert wie ein geübter Bühnenbildner sorgsam die Szenerie des Schwarzwaldes und lädt ein zu einem Abstecher: „ Wer durch Schwaben reist, der sollte nie vergessen, auch ein 87 Wilhelm Hauff: Das kalte Herz wenig in den Schwarzwald hineinzuschauen “ 9 und die Menschen betrachten, die Glasbläser, die Uhrmacher und die Holzfäller. Und nun lässt der Erzähler in der eindrucksvoll beschworenen Schwarzwald-Atmosphäre „ die sonderbare Geschichte “ mit ihren „ selbstverständlichen “ Märchen-Wundern 10 gleichsam wie auf einer Drehbühne Revue passieren. Wie die ersten Sätze bereits andeuten, spielen die Szenen blicknah im dörflichen und häuslichen Alltag: Der arme Köhler-Junge Peter Munk, der Kohlenmunkpeter, fühlt sich am Meiler in seinem rußigen Stand zurückgesetzt gegenüber den wohlhabenden Glasbläsern und Uhrmachern und ganz besonders gegenüber den reichen „ Holzherren “ und „ Flözern “ , die mit ihren Flößen, beladen mit den kostbaren Stämmen der Schwarzwaldtannen, von der Nagold zum Neckar und zum Rhein hinunter fahren bis nach Holland, wo sie die Stämme für teure Goldgulden an die Mynherren für ihre Schiffe verkaufen und mit reicher Beute zurückkehren, um im Gasthaus aufzutreten wie die großen Herren. Der eine war ein dicker, großer Mann, mit rotem Gesicht, und galt für den reichsten Mann in der Runde. Man hieß ihn den dicken Ezechiel. Er reiste alle Jahre zweimal mit Bauholz nach Amsterdam, und hatte das Glück es immer um so viel teuerer als andere zu verkaufen, daß er, wenn die übrigen zu Fuß heimgingen, stattlich herauffahren konnte. Der andere war der längste und magerste Mensch im ganzen Wald, man nannte ihn den langen Schlurker, und diesen beneidete Munk wegen seiner ausnehmenden Kühnheit; er widersprach den angesehensten Leuten, brauchte, wenn man noch so gedrängt im Wirtshaus saß, mehr Platz als vier der Dicksten, denn er stützte entweder beide Ellbogen auf den Tisch oder zog eines seiner langen Beine zu sich auf die Bank, und doch wagte ihm keiner zu widersprechen, denn er hatte unmenschlich viel Geld. Der dritte aber war ein schöner, junger Mann, der am besten tanzte weit und breit, und daher den Namen Tanzbodenkönig hatte. Er war ein armer Mensch gewesen, und hatte bei einem Holzherren als Knecht gedient; da wurde er auf einmal steinreich; die einen sagten er habe unter einer alten Tanne einen alten Topf voll Geld gefunden, die anderen behaupteten, er habe unweit Bingen im Rhein mit der Stechstange, womit die Flözer zuweilen nach den Fischen stechen, einen Pack mit Goldstücken heraufgefischt, und der Pack gehöre zu dem großen Nibelungenhort, der dort vergraben liegt, kurz, er war auf einmal reich geworden, und wurde von jung und alt angesehen wie ein Prinz. An diese drei Männer dachte Kohlen-Munk-Peter oft, wenn er einsam im Tannenwald saß: Zwar hatten alle drei einen Hauptfehler, der sie bei den Leuten verhaßt machte, es war dies ihr unmenschlicher Geiz, ihre Gefühllosigkeit gegen Schuldner und Arme, denn die Schwarzwälder sind ein gutmütiges Völklein; aber man weiß wie es mit solchen Dingen geht; waren sie auch wegen ihres 88 Neuntes Kapitel Geizes verhaßt, so standen sie doch wegen ihres Geldes in Ansehen; denn wer konnte Taler wegwerfen, wie sie, als ob man das Geld von den Tannen schüttelte? „ So geht es nicht mehr weiter “ , sagte Peter eines Tages schmerzlich betrübt zu sich [. . .]. 11 Und Peter, vom „ Ansehen “ der Männer beeindruckt, meint, es einmal mit den Wundern, von denen er gehört hat, versuchen zu sollen; gibt es doch das Glasmännlein auf dem Tannenbühl, den „ Schatzhauser “ , der zuweilen den Sonntagskindern erschienen ist und ihnen ihre Wünsche erfüllt hat - und Peter ist doch ein Sonntagskind, geboren sogar um die zwölfte Stunde, wie die Mutter ihm versichert hat. Der Schatzhauser - sein Name verrät deutlich genug, dass er einen Schatz oder Schätze hütet und davon vielleicht leihen oder gar verschenken kann. Und der Leser fragt sich natürlich sogleich: Was sind das für Schätze? III. Im Märchen, Kunstmärchen und in den sich immer deutlicher profilierenden märchenhaften Novellen spielt das ortlose und zeitferne Wunder sich nicht nur immer näher heran an die fixierbaren Landschaften; zugleich mit diesem Wandel bzw. mit dieser Wende zum dort lebenden Volk wecken auch die wundersamen Gold-Schätze der Märchen - goldene Äpfel, goldene Schuhe, goldene Stühle, goldene Kutschen und schließlich goldene Dukaten und Taler - mehr und mehr nicht geringe Verwunderung, sondern endlich auch Begierde, sowohl bei den dort agierenden armen Kindern, als auch bei heranwachsenden Jünglingen, streunenden Abenteurern, Prinzen und Kron-Prätendenten, und nicht zuletzt wecken sie Neugier bei den sie auf ihren geraden oder krummen Wegen auf der Schatz-Suche begleitenden Zuschauern und Lesern. Schauen wir ein wenig zu: Märchen-Schätze gab es immer schon. Lange bevor man in den deutschen Märchen nach Gold und Edelsteinen, nach dem roten Karfunkel oder Almandin in den Bergen schürfte, lag er offen zutage in den orientalischen Märchen aus Tausend-und-eine-Nacht. Wir kennen Aladins schatzsuchende Wunderlampe und Ali Babas Zauberspruch „ Sesam öffne dich “ , mit dem er ganze Haufen von Gold und Edelsteinen im Berg der Räuber findet und nach Hause trägt. Seit das Märchenbuch des Neapolitaners Giambattista Basile Lo cunto de li cunti, das sogenannte Pentamerone im siebzehnten Jahrhundert die Runde machte in Europa, ist der Gold-Esel bekannt, den Brentano Anfang des 89 Wilhelm Hauff: Das kalte Herz 19. Jahrhunderts adaptierte. Auf Johann Karl August Musäus ’ Variante sowie die volkstümlichen Überlieferungen des nie versiegenden Goldsäckels ist bereits verwiesen worden. Aber in den fast gleichzeitig mit den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm erscheinenden märchenhaften Erzählungen lernen nun die abenteuernden Jünglinge und Männer und mit ihnen das lesende Publikum sehr bald mehr oder weniger schmerzlich zu unterscheiden zwischen dem Schatz aus Gold und Juwelen und dem Schatz des Herzens. Goethe hat Die Neue Melusine, wie er selbst bezeugt, zwar bereits als Straßburger Student in der Laube des Sesenheimer Pfarrhauses erzählt, 12 aber er hat Jahrzehnte gebraucht für die Fertigung: Treulich hütet dort der Barbier das Kästchen der Zwergenprinzessin, nicht ahnend, dass er damit ihr Schloss im verschlossenen Gastzimmer des Wirtshauses bewacht; und vielsagend die indiskrete, anspielungsreiche Bemerkung des Kellners, er wisse wohl, warum die Türen stets verschlossen sein müssten, denn er habe den Schatz die Treppen hinunter gehen sehen. 13 Und in Ludwig Tiecks Märchen-Erzählung mit dem auffallenden Titel Der Runenberg schwankt der junge Gärtner Christian lange zwischen den von der dunklen Bergkönigin ihm dargebotenen Schätzen und dem blonden Dorfmädchen Elisabeth, das er zwar heiratet, aber wieder verlässt; der Schatz der Berge ist stärker als der Schatz des Herzens. 14 Auch E. T. A. Hoffmann lässt in Die Bergwerke zu Falun den Bergmann Elis vergebens nach dem Schatz und dem zauberkräftigen Almandin in den Schächten des Berges suchen; verführt von der Bergkönigin seiner Phantasie verliert er in der Tiefe sein Leben, lässt seine Verlobte in der wirklichen Welt verwitwet zurück, die sich erst nach fünfzig Jahren mit dem geborgenen Leichnam im Grabe vereinigen kann. 15 Von Friedrich de la Motte Fouqué kennen wir nicht nur seine berühmte Undine, in der die Elementarmächte sich als stärker als die Menschen erweisen, nicht nur die Mächte der Flüsse und der Meere, sondern vor allem der unterirdischen Schächte und Minen; dort bewerfen sich die zwergenhaften Schürfer mit echten Goldstücken, blasen sich aus Übermut Goldstaub ins Gesicht und lachen über die unechten Metallmünzen der Menschen. Und in seiner Märchen-Erzählung vom Galgenmännlein behält das Flaschenteufelchen, wie großmütig auch immer es Gold und Dukaten verschenkt, am Ende das letzte Wort und nimmt die Seele seines Schuldners mit in die Hölle. 16 Peter Schlemihl heißt der Mann in Adelbert von Chamissos Wundersamer Geschichte, der noch einmal über Fortunatus ’ Glückssäckel verfügen darf, aber um den Preis seines inneren Glücks; auch er verliert den Schatz seines Herzens, und es rettet ihn nicht mehr, als er wirklich das Säckel mit dem falschen Schatz des Verführers in den Abgrund wirft; unstet wandert er hinfort mit Sieben- 90 Neuntes Kapitel meilenstiefeln einsam in der Welt herum, sammelt Pflanzen, Moose und Gräser und katalogisiert sie exakt in der Höhle der Thebaischen Wüste - wie ein fliegender Holländer oder wie der ewige Ahasver, für alle Zeit verfemt von der mit biederem Haushaltsgeld rechnenden Bürger-Gesellschaft. 17 Und noch in Gottfried Kellers Märchen-Novelle Spiegel das Kätzchen, die auch dieser Autor noch ein „ Märchen “ nennt, vermag die zwischen Geld und Liebe schwankende Frau erst nach dem Tod des Geliebten zu unterscheiden zwischen dem falschen Schatz der zehntausend Goldgülden und dem wahren Schatz der Liebe: „ Ganz von Sinnen, suchte sie den umherrollenden Schatz zusammenzuraffen und zu umarmen, als ob der verlorene Geliebte darin zugegen wäre. “ 18 Sie alle können mit den unheilvollen Schätzen nichts gewinnen als Tod und Verderben, und alle verlieren sie den Schatz des Herzens. 19 IV. Dem armen Köhlerjungen Peter Munk also fällt in seiner Not nicht von ungefähr der „ Schatzhauser “ ein. Er hat seine Sonntagskinder-Geschichte zwar nur von alten Leuten und von seiner Mutter gehört, wird aber doch allsonntäglich durch die reichen „ Holzherren “ , den dicken Ezechiel, den langen Schlurker und den schönen Tanzbodenkönig, an ihn erinnert. Kohlenmunkpeter lässt sich blenden vom „ Ansehen “ , vom Schein, und der Leser merkt, eine neue Epoche ist angebrochen, deren Ausläufer vor dem Schwarzwald nicht Halt machen. Geld zersetzt das biedere Dasein der Hinterwäldler und der schöne Schein verhilft zum „ Ansehen “ , zur Reputation, und Peter will endlich was scheinen. Und er kennt Weg und Steg und er wandert zum hohen Tannenbühl und vor Augen liegt plötzlich der Hochschwarzwald, und das Bild wird noch ein wenig näher gerückt vom Erzähler: Der Tannenbühl liegt auf der höchsten Höhe des Schwarzwaldes und auf zwei Stunden im Umkreis stand damals kein Dorf [. . .]. Man schlug auch, so hoch und prachtvoll dort die Tannen standen, ungern Holz in jenem Revier [. . .]. Daher kam es, daß es am hellen Tag beinahe Nacht war, und Peter Munk wurde es ganz schaurig zumut; denn er hörte keine Stimme, keinen Tritt als den seinigen, keine Axt; selbst die Vögel schienen diese dichte Tannennacht zu vermeiden. 20 Peter denkt, hier wird „ wohl der Schatzhauser wohnen “ , zieht seinen Sonntagshut und mit einer tiefen Verbeugung sagt er sein Verslein auf: 91 Wilhelm Hauff: Das kalte Herz Schatzhauser im grünen Tannenwald, Bist schon viel hundert Jahre alt, Dir gehört all Land wo Tannen stehn - 21 Aber - Peter kann sein Verslein nicht zu Ende bringen, und wie sehr er sein Gedächtnis auch martert, der letzte Reim will ihm nicht einfallen. Und weil die Beschwörungsformel nicht recht stimmt, erscheint der Schatzhauser nicht. Vom Tannenbühl zurückkehrend verirrt er sich im Wald und kehrt abends bei armen Leuten in einer Hütte ein, wo ein alter Ehni seinen Enkeln die „ Sage “ 22 vom Holländer-Michel erzählt, der „ schon vielen behilflich gewesen sei, reich zu werden aber - auf Kosten ihrer armen Seele “ . 23 Das warnende „ aber “ des Ehni mag Peter wohl gehört haben, denn es wird sich später noch des Öfteren in seiner Erinnerung melden, vorerst jedoch legt er sich müde auf das ihm gastfreundlich bereitete Lager und schläft, wenn auch bedrängt von unruhigen Träumen und von einer Stimme, die ihm ins Ohr brummt: In Holland gibt ’ s Gold, Könnt ’ s haben, wenn Ihr wollt Um geringen Sold Gold, Gold. 24 Peter trifft in der Tat - gewiss nicht ganz zufällig? - den Holländer-Michel auf dem Heimweg, aber nein, er verfällt nicht seinen Verlockungen und Versprechungen, sondern macht sich fluchtartig davon. Und weil er ein paar singende Handwerksburschen den Reim auf „ stehn “ abgehört hat, gelingt ihm auf einmal der Vers: Schatzhauser im grünen Tannenwald, Bist schon viel hundert Jahre alt, Dir gehört all Land wo Tannen stehn, Läßt dich nur Sonntagskindern sehn. Und siehe da - das Glasmännlein erscheint und agiert wie eine Fee im Märchen: Es gewährt Peter drei Wünsche, die der beinahe, wie es häufig geschieht bei diesem Spiel, allzu eilfertig und leichtfertig verplaudert: Er wolle immer so viel Geld zum Spiel haben wie der Tanzboden-König. Und als das Glasmännlein über den „ erbärmlichen Wunsch “ sehr erzürnt ist, hofft er mit dem zweiten Wunsch besser anzukommen: Eine Glashütte mit Pferd und Wägelchen dazu. Aber das Glasmännlein ist immer noch ungehalten: „ Oh, du dummer Kohlen-Munk-Peter! “ rief der Kleine, und warf seine gläserne Pfeife im Unmut an eine dicke Tanne, daß sie in hundert Stücke sprang. 92 Neuntes Kapitel „ Pferde, Wägelchen? Verstand, sag ich dir, Verstand, gesunden Menschenverstand und Einsicht hättest du wünschen sollen, aber nicht Pferdchen und Wägelchen. “ [. . .] „ Aber, Herr Schatzhauser “ , erwiderte Peter, „ ich habe ja noch einen Wunsch übrig; da könnte ich ja Verstand wünschen, wenn es mir so nötig ist, wie ihr meinet. “ 25 Wie im Märchen passiert nicht nur das Wunder zollfrei, sondern auch das Wünschen - wenn auch kontrolliert. Das Märchen ist gelegentlich als Wunschmärchen verstanden worden, 26 eine zwar einschränkende aber nicht ganz unzutreffende Bezeichnung, denn nicht selten werden den minderbemittelten Märchenfiguren, dem ärmsten, schwächsten, jüngsten und dümmsten Sohn und Bruder, dem Dummling, auf wunderbare Weise Wünsche erfüllt; gleichsam stellvertretend gleicht eine allmächtige Phantasie kompensatorisch aus, was ihm an Zufriedenheit und Glück vorenthalten wird in der Wirklichkeit. Aber auffallenderweise ist der Wunsch nicht selten begrenzt durch die magische Zahl drei, die ohnehin ungewöhnlich häufig ist in den Märchen. 27 Das Märchen setzt mit der Dreizahl der Wünsche bereits eine Schranke, gleichsam als Anstoß zum Bedenken, denn jeder Wunsch will sorgsam bedacht sein, ein falscher Wunsch könnte umschlagen in Komik oder Tragik. 28 Zwar bekommt Peter nur zwei seiner Wünsche bewilligt, den dritten Wunsch hält er lieber sicherheitshalber zurück und seine Erfüllung behält sich der Schatzhauser vor; aber Peter ist zufrieden, lobt das Männlein: „ mit Recht nennt man Euch Schatzhauser, denn bei Euch sind die Schätze zu Hause “ . 29 Sogar sein törichter Wunsch, immer so viel Geld zu haben wie Ezechiel oder der Tanzbodenkönig, wird ihm, wenn auch unwillig, gewährt, und bald vermeinen die Nachbarn, „ er habe einen Schatz im Wald gefunden “ . 30 V. Peter wird ein wohlhabender Glashütten-Herr. Aber leider verschleudert er leichtfertig Hab und Gut „ im Schlemmen und Spielen “ im Gasthaus, 31 und seine Hütte kommt am Ende unter den Hammer. Nun ist der verarmte, von Schulden bedrückte und von Gläubigern bedrängte Peter doch auf den Holländer-Michel angewiesen, der natürlich sogleich zur Stelle ist; und er folgt ihm in seine düstre Schlucht und in sein Haus, und bei einem Krug Wein unterhalten sie sich - worüber? - Der Titel hat es angekündigt: Peter klagt über sein Herz, das sich ängstlich hin und her wendet und sich verkrampft, und es tue ihm „ wehe “ . Aber der Michel spottet 93 Wilhelm Hauff: Das kalte Herz darüber, dass er seine „ Gulden “ unnütz verschwendet und sich die Not der Bettler „ zu Herzen genommen “ habe, rät ihm „ mit Lachen “ , sein Herz sogleich einzutauschen gegen „ ein steinernes Herz “ , und, um ihn von der harmlosen Operation zu überzeugen, führt er ihn in eine abseitige Kammer - der Anblick dort ist „ sonderbar und überraschend “ : Auf mehreren Gesimsen von Holz standen Gläser, mit durchsichtiger Flüssigkeit gefüllt, und in jedem dieser Gläser lag ein Herz, auch waren an den Gläsern Zettel angeklebt und Namen darauf geschrieben, die Peter neugierig las; da war das Herz [. . .] des dicken Ezechiel, das Herz der Tanzbodenkönigs [. . .] da waren sechs Herzen von Kornwuchern, acht von Werbeoffizieren, drei von Geldmäklern - kurz es war eine Sammlung der angesehensten Herzen in der Umgebung von zwanzig Stunden. Und obwohl Peter „ dies alles, was er gesehen, beinahe schwindeln machte “ schlägt er ein, als ihm „ fürs erste “ hunderttausend Gulden geboten werden: „ Gut, Michel; gebt mir den Stein und das Geld und die Unruh könnt Ihr aus dem Gehäuse nehmen. “ 32 Von Stund an ist der arme Peter ein reicher Herr und fährt „ zwei Jahre in der Welt umher “ . Aber - denn nun beginnt ihn die Mahnung des Ehni zu verfolgen - „ Aber es war ihm alles so gleichgültig “ , „ aber es freute ihn nichts “ ; er reist „ ohne Zweck “ , er lebt in den Tag hinein, speist „ zu seiner Unterhaltung “ und schläft „ aus Langeweile “ , er lächelt zwar mitunter aus Höflichkeit „ aber sein Herz lächelte nicht mit “ , er ist zwar ruhig, „ aber zufrieden fühlte er sich doch nicht “ , er schwankt zwar zwischen Lachen und Weinen - doch allmählich merkt Peter, was er sich eingehandelt hat: „ aber wie konnte er nur so töricht sein, er hatte ja ein Herz von Stein; und Steine sind tot und lächeln und weinen nicht “ . 33 Mit dem adversativen „ aber “ hat der theologisch versierte Autor-Erzähler ein Phänomen anvisiert, dass seit dem Mittelalter bekannt, geläufig und gefürchtet ist: es handelt sich um die schon im frühen Mönchstum ebenso verbreitete wie mühsam gemiedene Todsünde der Akedia, der Trägheit oder Taubheit des Herzens, eine Leere des Gemüts, in der sich gefährliche und unbekannte Krankheiten ausbreiten: Schwermut, Angst, Unmut, Gleichgültigkeit, Langeweile und Lebensunlust. Ob schöne Aussichten, schöne Künste und Kostbarkeiten, alles ist einerlei, ist gleich-gültig und ohne Zweck und Sinn, ist nichts-sagend und nichtig und hüllt alle Tage in einen lichtlosen Nebel. Ein Herz aus Stein nimmt dem fühlenden Spiegel des Lebens seine Folie, macht ihn blind, der Mensch wird dumpf und kalt. Das erfahrene Gefühl der Sinnlosigkeit weckt allein noch keine Einsicht und weckt noch nicht den Willen zur Wandlung, es muss noch härter treffen. 94 Neuntes Kapitel Erst als der zornige Peter seine alte Mutter verstoßen und seine schöne, ihn gutherzig mahnende Frau niedergeschlagen hat, überkommt ihn Reue. Es quälte ihn auch nachts im Traume, und alle Augenblicke wachte er auf an einer süßen Stimme, die ihm zurief: „ Peter, schaff dir ein wärmeres Herz! “ und wenn er erwacht war, schloß er doch wieder die Augen, denn der Stimme nach mußte es Frau Lisbeth sein, die ihm diese Warnung zurief. Den andern Tag ging er ins Wirtshaus, um seine Gedanken zu zerstreuen und dort traf er den dicken Ezechiel. Er setzte sich zu ihm, sie sprachen dies und jenes, vom schönen Wetter, vom Krieg, von den Steuern und endlich auch vom Tod, und wie es nachher sein werde? Ezechiel antwortete ihm, daß man den Leib begrabe, die Seele aber fahre entweder auf zum Himmel oder hinab in die Hölle: „ Also begräbt man das Herz auch? “ fragte Peter gespannt. „ Ei freilich, das wird auch begraben. [. . .] Was kümmert dich dies Gesell? “ fragte Ezechiel lachend. „ Hast ja auf Erden vollauf zu leben und damit genug. Das ist ja gerade das Bequeme in unsern kalten Herzen, daß uns keine Furcht befällt, vor solchen Gedanken. “ „ Wohl wahr, aber man denkt doch daran, und wenn ich auch jetzt keine Furcht mehr kenne, so weiß ich doch wohl noch, wie sehr ich mich vor der Hölle gefürchtet, als ich noch ein kleiner unschuldiger Knabe war. “ „ Nun - gut wird es uns gerade nicht gehen “ , sagte Ezechiel. „ Hab mal einen Schulmeister darüber befragt, der sagte mir, daß nach dem Tod die Herzen gewogen werden, wie schwer sie sich versündiget hätten. Die leichten steigen auf, die schweren sinken hinab, und ich denke, unsere Steine werden ein gutes Gewicht haben. “ „ Ach freilich “ , erwiderte Peter, „ und es ist mir oft selbst unbequem, daß mein Herz so teilnahmslos und ganz gleichgültig ist, wenn ich solche Dinge denke. “ 34 Ezechiel - der Name erinnert an den Unheilspropheten im Alten Testament - scheint sich nicht aufzuregen, aber sein Selbsttrost ist wie das Pfeifen jenes ängstlichen Kindes im Wald, offenbar mühsam verdrängte Angst. Und nun geschieht auch das Unglück: Hatte Peter sich nicht gewünscht, immer soviel Geld in der Tasche zu haben wie Ezechiel? ! Eben aber hat er ihm beim Spiel den letzten Heller abgewonnen und als er ihm neue Dukaten für den Einsatz leihen will, ist auch seine Tasche leer - sein unheilvoller Wunsch ist eben im Wirtshaus in Erfüllung gegangen. Peter, ängstlich und nachdenklich geworden, erinnert sich plötzlich, dass er noch einen Wunsch frei hat, und er ruft erneut im Wald das Glasmännlein, erbittet und erhält Hilfe. „ So höre, dein Herz kannst du mit keiner Gewalt mehr bekommen, wohl aber durch List, und es wird vielleicht nicht schwer halten, denn Michel bleibt doch nur der dumme Michel, obgleich er sich ungemein klug dünkt. “ 35 95 Wilhelm Hauff: Das kalte Herz Michel ist in der Tat ein dummer Teufel wie immer seit den Mysterienspielen und in den volkstümlichen wie auch in den artistischen Märchen, und er lässt sich vom spöttelnden Peter an seiner Eitelkeit packen und, um seine Zaubermacht zu beweisen, setzt er ihm das Herz für einen Augenblick ein - und Peter bannt ihn mit einem vom Glasmännlein eigens für diesen Zweck erhaltenen „ Kreuzlein aus reinem Glas “ 36 und macht sich abermals schnellsten davon. Als er vom Glasmännlein am Ende ein Bauernhaus geschenkt bekommt, lebt er dort mit seiner Frau und seiner Mutter. „ Von jetzt an wurde Peter Munk ein fleißiger und wackerer Mann. “ Und er bekräftigt sein häusliches Glück mit der Einsicht: „ Es ist doch besser, zufrieden zu sein mit wenigem, als Gold und Güter haben, und ein kaltes Herz. “ 37 VI. Die ebenso märchenhafte wie „ sonderbare Geschichte “ scheint am Ende noch einmal das märchenhafte Glück zu beschwören. Und die märchenhafte Seligkeit wird an keiner Stelle getrübt vom ironischen Vexier-Spiel oder gar von satirischer Kritik. Aber es ist kein utopisches, sondern ein verortetes Glück, ein Schwarzwald-Glück, und vorgegeben oder vorgetäuscht wird damit gesellschaftliche Befindlichkeit. Man darf mutmaßen: Es ist die poetisch postulativ beschworene schwarzwälderische oder hinterwäldlerische Zeit des schwäbischen Biedermeier. Zwischen dem zeitlosen Märchen-Wunder und der wunderlosen Zeitlichkeit klafft damit ein eklatanter Widerspruch, eine auffallende Dissonanz. Aber eben diese Disparatheit zwischen naiver Märchen-Tradition und sentimentalischer Bewusstheit ist das Symptom der Zeit und ist nicht nur in zahlreichen Märchen-Novellen, sondern auch in den sie umgreifenden Erzählkreisen längst programmatisch fixiert. Seit Hoffmanns Serapions-Brüdern gilt das „ serapiontische Prinzip “ : Einerseits wird vom Dichter die unbedingte Einfühlung gefordert, andererseits mit dem Wissen darum zugleich die höchste Bewusstheit; diese Doppelheit, diese „ Duplizität “ wird - wie schon im entsprechenden Kapitel erwähnt - demonstriert am tragischen Beispiel des wahnsinnigen Einsiedlers Serapion. Die Frage liegt nahe: Wie ist dieser gattungsbedingte Widerspruch aufzulösen? Die Märchen-Novelle - dies ist zunächst zu beachten - entwirft mit den Märchen-Bildern des Riesen mit Namen Holländermichel und des Zwergen 96 Neuntes Kapitel Schatzhauser eine romantische Kulisse, bemalt mit scheinbar alten, überkommenen Mythen. Indessen handelt es sich nicht um eine Re-Mythisierung von Naturgewalten oder von übernatürlichen Mächten, sondern von ökonomischen Kräften; weder Donner noch Blitz werden zu mythischen Gestalten hypostasiert, sondern gegenwärtige Kräfte, die zwar übermenschlich scheinen, aber beherrschbar sind oder wenigstens sein sollen. Der in die Gattung gebannte und in der Gattung reflektierte Widerspruch trifft mit seinen Mythen des Alltags sehr genau den ökonomischen Zeitgeist. Insofern verbindet die Märchen-Novelle romantische Tradition mit der Gegenwart und mit der Zukunft, sie entwirft eine Vision des neuen sogenannten realistischen Jahrhunderts - oder soll man sagen: des kapitalistischen Jahrhunderts? Peters Plädoyer für die Bescheidenheit mag zunächst biedermeierlich anmuten, ist aber mit dieser epochenhaften Verengung nicht erklärt. Vielmehr ist die Reduktion des grenzenlosen Begehrens auf einen sozialen Zweck nicht nur ein biedermeierlicher Modetrend, sondern durchaus ein mehr und mehr anvisierter und postulierter Imperativ, der nicht zuletzt in der jüngsten Philosophie durchbricht: 38 Der in der romantischen Epoche über allen kommunikativen Relationen unangefochten gebliebene absolute Wert, scheint bedroht von geld- und marktorientierten Mächten und ihrer herz- und vernunftlosen Reputation. Hauffs Märchen-Novelle enthält durch das längst nicht mehr singuläre widersprüchliche Kompositionsprinzip, wie immer noch märchenhaft verschlüsselt, mit dem Novum der konflikt- und kontrastreichen Novelle den generellen zwischen Arm und Reich sich ankündigenden Kontrast der Gesellschaft des kommenden Jahrhunderts. Um das maßlose Wünschen zu steuern wäre der Rat eines Schatzhausers vonnöten: „ Verstand, gesunder Menschenverstand und Einsicht “ , Einsicht für das „ unbedingte Genug “ . 39 Es kündigt sich, bescheiden zurückgenommen in die Sprache des überkommenen Märchens, die moderne Gesellschaft an mit ihrer Gefahr der totalen Kapitalisierung, der zum wenigsten ermahnend, wenn nicht beschwörend Einhalt geboten wird durch den Imperativ einer sich hinter ihrem Rücken etablierenden Wirtschafts- Ethik. 40 97 Wilhelm Hauff: Das kalte Herz Z EHNTES K APITEL J EREMIAS G OTTHELF : D IE SCHWARZE S PINNE (1842) ODER : „ AM E NDE KÖNNTE MAN IHN ÜBERTÖLPELN “ Um die Mitte des Jahrhunderts greift der Pfarrer von Lützelflüh, Albert Bitzius, das Motiv vom verpflockten Teufel - sei es nun ein Sagen- oder Märchen- Motiv 1 - erneut auf und verortet die phantastische Erzählung eines Großvaters in einem ihm wohl vertrauten Milieu einer Dorfgemeinde. Der Pfarrer, der erst in seinem vierzigsten Lebensjahr mit dichterischen Versuchen hervortritt und sich als Poet Jeremias Gotthelf nennt, fasst die großväterliche Erzählung in einen Rahmen und formiert sie augenscheinlich zur damals modisch werdenden Novelle. Sie erscheint 1842 aber in den Bildern und Sagen aus der Schweiz und bereitet hinsichtlich der Gattungsfrage den Interpreten über lange Zeit nicht geringe Probleme: Als „ uralte Mär aus der Vorväter Tagen “ , die zu einer „ wilden, dunklen Sagenballade zusammengefasst “ ist, geht die „ Erzählung “ gleichsam als Ausfluchts-Auskunft in die Nachworte ein. 2 Und sogar eine Standard-Interpretation zur Novelle umspielt die Verlegenheits-Frage: Aber ist es eine Novelle? Zunächst liegt es sehr viel näher, von einer Sage zu sprechen, in der noch die überlieferten Berichte vom „ Schwarzen Tod “ , der Heimsuchung durch die Pest, nachklingen. Allerdings nähert sich diese Sage deutlich dem Mythos und nimmt überdies die Züge einer christlichen Legende an. Märchen- und Traumhaftes, Phantastisches, Groteskes und Legendäres vermischen sich in der Stilgebung. 3 Die Antworten umkreisen auffallenderweise mehrere Gattungen: Erzählung, Novelle, Märchen, Sage, Mythos, Legende, Ballade. Abermals wird deutlich, dass ungewisse Gattungsabgrenzungen nicht frei sind vom Verdacht übereilten wissenschaftlichen Ehrgeizes, und definitorische Fixierungen immer Gefahr laufen, den inhaltlichen Kern zu übersehen und aufzulösen in literarische Diskurse und im Blick auf die Form am Problem des Textes vorbei zu interpretieren. Die Geschichte beginnt mit einem Landschaftsgemälde: Über die Berge hob sich die Sonne, leuchtete in klarer Majestät in ein freundliches, aber enges Tal und weckte zu fröhlichem Leben die Geschöpfe, die geschaffen sind, an der Sonne ihres Lebens sich zu freuen. [. . .] Wunderbar klang es über die Hügel her, man wusste nicht, woher das Klingen kam, es tönte wie von allen Seiten; es kam von den Kirchen her draußen in den weiten Tälern; von dort her kündeten die Glocken, dass die Tempel Gottes sich öffnen allen, deren Herzen offen seien der Stimme Gottes. 4 Ein sonniger Maiensonntag im Berner Oberland, ein fröhlicher Taufsonntag in einer bäuerlichen Taufgemeinde, und der Friede ist gottgesegnet: „ wunderbar “ . Ein festliches Ereignis fürwahr, das in sich selbst sein Genüge zu finden scheint, 5 zumal die Taufe dem neu erbauten Bauernhause gleichsam die Weihe für die Zukunft gibt; aber befremdlich ragt „ der wüste, schwarze Fensterposten “ 6 in den idyllischen Frieden wie ein Zeuge düsterer Vergangenheit. Und auf die Frage des Vetters erzählt der fünfundsiebzigjährige Ätti des Hauses uralte Geschichte, erzählt von einem Ereignis, das nicht minder „ wunderbar “ , aber nicht aufgehoben in frommer Gottesfurcht, sondern gezeugt aus der Schuld des Versagens gegenüber teuflischer Versuchung und aus der Angst des Verzagens gegenüber diabolischem Gelächter der Rache; er erzählt die Geschichte vom Pfosten und der dort verpflockten schwarzen Spinne: Das Haus stand schon dort vor sechshundert Jahren, nein, nicht das gleiche Haus, mehrmals wurde es neu erbaut, wenn das alte Holz wurmstichig und faul wurde, „ nur der Posten hier blieb fest und eisenhart. “ 7 Auf dem Bärhegenhubel am Sumiswald stand „ damals “ ein Schloss, dort, „ wo man noch jetzt, wenn es wild Wetter geben will, die Schlossgeister ihre Schätze sonnen sieht “ ; 8 ein Comthur, heimgekehrt mit seinen Reisigen und Rittern aus dem Heidenlande, herrschte dort über die leibeigenen Bauern, die ihm mit großer Mühsal sein Schloss erbaut hatten und nun endlich Ruhe zu haben glaubten und Zeit für ihre Äcker und für ihr Vieh. Aber just im arbeitsreichen „ Maimond “ 9 forderte er von ihnen in herrschaftlichem Übermut binnen Monatsfrist bei Strafe der Peitsche „ hundert ausgewachsene Buchen [. . .] mit Ästen und Wurzeln “ 10 für einen Schattengang. Die Bauern waren erschüttert ob solch eines Ansinnens und wollten schier verzweifeln auf ihrem Heimgang. Doch inmitten ihrer Not wurden sie überrascht von einem seltsamen Besuch: Wie sie da so ratlos weinten, keiner den anderen ansehen, in den Jammer des andern sehen durfte, weil der seinige schon über ihm zusammenschlug, und keiner heimdurfte mit der Botschaft, keiner den Jammer heimtragen mochte zu Weib und Kind, stund plötzlich vor ihnen, sie wußten nicht woher, lang und dürre, ein grüner Jägersmann. Auf dem kecken Barett schwankte eine rote Feder, im schwarzen Gesicht flammte ein rotes Bärtchen, und zwischen der gebogenen Nase und dem zugespitzten Kinn, fast unsichtbar wie eine Höhle unter überhangendem Gestein, öffnete sich ein Mund und frug: „ Was gibt es, 99 Jeremias Gotthelf: Die schwarze Spinne ihr guten Leute, daß ihr da sitzet und heulet, daß es Steine aus dem Boden sprengt und Äste ab den Bäumen? “ Zweimal frug er also, und zweimal erhielt er keine Antwort. 11 Die Bauern wussten anfangs nicht, mit wem sie es zu tun hatten. Erst als der Grüne ihnen versprach, die Arbeit der Anpflanzung für den Schattengang zu übernehmen und zwar um geringen Lohn, „ nicht mehr als ein ungetauftes Kind “ . 12 Da verweigerten die erschrockenen Bauern natürlich den teuflischen Handel um die Seele eines Kindes, eilten bedrückt und schweigend nach Hause und wagten es kaum ihren Frauen zu erzählen. In zitternder Neugierde schlichen die Weiber den Männern nach, bis sie dieselben an den Orten hatten, wo man im Stillen ein vertraut Wort reden konnte. Da mußte jeder Mann seinem Weibe erzählen, was sie im Schloß vernommen, das hörten sie mit Wut und Fluch; sie mußten erzählen, wer ihnen begegnet, was er ihnen angetragen. Da ergriff namenlose Angst die Weiber, ein Wehgeschrei ertönte über Berg und Tal, einer jeden ward, als hätte ihr eigen Kind der Ruchlose begehrt. Ein einziges Weib schrie nicht den andern gleich. Das war ein grausam handlich Weib, eine Lindauerin soll es gewesen sein, und hier auf dem Hofe hat es gewohnt. Es hatte wilde, schwarze Augen und fürchtete sich nicht viel vor Gott und Menschen. Böse war es schon geworden, daß die Männer dem Ritter nicht rundweg das Begehren abgeschlagen; wenn es dabeigewesen, es hätte ihm es sagen wollen, sagte es. Als sie vom Grünen hörte und seinem Antrage, und wie die Männer davongestoben, da ward sie erst recht böse und schalt die Männer über ihre Feigheit, und daß sie dem Grünen nicht kecker ins Gesicht gesehen, vielleicht hätte er mit einem anderen Lohne sich auch begnügt, und da die Arbeit für das Schloß sei, würde es ihren Seelen nichts schaden, wenn der Teufel sie mache. Sie ergrimmte in der Seele, daß sie nicht dabeigewesen, und wäre es nur, damit sie einmal den Teufel gesehen und auch wüßte, was er für ein Aussehen hätte. Darum weinte dieses Weib nicht, sondern redete in ihrem Grimme harte Worte gegen den eigenen Mann und gegen alle andern Männer. 13 Und als die Männer, von Missgeschicken geplagt, mehrmals vergeblich versucht hatten, dem Willen des Ritters zu willfahren, schlug Christine, des Hornbachbauern Eheweib, ihnen vor, sie wolle den Handel bedenken und sich mit dem Grünen einlassen, in der heimlichen Hoffnung „ am Ende könnte man ihn übertölpeln wie die andern Männer auch “ . 14 Und mit Zustimmung der Bauern wurde sie tatsächlich zur Kupplerin. Christine schloss wirklich einen Pakt mit dem Grünen, ohne blutige Unterschrift, einzig besiegelt mit einem Kuss: „ und ihr war, als ob von spitzigem Eisen aus Feuer durch Mark und Bein fahre, durch Leib und Seele “ . 15 In der darauf folgenden Zeit gelang es den Bauern zwei Mal, den Grünen im Verbund 100 Zehntes Kapitel mit dem Priester zu „ übertölpeln “ und seinem Verlangen zuvorzukommen durch eine Nottaufe. Aber die Geschichte sollte dennoch eine schlimme Fortsetzung nehmen. Als der Kuss des Grünen im Gesicht der Bäuerin zu brennen begann, wurde es nach und nach ernster. Anfangs war es nur ein Muttermal auf ihrer Wange, nur ein bloßes „ Malzeichen “ wie viele es haben, dann aber wurde aus dem Zeichen eine „ giftige Kreuzspinne “ 16 und Christine „ fühlte wohl, der Teufel mahne sie “ , 17 und das Mal gelte als Pfand, als Angeld für die versprochene Dienstleistung, dessen gesamte und fällige Schuld noch anstehe: das Kind. Und die Spinne in ihrem Gesicht wuchs sich mehr und mehr aus: Da war es Christine, als ob plötzlich das Gesicht ihr platze, als ob glühende Kohlen geboren würden in demselben, lebendig würden, ihr gramselten über das Gesicht weg, über alle Glieder weg, als ob alles an ihm lebendig würde und glühend gramsle über den ganzen Körper weg. Da sah sie in des Blitzes fahlem Scheine langbeinig, giftig, unzählbar schwarze Spinnchen laufen über ihre Glieder, hinaus in die Nacht, und den entschwundenen liefen langbeinig, giftig, unzählbar andere nach. Endlich sah sie keine mehr den früheren folgen, der Brand im Gesichte legte sich; die Spinne ließ sich nieder, ward zum fast unsichtbaren Punkte wieder, schaute mit erlöschenden Augen ihrer Höllenbrut nach, die sie geboren hatte und ausgesandt, zum Zeichen, wie der Grüne mit sich spaßen lasse. 18 Und es kam, wie es kommen musste. Die unselige Geschichte war noch längst nicht an ihrem Ende. Es ereignete sich „ etwas Absonderliches “ . 19 Das Vieh starb an einer unerklärbaren Seuche. Als die Sonne schien, sahen endlich die Menschen, wie es in den Ställen, in denen das Vieh gefallen war, wimmle von zahllosen schwarzen Spinnen. Diese krochen über das Vieh, das Futter, und was sie berührten, war vergiftet, und was lebendig war, begann zu toben, ward bald vom Tode gestreckt. Von diesen Spinnen konnte man keinen Stall, in dem sie waren, säubern, es war, als wüchsen sie aus dem Boden herauf; konnte keinen Stall, in dem sie noch nicht waren, vor ihnen behüten, unversehens krochen sie aus allen Wänden, fielen haufenweise von der Diele. Man trieb das Vieh auf die Weiden, man trieb es nur dem Tode in den Rachen. Denn wie eine Kuh auf eine Weide den Fuß setzte, so begann es lebendig zu werden am Boden, schwarze langbeinige Spinnen sproßten auf, schreckliche Alpenblumen, krochen auf am Vieh, und ein fürchterlich wehlich Geschrei erscholl von den Bergen nieder zu Tale. Und alle diese Spinnen sahen der Spinne auf Christines Gesicht ähnlich wie die Kinder der Mutter, und solche hatte man noch keine gesehen. 20 Nun erst, als die Spinnenplage Dorf und Tal überzogen hatte mit der gräulichen Krankheit, nun erst, als das Vieh in den Ställen und auf den grünen Weiden an 101 Jeremias Gotthelf: Die schwarze Spinne giftigen Spinnenstichen verendet war, da war es endlich den meisten „ aufgedämmert, daß die Spinnen eine Plage des Bösen seien, eine Mahnung, den Pakt zu halten [. . .]. “ 21 Nichts half mehr, nicht Christines reuige Beichte vom Kuss des Grünen und von ihrem Pakt mit ihm - „ denn narren lasse er sich nicht ungestraft “ 22 - , nicht ihr Versuch, ein ungetauftes Kind ihm trügerisch zuzuspielen, nicht einmal ihre Verwandlung zur Spinne, die nun mit ihrem tödlichen Gift die Täler peinigte. Erst als eine mutige Mutter, die „ schon oft gehört, wie kundige Männer Geister eingesperrt hätten in ein Loch in Felsen oder Holz, welches sie mit einem Nagel zugeschlagen “ , 23 den Zugriff unter Einsatz ihres Lebens wagte und die Spinne endlich verpflockt hatte, ließ das Unglück nach. Nun war der schwarze Tod zu Ende. Ruhe und Leben kehrten ins Tal zurück. Die schwarze Spinne ward nicht mehr gesehen zur selben Zeit, denn sie saß in jenem Loche gefangen, wo sie jetzt noch sitzt. 24 - Die Erzählung des Großvaters hätte mit dem metaphorischen Hinweis auf den schwarzen Tod, auf die Pest, einen plausiblen Schluss, wenn auch die Auflösung der Rätsel und Wunder allzu auffallend den novellistischen Kunstgriff sichtbar macht, die auflösende Erklärung des historischen Ereignisses. Als unnötige Erzählung mag indessen die Dublette erscheinen, die Wiederholung der Katastrophe, da man nach zweihundert Jahren die Rosenkränze mit „ goldenen Kugeln “ zierte, da „ Hoffahrt “ und „ viel Geld “ 25 die Leute übermütig machten, man den Zapfen spielerisch herauszog und die schwarze Spinne erneut Unheil bringend ausbrach, bis sie abermals unter großer Selbstaufopferung verflockt werden konnte. Höchst bedeutsam aber des Großvaters Kommentar, dass man „ heutzutag alles bald wieder vergessen “ habe, und dass er „ punktum die Wahrheit “ habe erzählen wollen, denn „ die Wahrheit bringt unserem Hause keine Unehre. “ 26 Und seine Geschichte möge „ in der heutigen Zeit “ ein „ Exempel “ sein. 27 - Am Ende aber wagt der Vetter leise Zweifel anzumelden: Es ist nur schade, dass man nicht weiß, was an solchen Dingen wahr ist. Alles kann man kaum glauben, und etwas muß doch an der Sache sein, sonst wäre das alte Holz nicht da. 28 Aber der Autor (! ) schließt im Blick auf das fromme Haus: Denn wo solcher Sinn wohnet, darf sich die Spinne nicht regen, weder bei Tage noch bei Nacht. Was ihr aber für eine Macht wird, wenn der Sinn ändert, das weiß nur der, der alles weiß und jedem seine Kraft zuteilt, den Spinnen wie den Menschen. 29 102 Zehntes Kapitel Natürlich wagt auch der Leser am Ende zu fragen: Ein Märchen? Eine Novelle? Das kleine, allenthalben nicht selten mit überschwänglichen Worten gelobte literarische Meisterwerk 30 ist voller gattungsbedingter Widersprüche und ein Widerspruch, den man auch einen Konflikt nennen kann, in sich selbst. Die dominante Diskrepanz besteht in einem dissonanten Gegeneinander glaubensfroher Berg-Idyllik und der Bedrohung durch glaubenslosen Übermut und Sturz in den Abgrund des seelischen Verderbens. Füglich bietet sich an, die bedrohliche Wirklichkeit durch ein Wunder poetisch zu versöhnen, dann ließe sich die Erzählung fließend lesen als Märchen-Novelle, wie immer mythische oder sagenhafte Überlieferung hineinspielt. Dass das Märchen vom Mythos herstammt, haben schon die Brüder Grimm unmissverständlich erklärt, und es ist häufig wiederholt worden, nicht zuletzt im Blick auf diese Großvater- Erzählung. Es handelt sich um den beschwörenden Umgang mit überirdischen Mächten, seien es Götter, seien es Dämonen oder sei es gar der Teufel. Ob das mythische Verhängnis durch eine wunderbare märchenhafte Erlösung aufgehoben oder ob das bedrohliche Ereignis durch eine novellistische Wendung außer Kraft gesetzt wird, steht jeweils dahin und ist abhängig von der Epoche und vom Autor, der nicht zufällig ein schriftstellernder Pfarrer ist. In jedem Fall aber statuiert Poesie ein „ Exempel “ , das ein Großvater durch seine Jahrhunderte überblickende Erzählung gleichsam legitimiert. 103 Jeremias Gotthelf: Die schwarze Spinne E LFTES K APITEL E DUARD M ÖRIKE : D ER S CHATZ (1836) ODER : „ ICH KÖNNTE WOHL EIN BI ß CHEN BESCHNAPST GEWESEN SEIN “ Hinter dem Rücken einer schwäbischen Gesellschaft spielt wenig später noch eine Geschichte, die der Landsmann Eduard Mörike selbst zwar als ein „ Märchen “ ausgab, später aber zuließ, dass man sie eine „ Novelle “ nannte. Die widersprüchliche Bezeichnung ist nicht von ungefähr, sondern symptomatisch. Die Geschichte erschien im Jahre 1836 unter dem doppelsinnigen Titel Der Schatz. 1 Wie einst bei Boccaccio, so bei Goethe, Tieck, E. T. A. Hoffmann und Wilhelm Hauff ist eine Erzähl-Gesellschaft beisammen, die in einem Kurbad, weder genötigt durch Pest, Verfolgung und Bedrohung, noch durch einen poetischen Wettstreit, sondern mutmaßlich aus purem Überfluss an Muße, einer ebenso umständlich angekündigten wie erzählten „ Geschichte “ lauscht. Der Erzähler ist ein Hofrat namens Franz Arbogast, ein ehemaliger Goldschmied, der, „ durch rätselhafte Umstände begünstigt “ , aufgestiegen zum Verwalter des „ königlichen Schatzmeisteramtes “ , seine neugierigen Zuhörer darauf einstimmt, „ daß man Unglaubliches zu hören bekommen “ werde, und dass man sich möglicherweise darüber beklagen werde, er hätte sie „ mit einem bloßen Kindermärchen “ vergnügen oder „ abspeisen wollen. “ 2 Der Erzähler holt weit aus: Als vaterloses Kind wird ihm als „ Osterkind “ - der Leser erinnert sich an Hauffs „ Sonntagskind “ - von der Mutter am Tage der Konfirmation ein Büchlein von einer unbekannten Gönnerin ausgehändigt, ein „ Schatzkästlein “ mit tiefsinnigen Versen. Als die Mutter stirbt, wird er als Vollwaise bei seinem Vetter als Goldschmiedelehrling angenommen und weil er in seinem Handwerk sehr geschickt ist und darüber hinaus geschäftliches Vertrauen erwirbt, erhält er den Auftrag, für die Hochzeit der jungen Prinzessin von Astern mit dem jungen König nicht nur eine Krone als Krönungsschmuck anzufertigen, sondern die dazugehörigen Steine aus Frankfurt zu beschaffen. Mit vierhundert blanken Goldstücken im Felleisen begibt er sich auf die Reise. . . Und nun führt der Erzähler seine Zuhörer Stück für Stück in sein selbsterlebtes Märchen hinein: Dass ihm unterwegs aus seinem sorgsam gehüteten Gepäck seine vierhundert Goldstücke gestohlen werden, muss noch nicht als ungewöhnliches Geschehen besonders auffallen, wiewohl das Felleisen, wie er im Gasthaus bemerkt, gut verschnürt geblieben war. Aber verwunderlich ist, dass er im „ Schatzkästlein “ den Spruch entdeckt: „ Was dir an Gorgon wird gestohlen,/ Vor Cyprian kannst ’ s wieder holen; / Jag nit darnach, mach ’ kein Geschrei,/ Und allerdings fürsichtig sei. “ 3 Hinfort kündigt sich „ das wunderbare Schicksal “ , dem er sich nach diesem tröstlichen Spruch beruhigt überlässt, „ auf eine höchst seltsame Weise an “ , 4 indem ein Wegweiser auf einer einsamen Heide seine hölzernen Arme hinter seinem Rücken zusammenklatscht und sich zu drehen scheint. Obwohl er die wunderliche Erscheinung auf seine fast leere Brandweinflasche schiebt - „ ich könnte wohl ein bißchen beschnapst gewesen sein “ 5 - steigern sich diese sonderbaren Erfahrungen: er gelangt durch Zufall in ein altes Schloss und wird vom Vogt als Gast aufgenommen; die ihm scheinbar gänzlich unbekannte Tochter Josephe gibt vor, ihn zu kennen, aber erzählt ihm, ausweichend und ablenkend, die Spukgeschichte des Schlosses, in der die Rede ist von einer als Geist umgehenden bösen Schlossherrin, von einer im Fluss versunkenen goldenen Kette und von einem verborgenen Schatz. Als ihn mitten in der Nacht ein großer Durst nach einer Wasserquelle suchen lässt, gerät er in einer Rumpelkammer versehentlich an einen Weinkolben und nun - später weiß er nicht mehr, ob das „ sonderbare Nachtgesicht “ 6 ein Traum war oder Wirklichkeit. Auf einer in der Kammer hängenden Landkarte wandert ein kleiner Elf, der, wie er ihm erzählt, auf der Suche ist nach einem Jüngling, der ein Osterkind sein muss, um den Geist zu erlösen, und der die Kette und den Schatz und noch dazu seine Golddukaten an einem ihm zur rechten Zeit bezeichneten Ort finden solle. Der Träumer weiß am Morgen plötzlich, dass Josephe das scheinbar am Scharlachfieber verstorbene Ännchen ist, das Mädchen einer fast vergessenen Kinderliebe. Aber das nun scheinbar nahe glückliche Ende wird zunächst aufgehalten durch vertrackte Missverständnisse. Der junge Gast wird plötzlich verhaftet und im Keller eingekerkert, weil des Diebstahls verdächtigt. Aber in seinem Gefängnis wird ihm deutlich, „ daß dieses Wunder nicht ein eitles Blendwerk gewesen sein könne “ . 7 Und in der Tat löst sich wenig später das Rätsel, als er einen Tag vor Cyprian mit Josephe-Ännchen spazieren geht und ihm all sein Glück „ wie ein Märchen “ 8 vorkommt: Wie sein „ Schatzkästlein “ die Wahrheit prophezeit hat, entdeckt er den ihm im Traum von jenem kleinen Elf bezeichneten Platz und - findet dort tatsächlich den Schatz. Die Erzählweise scheint wirr, weil hin- und herschwankend zwischen Traum und Alltäglichkeit. Wie bei Hauff wird der verwirrende Zwiespalt zwischen Wunder und Wirklichkeit am Ende aufgehoben durch Versöhnung der Gegensätze, ist es aber dort das Glück und die Zufriedenheit im bäuerlichen Milieu, so hier das Behagen in einer Standesgesellschaft; mehr noch, das 105 Eduard Mörike: Der Schatz zwischen Märchen und Novelle oszillierende Erzählen ist ein pures Gesellschaftsspiel, wobei indessen nicht wenig Mühe darauf verwendet wird, das Ereignis als wirklich geschehen zu beglaubigen. Eine Dame, die des Hofrats Gönnerin persönlich gekannt hat, legt Zeugnis ab für seinen „ Kredit als Erzähler “ . 9 Eine andere Dame, Kornelie, „ eine geistvolle, höchst liebenswürdige Blondine “ , 10 vermag die „ Geschichte “ des Hofrats ohne Schwierigkeit mit dem wirklichen Leben zu verbinden und zu Ende zu erzählen. Ein Forstmeister meint „ einiges Licht in den Zusammenhang zu bringen “ , 11 indem er auf den Räuber Faligan, auf seine raffinierten Diebereien und auf die reale Örtlichkeit verweist, wo er seine Schätze deponiert hatte. Am Ende erscheint schließlich Madam Josephe Arbogast persönlich und bedankt sich bei ihrem Mann „ für alle das Schöne und Gute, das er ihr angedichtet “ und bestätigt somit, „ daß er im ganzen keineswegs ein Märchen erzählt habe. “ 12 Und man ist durchaus geneigt, alles als richtig und wirklich geschehen zu glauben, zumal handfeste Ereignisse nicht ins Ungefähre des Märchens abgedrängt werden können, etwa die gestohlenen Dukaten. Indessen ist es bezeichnend, dass der Diebstahl nie recht aufgeklärt wird! Dieser Umstand sagt viel aus: Die Dukaten scheinen überhaupt nebensächlich, denn sie galten nur vorübergehend als Zahlungsmittel und dienten eigentlich nur dazu, umgeschmolzen und umgeschmiedet zu werden in eine Goldkrone. Geld wird zurückverwandelt zu Gold, und das Gold gewinnt damit wieder den alten zeitlosen Wert zurück - wie im Märchen. Die Märchen-Harmonie scheint vollends wiederhergestellt und die Wirklichkeit aufgelöst bzw. erlöst zu sein im Wunderbaren. Also ein Märchen wie etwa eines der Kinder- und Hausmärchen? Eine solche Frage liegt nahe und sie ist auch gestellt worden: „ So ist denn alles restlos rund und schön? Hier im feinsten Hotel der Kurstadt wie bei Prinz und Gänsemagd? “ Die Antwort lag ebenso nahe: „ Gewiß nicht. “ 13 Abgesehen davon, dass der Held als Ich-Erzähler kein rechter Märchenheld ist, sondern ein vornehmer Herr in einer vornehmen Kurbad-Gesellschaft und eine doppelte Rolle spielt sowohl dort als auch in seinem Märchen, wo er als Statist und Figur herumgestoßen wird in seinem von befremdlichen Wundern umstellten Leben. Und auch die Kulissen mitsamt übrigem Personal sind durchaus Staffage für die Bühne der Biedermeier-Gesellschaft: Ein typisches Spuk-Schloss als Stammsitz für einen jungen regierenden Fürsten! Eine unerlöste spukende Ahnfrau als Urmutter der jungen Fürstin! Ein Dorf mit einem betrügerischen Gastwirt! Ein Forstmeister, der sich auskennt in seinem Revier! Eine nahe Kleinstadt mit fleißigen Handwerkern, unter denen vornehmlich die Goldschmiedekunst blüht! Und als Rahmen eine sich von Verwaltungs- und Regierungsstrapazen erholende Kur-Gesellschaft. 106 Elftes Kapitel Die Märchen-Novelle ist als Gattung höchlichst geeignet für diese widersprüchliche Atmosphäre, sie ist weder ein Reflex des in sich ruhenden Ancien Regime - wie im Märchen - noch des selbstsicheren Bürgertums - wie in der Novelle - vielmehr erscheint das eine wie das andere in komischer Verzerrung: das stets abwesende imaginäre Fürstenpaar, der Freiherr, der auf Wunsch seiner wunderlichen Schwester, die ein wenig die Märchenfee spielt, im altburgundischen Kostüm durch die Tapetentüren seiner Säle schreitet, und schließlich der Goldschmiede-Lehrling Franz Arbogast, der es bis zum Hofrat und zum Verwalter des königlichen Schatzmeisteramtes gebracht hat und als alter Herr nun in einem Kurbad sein merkwürdiges Leben erzählt, das sich aus dem „ verworrenen Wundergeschehen “ 14 herausschält keineswegs als ein zeitenthobenes Märchen, sondern als eine durch und durch zeitgebundene „ Geschichte “ . Eine Märchen-Novelle wie sie im Buche steht, das heißt, wie sie Satz für Satz, Seite für Seite nicht besser geschrieben und erzählt werden kann. Der Autor hat seinen Erzähler, Franz Arbogast, wie man unschwer erkennen kann, mit seiner eigenen Begabung ausgestattet, nämlich zwischen Alltag und Poesie zu leben, weder dem Alltag mit seiner Müh und Plag resignierend zu gehorchen, noch wie der zeitgenössische „ arme “ Spitzweg-Poet, ins Dachstübchen zu flüchten, um dort in seinen poetischen Träumen zu verschwinden. Natürlich verwundert sich der Leser über die von der Wirklichkeit mitunter nur mit Mühe zu unterscheidenden verwirrenden Träumereien, aber das eben ist kennzeichnend für die poetische Artistik des Autors: zu schweben zwischen tagtäglicher Arbeit und feiertäglicher Kunst. Der Erzähler balanciert auf dem Hochseil der Unglaubwürdigkeit und bedarf dabei verständlicherweise der erzählten Beglaubigung. Sein „ Märchen “ entäußert sich gattungsbeengender Regeln und gibt sich freimütig als Novelle preis. 107 Eduard Mörike: Der Schatz Z WÖLFTES K APITEL G OTTFRIED K ELLER : S PIEGEL DAS K ÄTZCHEN (1855/ 1856) ODER : „ S CHÖNHEIT “ UND „ EIN SCHÖNES V ERMÖGEN “ Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm waren 1860 in sechster Auflage erschienen. Ihre nachhaltige Verbreitung im deutschsprachigen Europa muss nicht mehr eigens betont werden, aber viel zu wenig wird ihr motivischer und stilistischer Einfluss auf die epische Kunst beachtet, nicht zuletzt auf das sogenannte Kunstmärchen bzw. auf die Märchen-Novelle. Aber unerachtet einer direkten Beziehung ist ihre „ Märchensprache “ schon früh konstatiert worden. Beispielsweise bemerkte Theodor Fontane zu den Novellen: „ Gottfried Keller ist au fond ein Märchenerzähler. “ Dass er seine bereits 1855 erschienene, launige Erzählung Spiegel das Kätzchen gleichsam provokativ als „ Märchen “ untertitelt, könnte genug verraten. Aber wie genau er die Märchen-Sammlung der Brüder und welche Ausgabe er gelesen hatte, weiß man erst seit jüngerer Forschungsarbeit. 1 Keller verortet das „ Märchen “ nicht ohne Grund in dem von geschäftstüchtigen Bürgern bewohnten Ort Seldwyla. Obwohl es den Ort kartographisch nicht gibt, sucht man ihn selbstverständlich in der Schweiz. Und der Leser als Kenner deutet ihn etymologisierend: Es ist ein in sich selbst seliger Weiler, ein ebenso gottseliges wie gottverlassenes Idyll. Spiegel wohnt dort, ein Kätzchen, wie sein Diminutiv andeutet, irreführend natürlich, denn Spiegel ist ein ausgewachsener Kater. Seine einzige Leidenschaft war die Jagd, welche es jedoch mit Vernunft und Mäßigung befriedigte, ohne sich durch den Umstand, daß diese Leidenschaft zugleich einen nützlichen Zweck hatte und seiner Herrin wohlgefiel, beschönigen zu wollen und allzusehr zur Grausamkeit hinreißen zu lassen. Es fing und tötete daher nur die zudringlichsten und frechsten Mäuse, welche sich in einem gewissen Umkreise des Hauses betreten ließen, aber diese dann mit zuverlässiger Geschicklichkeit; nur selten verfolgte es eine besonders pfiffige Maus, welche seinen Zorn gereizt hatte, über diesen Umkreis hinaus und erbat sich in diesem Falle mit vieler Höflichkeit von den Herren Nachbarn die Erlaubnis, in ihren Häusern ein wenig mausen zu dürfen, was ihm gerne gewährt wurde, da es die Milchtöpfe stehen ließ, nicht an die Schinken hinaufsprang, welche etwa an den Wänden hingen, sondern seinem Geschäfte still und aufmerksam oblag und, nachdem es dieses verrichtet, sich mit dem Mäuslein im Maule anständig entfernte. 2 Spiegel, seinen Namen hat er „ wegen seines glatten glänzende Pelzes “ , lebt „ beschaulich “ und unauffällig bei seiner ältlichen Gebieterin. Mal auf ihrem warmen Kissen liegend, mal auf dem schmalen Treppengeländer oder auf der Dachrinne, überlässt er sich gerne „ philosophischen Betrachtungen und der Beobachtung der Welt “ . 3 Kater und Katzen gibt es viele in der Literatur, in Romanen, Novellen, Komödien und nicht zuletzt in Märchen. Ihre Namen sind Legion. Vom berühmten Chat botté alias Hinze oder Graf Carabas, über die Kater Murr und Hiddigeigei bis zu den gegenwärtigen Katzen-Menschen McDamn und Minnie Ginger zeichnen sie sich alle dadurch aus, dass sie durch ihre Katzen-Philosophie oder durch ihren Katzen-Charme ihren Herrinnen und Herren und allen anderen menschlichen Mitbewohnern ihrer Wohnstätten durch das Mysterium ihres tiefen Blicks oder ihrer so bedeutungsreichen Sprache überlegen sind. Dem Kater-Kätzchen namens Spiegel eignet neben seiner verschlagenen Rechtschaffenheit zudem eine hintersinnige Klugheit, die er gehörig benötigt, um nach dem Ableben seiner gütigen Herrin in dem eigensüchtigen und mitleidslosen Städtchen sein Leben fristen zu können. Mit zunehmendem Hunger verliert er nicht nur sein äußeres Ansehen, er verliert seine „ Katzenwürde, seine Vernunft und Philosophie. “ 4 Das aber ist der Augenblick, in dem sein Mitbürger und Gegenspieler Pineiß auftreten und seine undurchschaubaren Künste spielen lassen kann. Pineiß ist der Hexenmeister der Stadt und zu hexen braucht er dringend neuen Katzenschmer. Er weiß den halbverhungerten Kater zu locken mit Mäuschen, Wachteln und Würstchen und so schließt Spiegel mit ihm einen in seiner Misere zu wenig bedachten und bedenklichen Vertrag. Pineiß ist als Vertragspartner gefährlich, denn weil es ihm allein um Katzenschmer geht, trachtet er natürlich dem braven Kater hinterhältig nach dem Leben. Verlockend ist, dass die Frist begrenzt ist „ bis zum nächsten Vollmond “ . 5 Herr Pineiß war ein Kann-Alles, welcher hundert Aemtchen versah, Leute kurierte, Wanzen vertilgte, Zähne auszog und Geld auf Zinsen lieh; er war der Vormünder aller Waisen und Witwen, schnitt in seinen Mußestunden Federn, das Dutzend für einen Pfennig, und machte schöne schwarze Tinte; er handelte mit Ingwer und Pfeffer, mit Wagenschmiere und Rosoli, mit Heftlein und Schuhnägeln, er renovierte die Turmuhr und machte jährlich den Kalender mit der Witterung, den Bauernregeln und Ablassmännchen; er verrichtete zehntausend rechtliche Dinge am hellen Tag um mäßigen Lohn, und einige unrechtliche nur in der Finsternis und aus Privatleidenschaft, oder hing auch den rechtlichen, ehe er sie aus seiner Hand entließ, schnell noch ein 109 Gottfried Keller: Spiegel das Kätzchen unrechtliches Schwänzchen an, so klein, wie die Schwänzchen der jungen Frösche, gleichsam nur der Possierlichkeit wegen. Ueberdies machte er das Wetter in schwierigen Zeiten, überwachte mit seiner Kunst die Hexen, und wenn sie reif waren, ließ er sie verbrennen; für sich trieb er die Hexerei nur als wissenschaftlichen Versuch und zum Hausgebrauch, sowie er auch die Stadtgesetze, die er redigierte und ins Reine schrieb, unter der Hand probierte und verdrehte, um ihre Dauerhaftigkeit zu ergründen. Da die Seldwyler stets einen solchen Bürger brauchten, der alle unlustigen kleinen und großen Dinge für sie that, so war er zum Stadthexenmeister ernannt worden und bekleidete dies Amt schon seit vielen Jahren mit unermüdlicher Hingebung und Geschicklichkeit, früh und spät. Daher war sein Haus von unten bis oben vollgestopft mit allen erdenklichen Dingen, und Spiegel hatte viel Kurzweil, alles zu besehen und zu beriechen. Doch im Anfang gewann er keine Aufmerksamkeit für andere Dinge, als für das Essen. Er schlang gierig alles hinunter, was Pineiß ihm darreichte, und mochte kaum von einer Zeit zur andern warten. 6 Pineiß ist für Seldwylas Bürger gleichsam das Feigenblatt, mit dem die immer Rechtschaffenen ihre Scham und Schuld bedecken und ihr schlechtes Gewissen gutgläubig kompensieren. 7 Vielleicht steht die Figur eines Pineiß mitsamt seiner Stadt sogar stellvertretend nicht nur für den eidgenössischen Bürger, sondern für den Menschen überhaupt. Spiegel aber, das Kater-Kätzchen gewinnt zugleich mit seinem leiblichen Wohlbefinden und mit seinem glatten Fell auch „ seine Geisteskräfte in gleichem Maße wieder “ , 8 und er beginnt, darüber nachzusinnen, wie er heil „ aus dieser Schlinge kommen “ 9 könnte. Er erstarkt nicht nur an „ Tugend und Philosophie “ , 10 sondern praktiziert zugleich damit seine früheren Katerfreuden auf den Dächern. Aber bei dem strapaziösen Umgang mit der Kätzin verliert er natürlich an Schmer und magert sichtlich ab, sodass Pineiß ihn nicht nur besorgt beäugt, sondern ärgerlich zur Rede stellt. Aber weil Spiegel sich laut Vertragsrecht die Freiheit bis zum nächsten Vollmond nicht nehmen lassen will, wird er, auf dass er ohne Ablenkung endlich fett werde, kurzerhand in einen Gänsestall gesperrt. Natürlich erinnert sich der kundige Leser an die Kinder- und Hausmärchen, in denen der kleine Hänsel in einem Gänsestall von der Hexe gemästet werden soll. Der ausgewachsene Kater Spiegel weiß sich in einer fatalen Lage und indem er über sein leichtfertiges Abkommen und über sein jüngstes Abenteuer nachdenkt, sagte er zu sich selber: „ Meiner Seel! Es ist doch eine schöne Sache um die Liebe! Die hat mich für diesmal wieder aus der Schlinge gezogen. Jetzt will ich mich ein wenig ausruhen und trachten, daß ich durch Beschaulichkeit und gute Nahrung wieder zu vernünftigen Gedanken komme! Alles hat seine Zeit! Heute ein 110 Zwölftes Kapitel bißchen Leidenschaft, morgen ein wenig Besonnenheit und Ruhe, ist jedes in seiner Weise gut. Dies Gefängnis ist gar nicht so übel und es läßt sich gewiß etwas Ersprießliches darin ausdenken! “ 11 Da er seinen Hexenmeister mit seiner Lust an der Kunst der Übervorteilung und an fremdem Gut hinreichend kennt, sinniert er seinerseits über die List seiner Befreiung. Und er lockt seinen Vertragspartner mit einer meisterhaften Erzählung in eine Falle. Der Erzähler Spiegel - bzw. der Autor - wartet mitten im Märchen auf mit einer exemplarischen Novelle, die in paradigmatischer Weise herausführt aus seinem märchenhaften Albtraum und auf ein Ereignis mit einem wirklichen Kontrast und mit ungeahnten Folgen zusteuert. 12 Spiegel erzählt: Eine hübsche und wohlbestallte Seldwyler Kaufmannstochter - seine verstorbene Herrin - „ besaß außer ihrer Schönheit ein schönes Vermögen von vielen tausend Goldgülden “ . 13 Obwohl selbstlos geliebt von einem ehrlichen Mann, stellte sie seine echte Liebe durch ihr misstrauisches Verhalten und durch eine versucherische Manipulation auf eine allzu harte Probe und verscherzte Liebe und Leben. Natürlich ging es um Geld. Die Dame täuschte Schuld und Schulden vor - zehntausend Goldgülden! - die der willfährige Liebhaber auf der Stelle auslieh, so wie Boccaccios großmütiger Edelmann seinen einzigen Falken für seine Edeldame hergab. Aber indem er sich selbst mit der Leihgabe über die Maßen verschuldete, geriet sein Geschäft in den Ruin. Der verzweifelte Mann nahm Kriegsdienste und fiel in der Schlacht. Sie hatte ihn auf einen bestimmten Tag, angeblich zu ihrer Hochzeit mit einem anderen Mann geladen, wollte ihm aber an eben diesem Tag nicht nur sein Geld zurückgeben, sondern sich ihm offenbaren - aber er kam nicht. Nach längerem Warten erschien statt seiner ein Kamerad und dieser las ihr seine ihm anvertraute „ Botschaft “ , die er, um sie nicht zu vergessen, „ getreu auf seine Schreibtafel geschrieben hatte [. . .] so steif und kriegerisch vor, wie er zu tun gewohnt war, wenn er sonst die Mannschaft eines Fähnleins verlas; denn es war ein Feldleutnant. “ Und die Botschaft lautete: ‚ Liebstes Fräulein! Obgleich ich Euch bei meiner Ehre, bei meinem Christenglauben und bei meiner Seligkeit geschworen habe, auf Euerer Hochzeit zu erscheinen, so ist es mir dennoch nicht möglich gewesen, Euch nochmals zu sehen und einen andern des höchsten Glückes teilhaftig zu erblicken, das es für mich geben könnte. Dieses habe ich erst in Euerer Abwesenheit verspürt und habe vorher nicht gewußt, welch eine strenge und unheimliche Sache es ist um solche Liebe, wie ich zu Euch habe, sonst würde ich mich zweifelsohne besser davor gehütet haben. Da es aber einmal so ist, so wollte ich lieber meiner 111 Gottfried Keller: Spiegel das Kätzchen weltlichen Ehre und meiner geistlichen Seligkeit verloren und in die ewige Verdammnis eingehen als ein Meineidiger, denn noch einmal in Euerer Nähe erscheinen mit einem Feuer in der Brust, welches stärker und unauslöschlicher ist als das Höllenfeuer, und mich dieses kaum wird verspüren lassen. Betet nicht etwa für mich, schönstes Fräulein, denn ich kann und werde nie selig werden ohne Euch, sei es hier oder dort, und somit lebt glücklich und seid gegrüßt. ‘ 14 Dass das Fräulein Gleichmut und Contenance verlor, weiß Spiegel mit später Anteilnahme, aber nicht ohne hintersinnige Absicht seinem Zuhörer Pineiß vor Augen zu führen: Sie schleppte wie wahnsinnig die zehntausend Goldgulden herbei, zerstreute sie auf dem Boden, warf sich der Länge nach darauf hin und küßte die glänzenden Goldstücke. Ganz von Sinnen, suchte sie den umherrollenden Schatz zusammen zu raffen und zu umarmen, als ob der verlorene Geliebte darin zugegen wäre. Sie lag Tag und Nacht auf dem Golde und wollte weder Speise noch Trank zu sich nehmen; unaufhörlich liebkoste und küßte sie das kalte Metall, bis sie mitten in einer Nacht plötzlich aufstand, den Schatz emsig hin und her eilend in den Garten trug und dort unter bitteren Thränen in den tiefen Brunnen warf und einen Fluch darüber aussprach, daß er niemals Jemand anderm angehören solle. 15 Dass Pineiß aufhorcht bei der Erwähnung eines Schatzes im Brunnen, versteht sich umso eher, als der Erzähler gleichsam beiläufig hinzufügt, dass das Fräulein den Fluch im Alter aufgehoben und ihn, Spiegel, zum Erben eingesetzt habe; er solle den Schatz einem armen Mädchen als Hochzeitsgabe schenken, von dem er wisse, dass es mit einem soliden Mann verheiratet, eine brave und gute Hausfrau werden würde. Er ließ durchblicken, er kenne wohl ein solches Mädchen - und beendete seine Anspielung mit einem provokativen adversativen aber: „ Aber wie soll man drei solche Dinge zusammenbringen in dieser gottlosen Stadt. Zehntausend Goldgülden, eine weise und gute Hausfrau, und einen weisen rechtschaffenen Mann? Daher ist eigentlich meine Sünde nicht allzugroß, denn der Auftrag war zu schwer für eine arme Katze! “ 16 Pineiß verlangt, wie erwartet, auf der Stelle einen Ortstermin, und er bekommt ihn. Aber er führt den Kater an einer langen Leine in den geheimnisvollen Garten. Am Brunnenrand hockend sieht er tatsächlich das Gold im Grunde schimmern. Spiegel aber macht ihn darauf aufmerksam, dass dieser Schatz ohne die unbekannte und nur ihm allein bekannte Schöne nicht zu haben ist, und ehe er sie nenne, verlange er seine Befreiung von der Schlinge und von dem fatalen Vertrag. Wohl oder übel muss Pineiß nachgeben. Spiegel ist erlöst von 112 Zwölftes Kapitel Fessel und Vertrag - und hier ist die Novelle zu Ende und das Märchen geht weiter. Jeder geht seiner Wege, Pineiß wiegt sich in freudiger Hoffnung, aber Spiegel verfolgt einen Plan: Er besucht eine Dachbekannte, Frau Eule, die als Schornsteinwächterin tagtäglich bei einer bösen Seldwyler Hexe in schmählichen Diensten steht, wie kurz zuvor noch Spiegel selbst beim Hexenmeister Pineiß. Und wie der Meister, so gehört auch die Dame zur geachteten Seldwyler Bürgerschaft. Beide hassen einander, obwohl sie spiegelverkehrte Gegenstücke sind, und Spiegel führt natürlich insgeheim im Schilde, sie auf irgendeine zauberhafte Weise zusammenzubringen. Wie Pineiß, getarnt als biederer und angesehener Ratgeber, inmitten der Bevölkerung agiert, so lebt die Hexe als fromme Beghine gleichfalls unangefochten zwischen braven Nachbarn ganz in seiner Nähe. Es lohnt sich, Einblick zu nehmen in einen abseitigen Winkel des erfundenen Städtchens Seldwyla, wo der Autor in der Rolle und Maske eines kundigen Erzählers sein bilderreiches und bedeutungsvolles „ Märchen “ angesiedelt hat. Hier ein Ausschnitt aus der topographischen Skizze: Dem Hause des Herrn Pineiß gegenüber war ein anderes Haus, dessen vordere Seite auf das sauberste geweißt war und dessen Fenster immer frisch gewaschen glänzten. Die bescheidenen Fenstervorhänge waren immer schneeweiß und wie so eben geplättet, und eben so weiß war der Habit und das Kopf- und Halstuch einer alten Beghine, welche in dem Hause wohnte, also daß ihr nonnenartiger Kopfputz, der ihre Brust bekleidete, immer wie aus Schreibpapier gefaltet aussah, so daß man gleich darauf hätte schreiben mögen; das hätte man wenigstens auf der Brust bequem thun können, da sie so eben und so hart war wie ein Brett. [. . .] Alle Tage ging sie dreimal in die Kirche [. . .]. Sie machte sich auch mit Niemand zu schaffen und ließ die Leute gehen, vorausgesetzt, daß sie ihr aus dem Wege gingen; nur auf ihren Nachbar Pineiß schien sie einen besonderen Haß geworfen zu haben; denn so oft er sich an seinem Fenster blicken ließ, warf sie ihm einen bösen Blick hinüber und zog augenblicklich ihre weißen Vorhänge vor, und Pineiß fürchtete sie wie das Feuer und wagte nur zuhinterst in seinem Hause, wenn alles gut verschlossen war, etwa einen Witz über sie zu machen. So weiß und hell aber das Haus der Beghine nach der Straße zu aussah, so schwarz und räucherig, unheimlich und seltsam sah es von hinten aus, [. . .] auf dem Dache wuchsen ordentliche Eichenbäumchen und Dornsträucher, und ein großer rußiger Schornstein ragte unheimlich in die Luft. Aus diesem Schornstein aber fuhr in der dunklen Nacht nicht selten eine Hexe auf ihrem Besen in die Höhe, jung und schön und splitternackt, wie Gott die Weiber geschaffen und der Teufel sie gern sieht. Wenn sie aus dem Schornstein fuhr, so schnupperte sie mit dem feinsten Näschen und mit lächelnden Kirschenlippen in der frischen Nachtluft und fuhr in dem weißen Scheine 113 Gottfried Keller: Spiegel das Kätzchen ihres Leibes dahin, indes ihr langes rabenschwarzes Haar wie eine Nachtfahne hinter ihr herflatterte. In einem Loch am Schornstein saß ein alter Eulenvogel und zu diesem begab sich jetzt der befreite Spiegel, eine fette Maus im Maule, die er unterwegs gefangen. 17 Eine alte Kater-Eulen-Dachfreundschaft wird aufgefrischt. Und der „ befreite Spiegel “ erzählt nicht nur seine abenteuerliche Pineiß-Geschichte, empfiehlt sie damit nicht nur als Exempel zur Nachahmung, sondern verrät der Dach- Nachbarin auch seinen geheimen Plan, die Hexe mit Pineiß zu verheiraten, und fragt die weise Freundin um Rat, wie die Hexe wohl zu fangen sei, wenn sie am Schornstein ihre Wallfahrt starte. Und die Eule weiß ein Rezept: Irgendwo im Wald liegt ein Schnepfennetz, dessen zauberische Kräfte die Eule genau kennt und das sie sogleich herbeizuschaffen bereit ist. Über den Schornstein gespannt könnte es bestens zum Fangnetz dienen für die allnächtlich herausfahrende Hexe. So geschieht es. Wie sehr die gefangene Hexe auch zappelt, es hilft ihr nichts und sie liegt sogleich ruhig und still als Spiegel ihr die Bedingung ihrer Freilassung nennt: „ Wenn Ihr nicht ruhig seid und alles thut, was wir wünschen, so hängen wir das Garn samt seinem Inhalte da vorn an den Drachenkopf der Dachtaufe, nach der Straße zu, daß man Euch morgen sieht und die Hexe erkennt! Sagt also: Wollt Ihr lieber unter dem Vorsitze des Herrn Pineiß gebraten werden, oder ihn braten, indem Ihr ihn heiratet? “ 18 Und der Hexe bleibt nichts anderes übrig, als sich willig zu fügen. Sie lässt sich sogar auf ihrem Besen zum Brunnen dirigieren und holt das tatsächlich dort liegende Gold herauf. In der Maske eines armen und schönen Mädchens heiratet die Hexe den Hexenmeister Pineiß - und hier endet das Märchen mit seinem gewohnten Hinweis auf eine allseitige „ Erlösung “ , die aber ist von windiger Doppeldeutigkeit: Herr Pineiß aber führte von nun an ein erbärmliches Leben; seine Gattin hatte sich sogleich in den Besitz aller seiner Geheimnisse gesetzt und beherrschte ihn vollständig. Es war ihm nicht die geringste Freiheit und Erholung gestattet, er mußte hexen vom Morgen bis Abend, was das Zeug halten wollte, und wenn Spiegel vorüberging und es sah, sagte er freundlich. „ Immer fleißig, fleißig, Herr Pineiß? “ Seit dieser Zeit sagt man zu Seldwyla: Er hat der Katze den Schmer abgekauft! besonders wenn einer eine böse und widerwärtige Frau erhandelt hat. 19 114 Zwölftes Kapitel Ob der Autor Gottfried Keller in seiner Geschichte, in der er Märchen und Novelle, Wunder und Wirklichkeit mit poetischem Geschick verbunden hat, mit dem geopolitisch fiktiven Städtchen Seldwyla ein karikierendes Bild seines Heimatlandes und seiner zeitgenössischen Gesellschaft entwirft, mag der Leser für sich entscheiden. Anzuraten aber ist, er löst das Bild aus seinem historischen Rahmen, hebt es in eine geschichtliche Zeitlosigkeit und transferiert die Märchen-Novelle als Gleichnis in seine augenblickliche Gegenwart. Denn überall und allezeit gibt es Leute, die „ der Katze den Schmer abgekauft “ haben, und Pineiß ist keine so seltene Ausnahme. 115 Gottfried Keller: Spiegel das Kätzchen D REIZEHNTES K APITEL R OBERT L OUIS S TEVENSON : T HE B OTTLE I MP (1891) ODER : “ A LOVE FOR A LOVE ! ” - “ A SOUL FOR A SOUL ! ” There was a man of the Island of Hawai, whom I shall call Keawe; for truth is, he still lives, and his name must be kept secret; but the place of his birth was not far from Honaunau, where the bones of Keawe the Great lie hidden in a cave. 1 Die deutsche Übersetzung beginnt: „ Einst lebte auf der Insel Hawaii ein Mann, den ich Keawe nennen will. “ 2 Damit suggeriert sie dem Leser oder Hörer schon eher die Märchenreminiszenz „ es war einmal “ , aber im gleichen Satz wird auch schon die Dissonanz spürbar, denn der Mann wird deshalb mit dem Pseudonym Keawe benannt, weil er noch am Leben ist. Und er tritt auch sogleich aus dem Märchenrahmen heraus, weil sein kartographisch fixierbarer Geburtsort “ not far from Honaunau ” 3 genannt wird. Der Autor Stevenson, dessen Abenteuer-Geschichte von der Schatzinsel in aller Welt bekannt ist, lebte die letzten Jahre seines Lebens auf der Insel Upolu im Samoa-Archipel, und es verwundert nicht weiter, dass viele seiner Geschichten im Südsee-Bereich spielen. Am Ende des Jahrhunderts und im Übergang zum Jahrhundert der Weltkriege ist es kein Zufall, dass er auch die Story vom Flaschengeist in die Südsee verlegt. Er gehört zu jener Generation, in der viele Menschen der intellektuellen Elite aus der abendländischen Zivilisation heraus eine auffallende Sehnsucht nach der heilen Welt empfanden. Möglicherweise hing das Fernweh zusammen mit dem europäischen Kolonialismus, der die Chance der Wahrnehmung und der Fernreise nahe legte. Aber die Kulturmüdigkeit der Epoche bot mit ihrer von Ludwig Klages und Friedrich Nietzsche dominierten Lebensphilosophie zugleich die Möglichkeit einer weltenthobenen oder welterneuernden Neuromantik und mit ihrer eindrucksvollen Poesie und ihrer Südsee-Malerei sublime Ausgleichsmöglichkeiten, die sich auch in einer der heranwachsenden jungen Generation zugewandten, jugendbewegten Reformpädagogik auffangen konnte; es ist nicht ohne Belang, dass sich die Krise nach dem Zweiten Weltkrieg wiederholte und steigerte und mit Sigmund Freuds Titel Das Unbehagen in der Kultur 4 ihr adäquates Schlagwort fand. Keawe ist ein junger, braver, unbescholtener, fleißiger Südsee-Insulaner, ein gelernter Matrose auf Hawaii, der während einer Seereise eines Tages in San Francisco ein auf schönen Hügeln gelegenes schmuckes Haus bestaunt, von dem Besitzer hereingewinkt wird und zu seiner Überraschung dessen eben diesen Reichtum beschaffende Zauberflasche für seine fifty Dollars angeboten bekommt. Dass er die scheinbar so billige Flasche billiger weiterverkaufen muss, wenn er nicht zur Hölle fahren will, erfährt er auch von ihrem immerhin fair handelnden Besitzer zusamt mit der Begründung des Angebots: “ I have all I wish, and I am growing elderly. ” 5 Keawe, halb ungläubig, halb neugierig, kauft die Flasche, stellt auf der Stelle und wiederholt auf der Heimfahrt fest, dass die Sache mit der Wunscherfüllung stimmt, erfährt aber auch, dass er sie tatsächlich so leicht nicht loswerden kann und nimmt mit der guten Seite auch die üble mit hinein in seinen Kauf. Keawe erfüllt sich seinen Traumwunsch: Ein schönes Haus möchte er haben! Und er bekommt auf scheinbar erbrechtliche Weise das Haus an einem schon lange erwünschten Ort auf Hawaii, in Kau südlich von Hookena. Und wie zuvor mit seinem Freund Lopaka ausgemacht, verkauft er ihm die Flasche gemäß der beiden Freunden bekannten Kaufbedingung zu einem geringeren Preis, und ist ein wohlhabender und glücklicher Mann, der in seinem neuen Hause vom Morgen bis zum Abend fröhliche Lieder singt. Aber eine unheimliche Hautkrankheit, mit der ihm die Verbannung in ein Ghetto droht, macht seinem sangesfreudigen Glück just in dem Augenblick ein Ende, da er das schöne Mädchen Kokua kennengelernt hat, sich rettungslos verliebt, wiedergeliebt wird und ohne Verzug heiraten möchte. Als er sich nun die Zauberflasche aus gutem Grund zurückwünscht, stellt er nach langer Suche fest, dass Lopaka, der nun einen Schoner besitzt, sie selbstverständlich nicht mehr hat, dass sie längst durch viele Hände gegangen und fast unerschwinglich billig geworden ist. Sie kostet nur noch zwei Cents, und wer sie nun kauft, ist der letzte Käufer! Dass Keawe sie trotzdem erwirbt, versteht sich; mit seiner Liebe im Herzen kann er nicht mehr zögern. Natürlich wünscht er sich Heilung und natürlich ist er sogleich heil und gesund, aber: “ he has no sooner seen this miracle than his mind was changed within him ” . 6 Er wusste plötzlich, dass er dem Kobold und damit den Flammen der Hölle verfallen war. Über die Liebe zu Kokua und über ihre junge Ehe fällt ein dunkler Schatten. Keawe wird still und versinkt in Trauer. Bei Kokua aber erweckt er Misstrauen und die bedrückende Meinung, sich für seinen Trübsinn schuldig fühlen zu müssen, bis sie von ihm endlich die Wahrheit erfährt und begreift, was er aus Liebe zu ihr getan hat. Und nun kommt ein ganz anderer Handel in Gang. Kokua, die stolz darauf ist, in Honolulu zur Schule gegangen zu sein, weiß Rat, weiß, dass es auf den französischen Inseln in der Südsee Centimes gibt, von denen fünf auf einen 117 Robert Louis Stevenson: The Bottle Imp Cent gehen. Also schiffen sie sich ein und reisen zur französischen Insel Tahiti, mieten ein vornehmes Haus, “ to make a great parade of money ” 7 und beginnen mit dem Handel, der aber nicht richtig anlaufen will, sodass Kokua zu einer gefährlichen List greift. Aber sie wagt es im Vertrauen auf ihre ausgleichende Liebe: “ A love for a love [. . .]! A soul for a soul, and be it mine to perish! ” 8 Sie erzählt einem alten kranken Mann ihre Geschichte und überredet ihn, zum Wohle seiner Gesundheit die Flasche für vier Centimes von Keawe zu kaufen und sie verspricht feierlich, sie von ihm für drei Centimes zurückzukaufen. Ihre Rechnung geht tatsächlich auf, aber nun ist sie es, die von Angst verfolgt, mit Trauer überschattet wird und sich zurückzieht, während Keawe hingegen gerne ausfahren und sein Glück mit Zechbrüdern feiern möchte. Unter den Zechern ist “ an old brutal Haole drinking with him, one that had been a boatswain of a whaler, a runaway, a digger in gold mines, a convict in prisons. ” 9 Als ihnen das Geld ausgegangen ist und Keawe unter Zechern immer noch als reicher Mann gilt, darf und soll und muss er bei seiner Frau Geld beschaffen. Keawe geht und in seinem Hause sieht er sie wieder - die Flasche! Sie steht neben Kokua, die daneben auf dem Fußboden hockt und weint. Sofort begreift er: Kokua hat die Flasche für drei Centimes gekauft, um ihn zu retten vor der Hölle. Er weiß noch mehr: Unter der verabredeten Laterne erklärt er es dem Bootsmann, erklärt ihm das Geheimnis, wie sie an Geld kommen können. Er gibt ihm zwei Centimes und fordert ihn auf, die Flasche zu kaufen, falls er wirklich aus ist auf Geld und Schnaps. Und der trunklüsterne Bootsmann lässt sich überreden und geht zu Kokua - und das Ende? Beide hatten einen Treffpunkt unter der Laterne an der Gefängnisecke ausgemacht, und Keawe muss nicht allzu lange warten. Der Bootsmann kommt singend zurück und hat zwei Flaschen - “ the devil ’ s bottle ” 10 und eine Rumflasche, aus der er schon getrunken hat und immer noch trinkt. Keawes Mahnung an den vereinbarten Rückkauf und seine Warnung vor der Hölle schert ihn nicht. “‘ I reckon I ’ m going anyway ’ returned the sailor; ‘ and this bottle ’ s the best thing to go with I ’ ve struck yet. No sir! ’ he cried again ‘ this is my bottle now and you can go and fish for another. ’” 11 Das Ende ist ein gutes Ende für Keawe - wie im Märchen. Und wenn sie nicht gestorben sind. . . Aber der Bootsmann? Bei Fouqué war es ein roter Reiter, der die Flasche als Letzter kaufte, einer, den die Hölle längst auf ihrem Konto hatte und den sie nun erneut hinzubuchen durfte. Bei Salice-Contessa war es ein fürstlicher Feldherr, der das diabolische Zauberbüchlein erbte und sein Schicksal scheint damit auch vorherbestimmt. 118 Dreizehntes Kapitel In der Südsee lassen sich die Bilder hinter fernen Horizonten sicherer, aber umso beredter verstecken. Bei Stevenson heißt es, dass James Cook und Napoleon die einstmals und damals noch sündhaft teure heilsverheißende Unheilsflasche gehabt und mit ihr das Glück beschworen hätten, Männer also von Rang und aus achtenswerter Kultur. Wenn nun im fernen Hawaii unter Kanaken ein versoffener Bootsmann, ein Europäer, ein Haole, wie sie dort sagen, mit der unseligen Flasche zum Teufel fährt, dann ist das eine vielsagende Neuerung und Wendung der scheinbar unscheinbaren Geschichte: Die Flasche, die aus dekadentem und gepflegtem Wohlstandsbürgertum von San Francisco in die heile Welt der Südsee geraten ist, kehrt nun auf scheinbar wunderbare Weise zurück in die weiße Zivilisation. Aber das Südsee-Wunder ist durchaus nicht märchenhaft. Es ist, obwohl es sich gleichsam auf den Inseln bürgerlicher Träume abspielt, inmitten kalkulierender Marktbedingungen ein sonderbares Ereignis unter Menschen, eine Großtat menschlicher Liebe, die das erlösende Ende herbeiführt. 119 Robert Louis Stevenson: The Bottle Imp V IERZEHNTES K APITEL F RANZ K AFKA : D IE V ERWANDLUNG (1912/ 1915) ODER : „ E S WAR KEIN T RAUM . “ Wie im Märchen das Wunderbare selbstverständlich ist, so sind auch die Tiere selbstverständliche Partner des Menschen; eine solche Partnerschaft aber weist zurück auf eine archaische Familiarität zwischen Mensch und Tier. In der ursprünglichen volklichen Auffassung [. . .] steht der Mensch in der Natur ohne Grenzen den anderen Geschöpfen gegenüber, das Tier ist noch nicht das Untermenschliche, sondern es steht im selben Kosmos wie der Mensch: die Menschen haben die Ordnung des Lebens noch nicht als eine spezifisch menschlich-sittliche erkannt und sie deshalb der natürlichen Ordnung tierischen Lebens gleichgestellt: Der einfache Mensch denkt nur in menschlichen Begriffen und unterstellt den Tieren menschliche Eigenschaften. 1 Aber im „ volklichen “ Märchen deutet sich eine Spaltung bereits an: Das Tier bleibt zweitrangig, bleibt lebenslang in der Dienstbarkeit des Menschen und bleibt für immer gefangen in der dem Menschen unterworfenen Tierheit. Der zum Tier verwandelte Mensch darf der Erlösung harren, der Rückverwandlung zum Menschen, wie es in beispielhafter Weise im Märchen geschieht. Das Tier aber bleibt immer Tier. Eine Mensch-Tier-Ehe, auch eine zeitlich begrenzte Mensch-Tier-Liebe, wie sie im zweiten nachchristlichen Jahrhundert noch der antike Erzähler in Apuleius ’ Asinus Aureus mit der Verbindung des Esels mit einer Sklavin dem Leser vor Augen führt, galt wenig später als sündhafte Sodomie. Eine Mensch-Tierliebe bzw. Mensch-Tier-Liebe ist nur im Märchen möglich und dort auch nur dann, wenn sich der an die Wand geworfene Frosch als schöner Prinz entpuppt. Was im Märchen angelegt ist, wird scheinbar fortgeführt in der späten Märchen-Novelle, die entweder ein Versuch zu sein scheint, das Märchen wieder herzustellen oder die Unmöglichkeit der artistischen Restitution des Märchens als Absurdität zu decouvrieren. Die Spaltung zwischen natürlicher Tierheit und zivilisierter Menschheit wird zum Zwiespalt und schließlich zur komisierten Umkehrung. Beispielhaft in Kellers Spiegel-Novelle: Kater und Eule demonstrieren die Perversion: Während die „ gute Natur “ des Tieres Maß zu halten weiß und mit „ Vernunft und Philosophie “ in Freiheit zu überleben trachtet, buhlt der spekulierende Verstand des Menschen um Gold und Geld. Kafkas Verwandlung als „ pervertiertes Märchen “ 2 zu verstehen ist ebenso gewagt wie stimmig. Es offenbart eine erschreckende Wirklichkeit und Wahrheit. Es zeigt das Tier in seiner aus den Bereichen der menschlichen Herrschaft und herrschaftlichen Menschlichkeit ausgeschlossenen Abseitigkeit, in seiner hoffnungslosen Verlorenheit und traurigen Unerlöstheit; einziger Schutz ist seine unbewusste Existenz. Die Trauer aber ist eine Krankheit zum Tode, die sich in dem Augenblick zur Tragik steigern würde, wenn sie dem Tier bewusst würde. In dieser wissenden Todverfallenheit fände das Tier nur Trost, wenn es sich dem herrscherlichen Zugriff des Menschen entziehen und seine natürliche Freiheit souverän ausleben könnte. Sei es in unentdeckten und von Menschen noch unbetretenen Landstrichen, sei es unter dem Inkognito einer Maske, die es ihm erlauben würde, die vom Menschen seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden für sich reklamierte Humanität auf seine animalische Weise zu praktizieren. Das aber ist nur möglich als Literatur. Franz Kafka gibt seiner überwiegend parabolisch verstandenen Erzählung nicht ohne Grund den beredten Titel Die Verwandlung. Der Titel erinnert zunächst wortwörtlich an Ovids Metamorphosen. Inhaltlich aber auch an zahllose Märchen, in denen das Unglück der Verwandlung indessen natürlich Folie ist für das Wunder der Entwandlung und Erlösung - am bekanntesten vielleicht Die zwölf Brüder, Die sieben Raben oder Brüderchen und Schwesterchen. Wenn aber die Verwandlung endgültig ist und keine Erlösung stattfindet, darf es strittig bleiben, ob von einem Märchen gesprochen werden kann. Dennoch ist es geschehen, obwohl der Gattungsbegriff nicht eben recht passen will zu dem wirklichkeitsnahen brutalen Geschehen: Wie im Volksmärchen also ereignet sich schlicht Wunderbares - mithin ohne heroischen Anspruch, ohne Erschütterung, ohne religiöse Beweislast der wunderbaren Ereignisse wie in Epos, Sage und Legende. Es gibt da Lebewesen, Vorgänge und Dinge, die strikt die natürlichen und gesellschaftlichen Regeln außer Kraft setzen. Und: diese Vorkommnisse werden, nicht anders als dort, fraglos als selbstverständlich aufgefasst. 3 In der Tat: Die Situation des eines Morgens erwachenden Handlungsreisenden ist durchaus kein sonderbares Ereignis, es ist ein märchenhaftes Wunder, und der Leser kommt nicht umhin, näher heranzutreten und genauer hinzuschauen auf das „ schlimme Wunder “ . 4 Es dürfte unumgänglich sein, diesen seltsamen Einzelfall der „ wunderbaren Ereignisse “ dem Leser ohne Einschränkung vor Augen zu führen: Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem 121 Franz Kafka: Die Verwandlung panzerartigen harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch halten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen. „ Was ist mit mir geschehen? “ dachte er. Es war kein Traum. Sein Zimmer, ein richtiges, nur etwas zu kleines Menschenzimmer, lag ruhig zwischen den vier wohlbekannten Wänden. Über dem Tisch, auf dem eine auseinandergepackte Musterkollektion von Tuchwaren ausgebreitet war - Samsa war Reisender - , hing das Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte. Es stellte eine Dame dar, die, mit einem Pelzhut und einer Pelzboa versehen, aufrecht dasaß und einen schweren Pelzmuff, in dem ihr ganzer Unterarm verschwunden war, dem Beschauer entgegenhob. Gregors Blick richtete sich dann zum Fenster, und das trübe Wetter - man hörte Regentropfen auf das Fensterblech aufschlagen - machte ihn ganz melancholisch. „ Wie wäre es, wenn ich noch ein wenig weiterschliefe und alle Narrheiten vergäße “ , dachte er, aber das war gänzlich undurchführbar, denn er war gewöhnt, auf der rechten Seite zu schlafen, konnte sich aber in seinem jetzigen Zustand nicht in diese Lage bringen. Mit welcher Kraft er sich auch auf die rechte Seite warf, immer wieder schaukelte er in die Rückenlage zurück. Er versuchte es wohl hundertmal, schloß die Augen, um die zappelnden Beine nicht sehen zu müssen, und ließ erst ab, als er in der Seite einen noch nie gefühlten, dumpfen Schmerz zu fühlen begann. „ Ach Gott “ , dachte er, „ was für einen anstrengenden Beruf habe ich gewählt! Tag aus, Tag ein auf der Reise. Die geschäftlichen Anstrengungen sind viel größer, als im eigentlichen Geschäft zu Hause, und außerdem ist mir noch diese Plage des Reisens auferlegt, die Sorgen um die Zuganschlüsse, das unregelmäßige, schlechte Essen [. . .]. “ 5 „ Es war kein Traum “ - in den man sich zurückretten könnte, um dann, erwachend, sich vom Alb zu erlösen. Nein, es ist bedrückende und ausweglose Wirklichkeit. Hier waltet ein Wunder auf gespenstische Weise, anders als im vertrauten Märchen. 6 Der Märchenheld nämlich ist kein jüngster Sohn, kein Dummling oder verwunschener Prinz, sondern ein gewöhnlicher Handlungsreisender mit Namen Gregor Samsa; er ist kein naiv-gedankenloser Junge, der ausgezogen ist, um sein Glück zu suchen und zu finden, sondern ein erwachsener, für seine Familie - Vater, Mutter, Schwester - mühsam den Lebensunterhalt verdienender und mit normalem Verstand ausgestatteter Mann. Hinzu kommt, dass die Verwandlung in aufdringlich konkreter Wirklichkeit, in einer engen Vorstadt-Mietwohnung stattfindet, und dass der verwandelte Sohn und Bruder sich nicht nur mit dem ungeheuerlichen Erlebnis 122 Vierzehntes Kapitel am Morgen eines Arbeitstages konfrontiert sieht, nicht nur mit der Tatsache, dass er ein „ Ungeziefer “ ist, sondern zugleich damit mit der unmöglichen Aufgabe, diese absurde weil unerklärbare sinnlose Metamorphose seiner Familie erklären zu müssen. Er besitzt zwar „ ein im Tierkörper gefangenes menschliches Bewusstsein “ , 7 aber keine Sprache. Er hat somit überhaupt keine Möglichkeit zur gewohnten Kommunikation. Der zum Tier verwandelte Mensch ist mit dem Augenblick der Verwandlung nicht nur gänzlich isoliert, sondern merkt sehr bald, dass seine Eltern von dem fremden Wesen ihrerseits hilflos Abstand halten. Nur die Schwester Grete - Gretel heißt die klügere Schwester in dem Märchen Hänsel und Gretel - kümmert sich um ihn und denkt darüber nach, mit welcher Speise sie ihn versorgen könnte. Aber er merkt sehr bald, dass auch „ ihr sein Anblick [. . .] unerträglich war und ihr auch weiterhin unerträglich bleiben müsse. “ 8 Während die Schwestern in den Märchen mit Klugheit und Selbstaufopferung das Erlösungswerk für die Brüder bis zum Ende vollbringen, ist die schwesterliche Bruderliebe nicht nur höchst zweideutig, sondern zeitigt fatale Folgen: indem die Schwester Grete sich abmüht, das Zimmer des Bruders lebens- und artengerecht für einen Käfer einzurichten, verwandelt sie allmählich die Stube in ein Tierheim und damit schwindet der Gedanke einer Rückverwandlung zum Menschen, und die Hoffnung auf Erlösung pervertiert zur Verzweiflung. Die Schwester verliert mit der Geduld schließlich auch den Glauben, dass der Käfer überhaupt ihr Bruder ist, und nun gewinnen die kleinbürgerlichen Vorurteile gegenüber hässlichen und unnützen Tieren die Oberhand. Nicht nur innerhalb der Familie stört ein solches Tier die gewohnte Ordnung, sondern auch außerhalb ist das familiäre Prestige beschädigt. Die nahe liegende Lösung des belastenden Problems ist seine Liquidierung, mit anderen Worten: die Beseitigung des Tieres. Und angewidert von dem am Boden krabbelnden Bruder konstatiert die Schwester lamentierend, „ das Menschenmögliche versucht “ zu haben, und beschließt ohne Gnade, das „ Untier [. . .] loszuwerden “ . 9 Und nun tritt der Vater plötzlich in Aktion. Die Väter sind in den Märchen nicht selten die Akteure, wenn es um die Beseitigung der Söhne geht, sei ’ s aus Furcht vor Konkurrenz, sei ’ s angetrieben von der zweiten Ehefrau, der bösen Stiefmutter. In dieser kleinen Familie versucht er, die Stelle wieder einzunehmen, aus der ihn der geldverdienende Sohn verdrängt hatte: „‚ Laßt schon endlich die alten Sachen. Und nehmt auch ein wenig Rücksicht auf mich! ‘ Sogleich folgten ihm die Frauen, eilten zu ihm, liebkosten ihn und beendeten rasch ihre Briefe. “ 10 Das Ende ist vorprogrammiert. Das patriarchalische Regiment führt zur Katastrophe. Der Vater bombardiert den wehrlosen Käfer mit Äpfeln. Äpfel 123 Franz Kafka: Die Verwandlung haben in den Märchen, etwa in Schneewittchen, Frau Holle und Der goldene Vogel, eine nicht geringe Bedeutung. Aber es ist schockierend, dass ein Vater seinem Käfer-Sohn mit Äpfeln seinen Panzer zerschlägt und ihn tötet. „ Es war kein Traum “ heißt es im Selbstkommentar des Käfers - oder des Erzählers? Wie dem auch sei, mit diesem Kommentar beginnt das Problem, denn die nahe liegende Frage lautet: Wenn es kein Traum ist, was ist es denn nun? Literarwissenschaftlich kann man sich leicht aus der Affäre ziehen mit dem Hinweis, dass hier ein Albtraum-Wunder zur brutalen Wirklichkeit mutiert, und das will heißen: an dieser Stelle hat das hoffnungsselige Märchen sein Ende und es wandelt sich zur tragischen Novelle. Aber die literarwissenschaftlichen Umschreibungen, mögen sie noch so präzise anmuten, sind Ausflüchte. Wenn es „ kein Traum “ war, dann war es tatsächliches Geschehen inmitten eines bestimmten familiären Verbandes in einer bestimmten historischen Zeit. Man kann das Geschehen hier nicht schnellfertig mit dem literarwissenschaftlichen Begriff „ Ereignis “ abtun, man muss den bestimmten Augenblick näher betrachten: Ein Seitenblick auf die strukturale Homologie zwischen Literatur und Gesellschaft ist höchst aufschlussreich. Während der Entstehung der Märchen- Novelle im Jahre 1912 dominiert ein schwüler Gegensatz zwischen kleinbürgerlichem Mief und patriarchaler Politik. Es regierten in Europa nicht weniger als sechs souveräne Könige bzw. Kaiser und Zaren. Es herrschte eine gefährliche Spannung, die mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ihre katastrophale Lösung fand. Der Kontrast zwischen dem utopischen Märchen-Wunder mit seiner Befreiung und Erlösung und der novellistischen Gegenwärtigkeit der Dinge scheint auf dem Höhepunkt. Gewiss ist ein Umkehrschluss möglich, aber er verwandelt das Albtraum-Ereignis zurück in Literatur: „ Kafkas pervertierte Märchen, die dieser pervertierten Welt entspringen, hätten dann - minus mal minus - die utopischen Kräfte früherer, noch nicht ausgeschöpfter Märchen fortentwickelt. “ 11 Ob Kafka, der Kenner der jüdischen und christlichen Überlieferung, des Alten und Neuen Testaments, eingedenk war des achten Kapitels im Paulinischen Römerbrief, in dem auch „ das ängstliche Harren der Kreatur [. . .] auf Hoffnung “ 12 gründet, bleibe dahingestellt. Dies ist auch nicht der Tenor der Untersuchung, sondern die Frage, inwieweit Gattungen, in diesem Fall die Märchen-Novelle, Paradigmen bzw. Spiegelungen ihrer Epochen sind. 124 Vierzehntes Kapitel F ÜNFZEHNTES K APITEL P ETER R ÜHMKORF : A UF W IEDERSEHEN IN K ENILWORTH (1980) ODER : „ M IT UNS SOLL DIE W ELT NOCH MAL IHR BLAUES W UNDER ERLEBEN . “ Ein unbekannter munterer Erzähler beginnt mit einer klangnahen Märchenformel: „ Vor vielen vielen Jahren “ - als ob er ein Märchen erzählen wollte. Aber dann schiebt er ein märchenfremdes „ Ich “ dazwischen und macht zeigefingernd darauf aufmerksam, dass er es sehr genau zu nehmen wünscht mit seinem „ viel “ , denn „ ein gutes Vierteljahrhundert ist es jetzt her - da lebte auf dem Schloss Kenilworth in England ein Kastellan mit Namen Jam McDamn nebst seiner Katze Minnie, auch Ginger genannt, denn sie hatte ein ingwerrotes Fell. “ 1 Der Leser merkt sogleich: Hier wird eine märchenhafte Stimmung auffallend künstlich fabriziert und absichtlich unterkühlt durch eine zugige Ironie. Und er erwartet mit seiner von Novellen und Romanen her erlernten Gespanntheit eine Geschichte besonderer Art, eine moderne Geschichte mit einer extraordinären Handlung, gewürzt mit subtilen Informationen und mit spöttelnden Kommentaren. Und genau so kommt es: Die ein zeitloses Märchen vortäuschende Geschichte ist wie eine Novelle präzise verzeitlicht und verortet. Sie spielt in unmittelbarer Gegenwart in der Schloss-Ruine Kenilworth in Schottland, die zwar Mittelpunkt von Touristen-Invasionen ist, zugleich aber dank ihres Kastellans als Fremdenführer eine exemplarische schottische Gespensterruine. Der Kastellan - das Wort täuscht vielleicht auf den ersten Blick oder ersten Laut einen alten mittelalterlichen Schloss-Diener vor, aber es handelt sich beim zweiten Blick um einen kleinen Portier. McDamn war „ nur eben ein kleiner Angestellter des städtischen Verkehrsbüros “ , der eine verfallende oder verfallene Schloss-Ruine verwaltet und den vielen aus allen Ländern zufällig oder absichtlich vorbeikommenden Schottland-Touristen mit einer kleinen Führung und einem knappen Vortrag aufzuwarten hat. Aber das ist ’ s oder war ’ s eben: McDamn, der Portier würzt seine historischen Referate mit deftigen Gespenster-Stories, und eine davon nimmt am 13. November des Jahres 1953 eine heikle Wendung. Angeblich sei der in den Ruinen des Schlosses umgehende Geist „ mit dem Namen Nöck Nickel oder - ausgeschrieben - Nicholas von Kenilworth, der bleiche Folgeschatten eines vor Hunderten von Jahren verfluchten Mannes. “ 2 Verflucht worden als Gespenst herumzuwandeln, sei er deshalb, weil er zu Lebzeiten seine Untertanen bzw. ergebenen Hörigen allzu sehr drangsaliert hatte: Kein Mittel war ihm zu arg, um seine Landarbeiter das Goldschwitzen zu lehren, kein Weg zu krumm, um unliebsame Nebenbuhler aus dem Leben zum Tode zu befördern, und als er im Jahre 1553 unter nie ganz aufgeklärten Umständen verstarb, nahm er statt frommer Segenswünsche die Verdammungsurteile des gesamten Hofgesindes mit ins Grab. 3 Nickel führt seit dieser Verfluchung eine „ Geisterexistenz “ . Aber der Leser wird vom Erzähler, der sich ohnehin häufig, das Geschehen märchenwidrig kommentierend, einschaltet, darauf hingewiesen, dass Vorsicht geboten sei, denn Geister bzw. Gespenster haben, ehe sie ganz verlöschen, einen Wunsch frei, den Wunsch der Verwünschung. Und das eben war oder ist das Verhängnis am 13. November 1953: Der Kastellan folgt an einem späten Abend, nein, um Mitternacht, seiner Katze Minnie, die, kratzend an der Fußmatte, anzeigt, dass sie wohl mal hinaus muss, folgt ihr durch schwer gangbare Ruinen hindurch, „ bis ihm auf einmal schien, als ob er ein zartes Klagen vernommen hätte. “ 4 McDamn, da er „ ein echtes Kind unseres modernen wissenschaftlichen Jahrhunderts “ 5 ist, geht dem „ als ob “ nach, weil er glaubt, „ das jämmerliche Maunzen “ käme aus dem nachtschwarzen Normannen-Kerker, und dorthin „ zog es ihn an den Wahnsinnsfäden einer ihm selbst nicht geheuren Wißbegierde. “ 6 Als ihm beim Blick in den sagenhaften Kerker die Lampe entgleitet und als noch einmal „ ein verhuschtes Leuchten “ im Schlot aufscheint, meint er, dem Spuk beikommen zu müssen, denn, so kommentiert der Erzähler: Wäre McDamn nicht der Mann gewesen, der er war, das heißt, eine problematische Natur, in der sich alte Wundergier und neumoderner Wissensdurst verhängnisvoll verbanden, wer weiß, ob der Spuk nicht gnädig an ihm vorübergegangen wäre. Nun aber [. . .]. 7 McDamn möchte es eben genau wissen, ob die in seinen Schauermärchen herumirrenden Gespenster nicht vielleicht doch wirklich sind, insbesondere natürlich der vielbeschworene Nickel, und es überkommt ihn „ das unabweisbare Verlangen “ , den fatalen Namen auszusprechen, ohne die Folgen zu fürchten: „ Wenn du der Nickel bist, dann gib dich mir zu erkennen! “ 8 Und seine Frage bleibt nicht ohne Antwort, aber die hat es in sich. McDamn glaubt nicht nur ein Laken zu sehen mit „ schwarzbraunschwarzen Brandlöchern darin “ 9 , er hört nicht nur seine Stimme, nämlich seine Verwünschung, sondern, obwohl oder weil er Beweise verlangt, bekommt er sie entgegen aller „ Wissenschaft und Forschung “ : 10 Er sieht noch, wie das Kätzchen Minnie, eben 126 Fünfzehntes Kapitel auf dem Felsbrocken hockend, sich in ein strahlend schönes Mädchen verwandelt und wissenschaftsgläubig darf er noch ausrufen: „ Das glaubt ja keine Maus! “ Dann aber verwirklicht sich Nickels Bann- und Verwünschungsfluch auch bei ihm: „ Du Gingerkatze, sollst hinfort als Menschenmädchen umgehen, und du McDamn, als ein Kater dein Leben in der Fremde fristen. “ McDamn, der gerne widersprechen möchte, kann nur mehr herausbringen: „ Mau-mä “ . Fraglich, ob er die fistelnde Stimme des sich leerwünschenden Nickel noch gehört hat: „ und sollt an zwei unzusammenhängende Ecken der Welt versetzt werden - der eine nach Italien und die andere nach Indien. “ Jedenfalls vernahm er noch den schwerverständlichen und geheimnisvollen Satz: „ Ein Wiedersehen ist ein Auferstehen in Kenilworth. “ 11 Der Erzähler meint nun, sich abermals einschalten zu dürfen: „ Wer noch niemals in seinem Leben eine Katze war und sich von einem Tag auf den anderen in die Stadt Rom versetzt sieht, muss sich durchfragen. “ 12 McDamn also findet sich als Kater in Rom wieder und als er schlagartig begreift, „ daß er nicht vom Traum zum Leben, sondern vom Leben zum Traum erwacht war “ , wird er zunächst von Angst und Hunger umgetrieben. Minnie stolpert natürlich als Menschenmädchen gleichfalls nur mit Angst und Hunger in die Welt. Während der eine in Rom, die andere in Indien mit den Menschen ihre ersten Erfahrungen machen, erlaubt sich der Erzähler einen nicht unbedeutenden Aphorismus: „ Der Mensch, gewiß, war alles andere, als er dachte, daß er sei. “ 13 McDamn, der hier Damnio heißt, hat sich unter Katern und Katzen in Rom zu behaupten, und Minnie hat sich als Dienstmädchen beim Zaubermeister Rhama Singh durchzubringen, von dem sie bald als eine Gläser balancierende Künstlerin erkannt und als anlernbare und verwertbare Artistin und Varieténummer gefördert und fachgerecht ausgebildet wird. Die Hochleistungen ihrer Panthersprünge beeindrucken das Publikum, insbesondere das „ Taubenwunder “ , bei dem Minnie einer fliegenden Taube nachspringt, sie im Fluge fängt und mit ihr auf dem Polsterkissen neben der Memsahib landet. Beide, McDamn als Kater in Rom, Minnie Ghinga als Artistin in Indien, absolvieren mit trotziger Geduld einerseits und mit geschmeidiger Dienstfertigkeit andererseits ihr Schicksal. Der neugierig gewordene Leser fragt sich mit gutem Recht: Was wird am Ende aus den beiden verwandelten und nun so weit voneinander entfernten Geschöpfen, zumal der Titel des vermeintlichen Märchens doch ein „ Wiedersehen “ in Aussicht stellt, und ein Märchen gewohnterweise nicht nur eine Lösung des Problems, sondern sogar eine Erlösung aus aller Verzauberung und Verhexung verspricht. Der Erzähler gibt 127 Peter Rühmkorf: Auf Wiedersehen in Kenilworth Antwort: „ Jedes Geheimnis hat bekanntlich ein Loch, jedes Wunder besitzt eine Nahtstelle, und wenn man daran rührt, erzittern für den Betroffenen die Festen der Welt. “ 14 Die Zeit geht hin, es vergehen Jahre. Minnie Ghinga, allzu sehr strapaziert von ihrem Varieté-Chef, dem Artisten-Dresseur und Zaubermeister Rhama Singh, macht sich eines Tages davon. Sie macht ihren Weg zunächst als „ Streunerin “ , wie ein Hafenpolizist sie nennt, dann als Schankmädchen, kann sich, obzwar oder eben weil höchst beliebt beim Hafenvolk und bei den polternden Matrosen, distanziert halten, kommt endlich an Bord der im Hafen von Bombay anliegenden „ Christobal Colon “ , wo sie der holländische Großwildfänger Buytendijk angeheuert hat, damit sie ihm dort helfe, seine für England bestimmte Fracht, seine Zwinger mit wilden Tieren zu überwachen. Minnie Ghinga aber hatte, vielleicht ein wenig unter dem Einfluss von Baldrian-Brandy, nur unter der Bedingung zugesagt, wenn ihre Route über Rom ginge. Das aber musste Buytendijk ohnehin, denn dort hatte er eine neue Fracht, die Zwangsladung von fünfhundert Labor- Katzen für England zu übernehmen. Der Erzähler, der das Ende natürlich vorausweiß, macht eine geheimnisvolle Andeutung, die eine Ahnung weckt und die Spannung schürt: „ Verschlungen und undurchsichtig sind die Wege des Himmels, aber die Pfade einer Katze führen am Ende allemal auf den Anfang zu. “ 15 Minnie Ghinga begleitet ahnungslos auf dem Wildtier- und Labor-Katzenschiff den in Rom eingefangenen Kater McDamn-Damnio und trifft ihn tatsächlich im Labor von Doktor Honeywell, dem sie „ als Tierliebhaberin und stellungsuchende Expertin “ 16 und „ Hospitantin “ 17 zur Hand geht. In seinem Katzen-Labor werden nach modernster biophysikalischer Methode Versuche angestellt, um „ das große Geheimnis der kätzischen Heimfindekunst “ 18 zu entschlüsseln. Minnie trifft in den Labor-Verliesen auf zahlreiche Katzen in zahlreichen Käfigen, die alle zu ihrer Verwunderung mit einem seltsamen „ Kopfputz “ zwischen den Ohren versehen sind, es sind eingelassene „ halbfingerlange Glasfiberstäbe “ . 19 Als Minnie endlich am Schaltpult vom ständig dozierenden Doktor Honeywell erfährt, er könne mit Knopfdruck „ in jeder beliebigen Katze praktisch jedes Gefühl “ , etwa „ die Animation der Fresslust oder des Schlafbedürfnisses “ 20 abrufen, da ist Minnie mit ihrer Aufmerksamkeit, Lernwilligkeit und Geduld am Ende. Mit allen zehn Fingern greift sie in die Tasten, zerstört zum Entsetzen von Doktor Honeywell die höchst empfindliche wissenschaftliche Apparatur und verkriecht sich teppichkratzend „ unter einen Präpariertisch “ , 21 wozu nun Doktor Honeywell nichts anderes stammeln kann als: 128 Fünfzehntes Kapitel „ interessant - interessant -“ . 22 Minnie aber, die nun „ erst richtig in Fahrt “ kommt, vollbringt in höchster Eile einen Akt allgemeiner Katzen-Revolution: Sie befreit im Handumdrehen alle Katzen und Kätzchen aus ihren Gelassen, lockert die Zwingen, entfernt die Drains und erkennt natürlich ihren McDamn: „ Wie ein tief verschlungenes Rätsel saßen sie sich gegenüber, ein Rätsel ohne einen genauen Sinn “ 23 und, nachdem sie die Markisen heruntergerissen, Regalwände umgestürzt hat, nimmt sie den Kater McDamn „ entschlossen in die Arme “ , schwingt sich mit ihm aufs Fensterbrett und ist mit einem artistischen Sprung im nächsten Moment auf dem „ mit hunderttausend grünen Hoffnungshänden winkenden Kastanienbaum “ . 24 Am Ende entkommt sie, den Sprung auf das Hochseil der Hochspannungsleitung eben auf Mc Damns Rat meidend, sich zwischen den Mitarbeitern der Wissenschafts-Manege hindurchschlängelnd, mit genauer Not im letzten Moment durch die sich pneumatisch schließenden Türen huschend, ins Freie, in den „ herzerwärmend undurchsichtigen Nebelnachmittag. “ 25 Der die Szenerie aufmerksam verfolgende Leser fragt sich: Was nun? Das Märchen scheint zu Ende und die Erlösung kann erfolgen, die wunderbare Metamorphose, die Entwünschung, die Entzauberung, und zum guten Ende die Rückkehr ins heimatliche Glück der angestammten Existenz. Aber nun geschieht ein neues, ein höchst modernes Wunder: Minnie pirscht mit ihrem McDamn im Arm durch märchenfremde Kartoffelfelder und Roggenschneisen, „ immer dicht an der brausenden A34 entlang “ , durch die vom Erzähler mit novellistischer Sorgfalt Ort für Ort haargenau und ortskundig beschriebene Landschaft, zielgerichtet „ gegen Nordnordost “ 26 und beide erreichen endlich „ die Reste eines verödeten Bauernhofes, den Damnio unschwer als eine aufgegebene Niederlassung der Fernhill-Farm erkannte “ . 27 Dort kehren sie vorerst ermüdet ein und verzehren am Kamin einen eben noch von Minnie gefangenen Fasan. Aber während Minnie über die fernere und auch über die eben verlaufene Vergangenheit nachdenkt, um „ vielleicht doch etwas Sinn in diesen rasenden Verlauf “ 28 zu bringen, gehen beide nach einer schlaftiefen Nacht wieder auf Wanderschaft und kommen tatsächlich in Kenilworth an - aber „ jedes auf seine Art besorgt, mit einem aberwitzigen Gedanken in die Nähe des Unausdenkbaren zu geraten. “ 29 Die „ Nähe des Unausdenkbaren “ ? Das eben wäre das folgenschwere Wunder der „ Entwandlung “ , wie Minnie es schon „ ahnungsvoll “ 30 beschwor, und wie McDamn es nur zu genau wusste, fürchtete und mit unheilvollen Vorstellungen jetzt denkend umkreist: Behördengänge, Polizeistationen, Ausnüchterungszellen, und so weiter - denn wer glaubt ihm denn das perfide und absurde Märchen-Wunder? Und er denkt und wünscht sich zurück in die 129 Peter Rühmkorf: Auf Wiedersehen in Kenilworth Fernhill-Farm, stößt Minnie mit dem „ Schädelchen unsanft gegen die Ferse “ 31 und macht ihr begreiflich: „ das Leben wird sonst niemals wieder werden, was es gerade ist. “ 32 Und Minnie begreift endlich und sagt mit unmissverständlichen Worten: „ Dann machen wir zwei uns eben das verrückteste Leben von der Welt. “ 33 Und sie beschließen, zu bleiben, was sie jüngst eben waren und jetzt noch sind, ein „ chimärisches Wesen “ - wie es, so bemerkt der Erzähler - „ freilich kein normaler Betrachter sich zusammenreimen konnte, denn was beliebt der Mensch nicht alles auseinanderzusehen, was heimlich und von Himmels wegen zusammengehört. “ 34 Und Minnie, obwohl keine philosophische Natur, beschließt das Märchen mit dem modernistischen Resümee: „ Mit uns soll die Welt noch mal ihr blaues Wunder erleben. “ 35 Man könnte es nun genug sein lassen, denn das „ blaue Wunder “ der Märchen- Poesie, wenn nicht überhaupt aller Poesie(! ), ist in exemplarischer und poetisch unterhaltsamer Weise vor Augen geführt worden. Der epilogische, allzu novellistisch sich verplaudernde Abstecher in die reale Zeit und in den wirklichen Raum, erscheint eher störend und überflüssig. Das höchst moderne Wunder ist eindrucksvoll genug: Ein verwunschener Mensch möchte lieber ein Tier bleiben und unterwirft sich willig der Fürsorge eines Mädchens, das deshalb von besonderer Tierliebe erfüllt ist, weil es selbst einmal ein Tier war. Das „ blaue Wunder “ dieses Paares ist so blau gar nicht und durchaus passabel in unserem überindustrialisierten und überelektronisierten Zeitalter, in dem verständlicherweise eine überökologisierte Natur-Nostalgie ausgleichend um sich greift. Der Mensch bekommt Angst vor seiner eigenen technischen Courage und möchte sich wohl manchmal gerne zurückducken in die immer noch unanfechtbar still in sich ruhende Natur. Aber das wäre eine unstatthafte und allzu märchenhafte Metamorphose - meint der Erzähler wohl, wenn er solch einem märchenseligen und eskapistischen monologue intérieur mit nackten Tatsachen ins Wort fällt: Er sei, berichtet er, in Sachen supranaturalistischer Forschungen nach England gereist; er habe dort in einem Dorfgasthaus mit dem ausgefallenen Namen „ Zu den zwei Katzen “ logiert, wo am späten Abend ein seltsames Pärchen zu seiner Verwunderung noch um Einlass gebeten: „ eine schöne junge Frau mit Haaren aus gesponnenem Bernstein und ein wackersteingrauer Kater “ . Man habe gemeinsam am Kamin bis und noch um Mitternacht über Geister und Gespenster gesprochen, habe dabei reichlich Ale und Gin getrunken, wobei der Kater ein gut Teil davon bekam, dann habe die Dame, die sich Miss Ginglass nannte, ihn gefragt, „ ob [er] nicht einen Blick in [seine] Zukunft werfen 130 Fünfzehntes Kapitel möchte. “ 36 Er habe aber nur bescheiden ein „ charakterologisches Gutachten “ erbeten, und nachdem er auf einem zerknitterten Zettel seinen Namen habe schreiben müssen, es umgehend und durchaus zu seiner Zufriedenheit erhalten und sozusagen als Zugabe noch eine Geschichte vom Kastellan McDamn und seinem Kätzchen Minnie alias Minnie Ghinga, Miss Ginger und Miss Ginglass. Als er am nächsten Morgen vom Wirt eine ungewöhnlich hohe, von ihm selbst unterschriebene Rechnung erhalten, habe er nichts anderes mehr tun können, als den Kopf zu schütteln und einen Scheck zu unterschreiben. Auf die Frage an den Wirt, an welche „ Firma “ er zu adressieren sei, habe dieser geantwortet: „ Schreiben Sie Nicholas Nicholson. Sie können die Zeile aber auch in Gottesnamen offen lassen. “ 37 131 Peter Rühmkorf: Auf Wiedersehen in Kenilworth A NMERKUNGEN E INLEITUNG 1 Dieter Lamping (Hrsg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart: Kröner 2009. S. 540 - 549. 2 Goethe: Wahlverwandtschaften II, 10: „ Dieser [der Lord] wußte nichts von den Verhältnissen der Familie; allein jener [der Lordbegleiter], den eigentlich auf der Reise nichts sehr interessierte als die sonderbaren Ereignisse, welche durch natürliche und künstliche Verhältnisse, durch den Konflikt des Gesetzlichen und des Ungebändigten, des Verstandes und der Vernunft, der Leidenschaft und des Vorurteils hervorgebracht werden, jener hatte sich schon früher, und mehr noch im Hause selbst, mit allem bekannt gemacht, was vorgegangen war und noch vorging. “ (Hamburger Ausgabe 1964 [HA] VI, 73). - J. P. Eckermann: Gespräche mit Goethe. 1. Teil v. 29. I. 1827: „ [. . .] Was ist eine Novelle anderes als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit. Dies ist der eigentliche Begriff, und so vieles, was in Deutschland unter dem Titel Novelle geht, ist gar keine Novelle, sondern bloß Erzählung oder was Sie sonst wollen. In jenem ursprünglichen Sinne einer unerhörten Begebenheit kommt auch die Novelle in den Wahlverwandtschaften vor. “ (Artemis-Ausgabe XXIV, 225). 3 A. W. Schlegel: Vorlesung über Schöne Literatur und Kunst III. 1803 - 1804: „ Die Novelle kann von ernsten Begebenheiten mit tragischer Katastrophe bis zur bloßen Posse alle Töne durchlaufen, aber immer soll sie in der wirklichen Welt zu Hause sein, deswegen liebt sie auch die ganz bestimmten Angaben von Ort, Zeit und Namen der Personen. Daher muß sie den Menschen in der Regel nach seinem Naturstande nehmen, d. h. mit allen seinen Schwächen, Leidenschaften und selbstischen Trieben, welche der ungeläuterten Natur anhängen. Sie soll den Weltlauf so schildern, wie er ist; sie darf also die Motive im allgemeinen nicht über Gebühr veredeln. Gibt sie dadurch Anstoß? Man kann erwidern: Die Welt ist durchaus anstößig für den, der ihr Treiben so geradehin für ein Muster der Nachfolge annehmen wollte. Es gibt dafür kein andres als der verständige Blick und die überlegene Ansicht, und diese ist es eben, welche der Novellist hervorrufen will, indem er die Gemeinheit der Motive keineswegs verkleidet. Aber warum, könnte man wieder einwenden, muß denn die Sittsamkeit so häufig verletzt, warum die ganze skandalöse Chronik ausgekramt werden? - [. . .] Die Sache verhält sich so. Die Novelle ist eine Geschichte außer der Geschichte, sie erzählt folglich merkwürdige Begebenheiten, die gleichsam hinter dem Rücken der bürgerlichen Verfassungen und Ordnungen vorgefallen sind. “ (DLD IX, 247 f.) - Theodor Storm: Eine zurückgezogene Vorrede. 1881: „ Die Novelle, wie sie sich in neuerer Zeit, besonders in den letzten Jahrhunderten ausgebildet hat [. . .] ist nicht mehr wie einst, die kurzgehaltene Darstellung einer durch ihre Ungewöhnlichkeit fesselnden und einen neuen überraschenden Wendepunkt darbietenden Begebenheit; die heutige Novelle ist die Schwester des Dramas und die strengste Form der Prosadichtung. Gleich dem Drama behandelt sie die tiefsten Probleme des Menschenlebens; gleich diesem verlangt sie zu ihrer Vollendung einen im Mittelpunkt stehenden Konflikt, von welchem aus das Ganze sich organisiert, und demzufolge die geschlossenste Form und die Ausscheidung alles Unwesentlichen; sie duldet nicht nur, sie stellt auch die höchsten Forderungen an die Kunst. “ (Werke. Stuttgart 1958. III, 524). 4 Le cabinet des fées. Amsterdam 1749 - 1761. 8 Bde. Amsterdam/ Paris 1785 bis 1789, 41 Bände. - Jean Antoine Galland: Les mille et une Nuits traduits en Francais. 1704 - 1712. Anonym-arabische Slg. aus 8.-16. Jh. - F. Petit de la Crois u. Lesage: Mille et un Jour. 5 Bde 1710 - 1712. Dt. Übs. Fr. v. d. Hagen 1827 - 1832. Anonym-indisch-pers. Slg. aus 18. Jh. - Les mille et une heures. Amsterdam 1733. - Les mille et un quart d ’ heure. Den Haag 1715 - 1717. - Fr. Raspe: Kabinett der Feen. 1761 - 1766. - Friedrich-Justus Bertuch: Blaue Bibliothek aller Nationen. 11 Bde. 1790 - 1797. Neuausgabe Klaus Hammer (Hrsg.): Französische Feenmärchen des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1980. - Christoph Martin Wieland: Dschinnistan. 1768 - 1789. - Wieland im Teutschen Merkur 1777: „ Von allen Orten und Enden wird mir ’ s zugerufen: mehr Märchen [. . .]. “ 5 Siehe Anm. 1. 6 „‚ Wissen Sie nicht ‘ , sagte Karl zum Alten, ‚ uns irgendein Märchen zu erzählen? Die Einbildungskraft ist ein schönes Vermögen, nur mag ich nicht gern, wenn sie das, was wirklich geschehen ist, verarbeiten will. Die luftigen Gestalten, die sie erschafft, sind uns als Wesen einer eigenen Gattung sehr willkommen; verbunden mit der Wahrheit bringt sie meist Ungeheuer hervor und scheint mir alsdann mit dem Verstand und der Vernunft im Widerspruche zu stehen. Sie muß sich, deucht mich, an keinen Gegenstand hängen, sie muß uns keinen Gegenstand aufdringen wollen, sie soll, wenn sie Kunstwerke hervorbringt, nur wie eine Musik auf uns selbst spielen, uns in uns selbst bewegen, und zwar so, daß wir vergessen, daß etwas außer uns sei, das diese Bewegung hervorbringt. ‘“ (HA VI, 208). 7 „ In seiner Abneigung gegen Poesie erscheint Mahomet auch höchst konsequent, indem er alle Märchen verbietet. Diese Spiele einer leichtfertigen Einbildungskraft, die vom Wirklichen bis zum Unmöglichen hin und wider schwebt und das Unwahrscheinliche als ein Wahrhaftes und Zweifelloses vorträgt, waren der orientalischen Sinnlichkeit, einer weichen Ruhe und bequemem Müßiggang höchst angemessen. Diese Luftgebilde, über einem wunderlichen Boden schwankend, hatten sich zur Zeit der Sassaniden ins Unendliche vermehrt, wie sie uns „ Tausend und eine Nacht “ , an einen losen Faden gereiht, als Beispiele darlegt. Ihr eigentlicher Charakter ist, daß sie keinen sittlichen Zweck haben und daher den Menschen nicht auf sich selbst zurück, sondern außer sich hinaus ins unbedingte 133 Anmerkungen Einleitung Freie führen und tragen. Gerade das Entgegengesetzte wollte Mahomet bewirken. “ (HA II, 145 f.). 8 HA VI, 208 f. 9 Novalis: Das allgemeine Brouillon. In: Schriften. Hrsg. v. Richard Samuel. Darmstadt 1968. III, 449. 10 André Jolles: Einfache Formen: Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen: Niemeyer 1930. 1974 4 . 1982 6 . S. 243: „ So entsteht das einfache Paradoxon, das die eigentliche Grundlage des Märchens bildet: Das Wunderbare ist in dieser Form nicht wunderbar, sondern selbstverständlich. “ - Max Lüthi: Es war einmal. . . Vom Wesen des Volksmärchens. 2. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1964. S. 29: „ In Sage und Legende fasziniert, erschüttert, erschreckt oder beseligt das Wunder, im Märchen ist es selbstverständlich geworden. “ - Lutz Röhrich: Märchen und Wirklichkeit. 2., erw. Aufl. Wiesbaden: Steiner 1964. S. 23 f.: „ Im Märchen wirkt das Wunderbare nicht als Wunder, sondern wie eine Selbstverständlichkeit, die weder bestaunt noch erklärt zu werden braucht. “ - Siehe dazu ferner: Das selbstverständliche Wunder. Die Welt im Spiegel des Märchens. Hrsg. von der Evangelischen Akademie Baden. Karlsruhe 1956. 11 Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen. Bern: Francke 1947. Dort weitere Formelemente: Flächenhaftigkeit. Abstrakter Stil. Isolation und Allverbundenheit. Sublimation und Welthaltigkeit. E RSTES K APITEL Novalis: Hyazinth und Rosenblütchen (1798/ 1802) oder: „ Das Mährchen ist gleichsam der Canon der Poesie. “ 1 Novalis: Schriften. Hrsg. v. Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Darmstadt 1960 ff. III, 449. Nr. 234. Das Allgemeine Brouillon. Nr. 940. 2 Originaltexte: Le Cabinet des Fees. Ed. C. J. Mayer. Genf 1786 - 1789. 35 Bde, später 41 Bde. Darin Bd. I: Perrault, L ’ Heritier, de Murat, Bd. 2 - 5: d ’ Aulnoy, Bd. 2: de La Force, Bd. 26: de Villeneuve, Bd. 32: de Lintot, Bd. 35: de Fagnan. Le Prince de Beaumont (Notice des Auteurs, Bd. 37). - Übersetzungen: Die blaue Bibliothek aller Nationen. Übers. und hrsg. von Friedrich Justin Bertuch. Gotha 1790. - Das Cabinett der Feen oder Gesammelte (sic! ) Feen- und Geistermärchen. Übers. von Friedrich Immanuel Bierling, Nürnberg 1761. - Neue Feen- und Geistermärchen. Übers. von H. v. Teubern. Leipzig 1768. - Magazin für Kinder, eingerichtet v. Johann Joachim Schwaben. Leipzig 1768. 3 In der Märchen-Forschung wird das Selbstverständliche des Märchenwunders unermüdlich wiederholt. Siehe E INLEITUNG . Anm. 10. 4 Johann Karl August Musäus: Volksmärchen der Deutschen. Gotha 1782 - 1786. Vorrede: „ Die Phantasie, ob sie gleich nur zu den unteren Seelenfähigkeiten 134 Anmerkungen gehöret, herrscht, wie eine hübsche Magd gar oft über den Herrn im Hause, über den Verstand. “ Insel 1988. S. 11 f. 5 Christoph Martin Wieland: Die Salamandrin und die Bildsäule: „ Die Täuschung des Wunderbaren hat etwas so anziehendes und zauberisches für die meisten Menschen, daß man oft schlechten Dank bey ihnen verdient, wenn man sie hinter die Kulissen führt, und die vermeinten Wunder einer künstlichen Täuschung vor ihren Augen in ihre wahre Gestalt herab würdiget. [. . .] daß eine Erdentochter ihrer Art das Urbild zu den Sylfiden und Salamandrinnen gewesen seyn müsse, womit eine fantastische Geisterlehre die reinern Elemente bevölkert hat. “ Wielands Gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Preuß. Akademie d. Wissenschaften. 1. Abt.: Werke. 18. Bd. Dschinnistan. Hrsg. v. Siegfried Mauermann. Berlin. 1938. S. 229. 6 Novalis. Schriften III, 438. Allg. Brouillon Fragment. Nr. 883. 7 Novalis. Schriften III, 281. Allg. Brouillon Fragment. Nr. 234. Weitere Fragmente zum Märchen Allg. Brouillon. 746. 986. 8 Hans Joachim Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. Heidelberg 1965. (= Probleme der Dichtung Bd. 7). 9 Novalis. Schriften III, 281. Allg. Brouillon Fragment. Nr. 234. 10 Vgl. etwa Hölderlin: Hyperion. 1794: „ Ja! ein göttlich Wesen ist das Kind, solang es nicht in die Chamäleonsfarbe der Menschen getaucht ist. “ Sämtliche Werke. Hrsg. v. Friedrich Beissner. Stuttgart 1957. III, 10 ff. - Wackenroder/ Tieck: Phantasien über die Kunst. 1798. Dort: Über Kinderfiguren auf Raffaelschen Bildern: „ So kömmt denn in unsre Seele die Erinnerung der himmelsüßen Unschuld, immer tiefer, ernster und heiterer schauen wir in das spiegelnde Gewässer hinab, und glauben am Ende nichts wahrzunehmen als uns, und über unserm Haupte die lichten Wolken, wie im Begriff, als Glorie herunterzusteigen und uns mit Strahlen zu umflechten. “ „ Dieser Ätherschimmer, diese Erinnerungen der Engelswelt leben und regen sich noch hell und frisch im Kindergeiste [. . .] und darum stehen die Kindlein wie große Propheten unter uns, die uns in verklärter Sprache predigen, die wir nicht verstehen. “ „ Denn sind die Menschen nicht verdorbene ungeratene Kinder? “ Werke u. Briefe. Heidelberg 1938. Photomech. Ndr. Heidelberg 1967. S. 178 ff. - Wilhelm Grimm: Vorrede zu den Kinder- und Hausmärchen der Ausg. 1815: „ Kinder deuten ohne Furcht in die Sterne, während andere nach dem Volksglauben Engel damit beleidigen. “ Kleinere Schriften I, 328 - 332. 11 Novalis. Schriften III, 455. Allg. Brouillon Fragment. Nr. 989. 12 Friedmar Apel: Die Zaubergärten der Phantasie. Zur Theorie und Geschichte des Kunstmärchens. Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag 1978. S. 135. 13 Novalis. Schriften I, 91 f. 14 Charles Perrault: Contes de ma mère l ’ Oye. Histores ou contes du temps passe des moralites. Entst. 1695. Erstausg. Paris 1697. 15 Novalis. Schriften I, 92. 16 Novalis. Schriften I, 93. 135 Erstes Kapitel 17 Gerhard Schulz: Der Fremdling und die blaue Blume. Zur Novalis-Rezeption. In: Romantik heute. Friedrich Schlegel. Novalis. E. T. A. Hoffmann. Tieck. Hrsg. von G. Schulz. Bonn/ Bad Godesberg 1972. S. 41: Sch. zitiert die Ökonomisch-philosophischen Schriften von Karl Marx vom Jahre 1844: „ Je mehr der Arbeiter sich ausarbeitet, um so mächtiger wird die fremde, gegenständliche Welt, die er sich gegenüber schafft, um so ärmer wird er selbst, seine innere Welt, um so weniger gehört ihm zu eigen. “ „ Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus. “ Sch. konstatiert, dass Marx ’ Entfremdungstheorie „ einen Schuss echter Romantik enthält. “ 18 Hebr. 11,13. 19 Eph. 2,19. 20 Friedrich Schlegel: Werke. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler. 1967. 1. Abt. II, 204. Fragment Nr. 238. [KA] 21 Maurice Blanchot: Das Athenäum. Aus dem Französischen von R. Hörisch-Hilligrath. In: Romantik. Literatur und Philosophie. Internationlae Beiträge zur Poetik. Hrsg. v. Volker Bohn. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1987. S. 114 (= edition suhrkamp1395.) NF Bd. 395. Frz. Originaltitel: L ’ Athenaeum: In: L ’ Entretien infini. Paris 1969. Edition Gallimard 1969. 22 Novalis. Schriften II, 416 - 419. Blütenstaub-Fragment Nr. 17. 23 Apel. 1978. S. 134. 24 Mähl. 1965. S. 410. 25 Novalis. Schriften I, 93. 26 Ebd. 27 Paul-Wolfgang Wührl: Das deutsche Kunstmärchen. Heidelberg: Quelle und Meyer 1984. S. 74. 28 Novalis. Schriften I, 93. 29 Apel. 1978. S. 162. 30 Ebd. 31 Karl Leberecht Immermann: Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken. Entst. 1837 - 1839. Erstdr. Düsseldorf: Schaub 1838/ 39. - S. auch: Märchen Deutscher Dichter. Hrsg. v. Paul Wolfgang Wührl. Frankfurt: Insel o. J.: Die Wunder im Spessart. Ein Waldmärchen. 32 Schillers Werke. Nationalausgabe. Hrsg. v. Julius Petersen und Friedrich Beißner. Weimar. Böhlau 1943 ff. I, 254 - 256. 33 Novalis. Schriften II, 584. Logolische Fragmente Nr. 250. 34 Roland Heine: Transzendentalpoesie. Studien zu Friedrich Schlegel, Novalis und E. T. A. Hoffmann. Bonn. Bouvier 1975. 1985 2 . (= Abhandlung zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft Bd. 144). S. 102: H. argumentiert ähnlich im Blick auf Ofterdingens Traum von der blauen Blume: „ Weil dieser Traum mehr als bloßer Traum, das Symbol der blauen Blume mehr als bloßes Symbol ist, muß der Traum von der blauen Blume für Heinrichs Leben verbindlicher sein, als es ein bloß subjektiver Traum und ein bloß ästhetisches Symbol sein könnten. Heinrichs Traum steigert die Verbindlichkeit des Symbols, das zum erstenmal in den Erzählungen des Fremden auftauchte. Das Symbol der blauen Blume verbindet 136 Anmerkungen Heinrich einerseits mit der transzendentalen Welt, die im Traumbild anschaulich wird, und andererseits mit seiner eigenen Zukunft, die in diesem Traum prophetisch vorweggenommen wird. “ Siehe auch D. Weber: Friedrich Schlegels Transzendentalpoesie und das Verhältnis von Dichtung und Kritik im 18. Jahrhundert. München: Fink 1970. 35 Apel. 1978. S. 161. 36 Romantische Träume sind ungewöhnlich zahlreich, einige Beispiele: Wackenroder: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders: Raffaels Traum. - G. H. Schubert: Symbolik des Traumes. - Tieck: Wilhelm Lovell: Thomas ’ Traum; Franz Sternbalds Wanderungen: Sternbalds Traum; Die Sommernacht: Shakespeares Traum; Des Lebens Überfluß: Heinrichs Traum; Der Runenberg: Christians Traum; Ritter Blaubart: Simons Traum. - Novalis: Die Lehrlinge zu Sais (Hyazinth und Rosenblütchen): Hyazinths Traum. - Jean Paul: Titan: Albanos Traum; Siebenkäs: Traum von der Rede des toten Christus vom Dach des Weltgebäudes herab; Die unsichtbare Loge: Gustavs Traum. - Kleist: Die Marquise von O . . .: Traum des Grafen. - Brentano: Traum der Wüste. - Eichendorff: Das Marmorbild: Florios Traum; Ahnung und Gegenwart: Traum des Grafen. - Achim von Arnim: Mistris Lee: Traum der Mistris Lee. - Weitere Beispiele: Elisabeth Fenzel: Motive der Weltliteratur. Stuttgart: Kröner. 1970. S. 786 - 793. 37 S. E INLEITUNG . Anm. 10. 38 Kinder- und Hausmärchen. Ausg. 1819 Vorrede: „ Das ist der Grund, warum wir durch unsere Sammlung nicht bloß der Geschichte der Poesie und Mythologie einen Dienst erweisen wollten, sondern es zugleich Absicht war, daß die Poesie selbst, die darin lebendig ist, wirke und erfreue, wen sie erfreuen kann, also auch, daß es als ein Erziehungsbuch diene. “ Hrsg. v. Heinz Rölleke. Stuttgart: Reclam 1980. I, 16 f. 39 Novalis. Schriften III, 260. Allg. Brouillon Nr. 106. 40 Ebd. I, 82 f. 41 Ebd. 96. 42 Ebd. II, 456. Blüthenstaub-Fragment Nr. 96. Vgl. dazu Hans-Heino Ewers: Kindheit als poetische Daseinsform. Studien zur Entstehung der romantischen Kindheitsutopie im 18. Jahrhundert. Herder, Jean Paul, Novalis und Tieck. München: Fink 1989. S. 139 - 193. Kap.: „ Wo Kinder sind, da ist ein gold ’ nes Zeitalter. “ Transzendentalphilosophie und Kindheitsmystik bei Novalis. 43 Novalis. Schriften II, 609. Teplitzer Fragmente Nr. 77. 44 Ebd. III, 281. 137 Erstes Kapitel Z WEITES K APITEL Johann Wolfgang Goethe: Die Neue Melusine (1772/ 1829) oder: „ nun aber haben wir den Schatz die Treppe hinuntergehen sehen “ 1 Clemens Brentano. Werke. Hrsg. v. Wolfgang Frühwald u. Friedhelm Kemp. München: Hanser 1968. I, 454. 2 HA IX, 466 ff. 3 Ebd. 433. 4 Albert Bielschowsky: Friederike Brion. Breslau 1880. S. 15. - Max Morris: Goethe- Studien. Berlin 1902. II, 90 - 95. - Ernst Traumann: Goethes Sesenheimer Märchen. In: Das literarische Echo 1922/ 23. Jg. 25. Sp. 203 - 208. - Emil Krüger: Die Novellen in Wilhelm Meisters Wanderjahren. Kiel 1926. Dort: Kap. zur ‚ Neuen Melusine ‘ . - Henrik Becker: Eine Quelle zu Goethes ‚ Neuer Melusine ‘ . In: Ztschr. f. dt. Philologie 52. 1927. S. 150 f. - Ernst Friedrich v. Monroy: Zur Form der Novelle in ‚ Wilhelm Meisters Wanderjahre ‘ . In: M 31. 1943. S. 1 - 19. - Hans Wolff: Goethe in der Periode der Wahlverwandtschaften. (1802 - 1809). München 1952. - Gonthier-Louis Fink: Goethes ‚ Neue Melusine ‘ und die Elementargeister. In: Goethe. Neue Folge des Jb. d. Goethe-Ges. 21. 1959. - Oskar Seidlin: Melusine in der Spiegelung der Wanderjahre. In: Aspekte der Goethezeit. Hrsg. v. Stanley A. Corngold u. a. Göttingen 1977. S. 146 - 162. - Volker Klotz: Das europäische Kunstmärchen. Fünfundzwanzig Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance bis zur Moderne. Stuttgart 1985. S. 122 - 127. - Monika Schmitz-Emans: Vom Spiel mit dem Mythos. Goethes Märchen ‚ Die neue Melusine ‘ . In: Goethe-Jb. 1988. S. 316 - 332. 5 HA VI, 9. 6 Brief an Schiller vom 12.VII.1797. In: WA IV. 12. S. 231. - Vgl. dazu schon Brief an Schiller vom 4.II.1797. WA IV. 12. S. 31 f.: „ Das Märchen mit dem Weibchen im Kasten lacht mich manchmal auch wieder an, es will aber noch nicht recht reif werden. “ 7 HA VIII, 352 - 376. Kommentar VIII, 693 - 695. 8 HA IX, 36. - Zu Goethes Kenntnis des Melusinen-Motivs: Friedrich Wilhelm Zachariae: Zwei neue schöne Mährlein. Leipzig 1772. Dort: Von der schönen Melusinen; einer Meerfey. - Goethes Rezension dazu in: WA I. 27. S. 229. - Zur Überlieferung: Thüring von Ringoltingen: Melusine. Nach den Handschriften kritisch hrsg. v. Karin Schneider. Berlin 1958. (= Übs. der frz. Melusinen-Sage nach Couldrette Méllusine ou Le roman de Lusignan ou de Parthenay.) - Karl Heisig: Über den Ursprung der Melusinen-Sage. In: Fabula 3. 1960. S. 171 ff. - Claude Lecouteux: Zur Entstehung der Melusinen-Sage. In: Ztschr. f. deutsche Philologie. 1979. S. 73 ff. - Walburga Hülk: Melusine-Lusignan. Fiktive Genealogie im Namen der Mutter. Zum altfranzösischen Melusinenstoff. In: Sehnsucht und Sirene. Hrsg. v. Irmgard Roebling. Pfaffenweiler 1952. S. 35 - 48. 138 Anmerkungen 9 WA IV. 10. S. 303. - Zu Goethes Beziehung zum Märchen s. Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Berlin/ NY 1987. V, 1340 f. 10 Vgl. Katharina Mommsen: Goethe und 1001 Nacht. Berlin 1960. Ndr. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1981. 11 Vgl. Katharina Mommsen: Natur- und Fabelreich im Faust II. Berlin: de Gruyter 1968. Bes. S. 168 - 180. 183 - 190. 243 - 247. 12 Noten und Abhandlungen zum Westöstlichen Divan. HA II, 145 f. - Vgl. Anm. 6 u 7. 13 Rotmäntel sind nicht selten in der Literatur. Siehe etwa: Musäus: Stumme Liebe; Contessa: Magister Rößlein; E. T. A. Hoffmann: Abenteuer in der Sylvesternacht, hier führt er den beredten Namen „ Dapertutto “ . 14 HA VIII, 352. 15 Fink verweist auf Galli de Bibienas Märchenroman La Poupée von 1747, der in einer Übersetzung bzw. Überarbeitung von Goethes Schwager Ch. A. Vulpius seit 1790 unter dem Titel Die Puppe vorlag. Dort bereits sowohl die Verbindung eines Menschen, eines Klerikers, mit einer Nymphe, die sich in eine Puppe verwandelt, als auch der Ich-Erzähler seines Märchens. 16 HA VIII, 356. 17 Das Motiv des geheimnisvollen Kästchens dürfte geläufig gewesen sein. Man konnte es finden in der Rahmen-Geschichte von Tausend-und-eine-Nacht, in Gullivers Reisen von Jonathan Swift, später in Goethes Natürlicher Tochter, im ersten Teil des Faust, in den Kinder- und Hausmärchen, in Heines Jehuda Ben Halevi u. ä. 18 HA VIII, 358. 19 Ebd. 361. 20 Ebd. 361 f. 21 Ebd. 363. 22 Ebd. 23 Ebd. 365. 24 Ebd. 371. 25 Vgl. ebd. 372. 26 HA VIII, 372. 27 Ebd. 374 f. 28 Ebd. 376. 29 Vgl. Clavigo, Götz von Berlichingen, Nausikaa. 30 HA Briefe I, 150. 31 WA IV, 12. S. 231. 32 Christine Lubkoll: In den Kasten gesteckt. Goethes ‚ Melusine ‘ . In: Sehnsucht und Sirene. Hrsg. v. Irmgard Roebling. Pfaffenweiler 1992. S. 53. 33 Fink. 1959. S. 140. 34 Ebd. S. 142. 148 f.: F. beschreibt präzise die Motiv-Tradition des Kästchens und der hübschen Rokoko-Puppe. 35 Vgl. Morris. 1902. II, 90 - 95. 139 Zweites Kapitel 36 Vgl. Wolff. 1952. 37 Vgl. Becker. 1927. 38 Fink. 1959. S. 150. 39 Es verwundert, dass in der literaturwissenschaftlichen Forschung das Motiv des Geldes und des Goldes in der Novelle bzw. in der Märchen-Novelle kaum Beachtung findet! 40 Klotz. 1985. S. 122. 41 Theodore Ziolkowski: Der Karfunkelstein. In: Euphorion 55. 1961. S. 297 - 326. 42 Klotz. 1985. S. 127. 43 Lubkoll. 1992. S. 49 - 63. L. betont zwar die „ Problematisierung der Geschlechterbeziehung “ in der „ Novelle “ (! ), das „ Verhältnis von Mann und Frau “ , aber erstmalig wird zugleich der „ Zusammenhang von Liebe und Ökonomie “ herausgearbeitet. S. 50 - 54. - Siehe auch Henriette Herwig: Mann und Frau in Goethes Märchen ‚ Die neue Melusine ‘ . In: Colloquium Helveticum 17. Freiburg 1993. S. 39 - 54. H. macht aufmerksam auf die durch Geld verursachte Wunder- Blindheit des Barbiers und auf die amphibolische Bedeutung des Wort-Bildes „ Schatz “ bei Goethe. S. 46. 44 Zum Motiv Geld im Roman siehe J. Hörisch: Gott, Geld und Glück. Zur Logik der Liebe in den Bildungsromanen Goethes, Kellers und Thomas Mann. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1983. 45 HA XIV, 78 f. - WA III, 207 f. 46 HA III, 179. V. 5782. - III, 191. V. 6198. D RITTES K APITEL Ludwig Tieck: Der Runenberg (1802/ 1812 - 1816) oder: „ Wunderbare, unermeßliche Schätze [. . .] in den Tiefen der Erde “ 1 Klotz. 1985. S. 18. 2 Manfred Frank: Das kalte Herz. Texte der Romantik. Frankfurt/ Main: Insel 1978. F. beleuchtet in beispielhafter Weise in literarischer und ökonomischer Perspektive diesen Prozess ohne indessen das Phänomen der Gattung Märchen-Novelle zu berücksichtigen. Die vorliegende Studie weiß sich seiner Vorarbeit verpflichtet. 3 Ludwig Tieck ’ s Schriften. Berlin 1828 ff. IV. 113 f. 4 Tieck. Schriften IV,128 - 129. 5 Ebd. 20. 6 Ebd. 213. 7 Ebd. 214. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd. 217 ff. 12 Ebd. 218. 140 Anmerkungen 13 Ebd. 224 f. 14 Ebd. 229. 15 Ebd. 238. 16 Ebd. 234. 17 Ebd. 235. 18 Ebd. 237. 19 Ebd. 241. 20 Ebd. 243. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Klotz. 1985. S. 159. 25 Über das Motiv des Bergwerks in der Romantik informiert beispielhaft Theodore Ziolkowski: German Romanticism and Its Institutions. Princeton 1990. Dt. Übs. aus dem Amerikanischen v. Lothar Müller: Das Amt des Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen. Stuttgart: Klett-Cotta 1992. S. 29 - 74 Kap.: Das Bergwerk: Bild der Seele. - Zur Übertragung des Motivs auf Seele und Geist vgl. etwa Hölderlins Hyperion: „ O komm! in den Tiefen der Gebirgswelt wird das Geheimnis unseres Herzens ruhn, wie das Edelgestein im Schacht. “ (Sämtliche Werke. 1964 ff. II, 138) 26 Novalis. Schriften. II, 418/ 419. Blütenstaub-Fragment Nr. 17. 27 Tieck. Schriften IV, 244. 28 Ebd. 29 Ebd. 283. 30 Ebd. 285. 31 Ralf Stamm: Ludwig Tiecks späte Novellen. Grundlage und Technik des Wunderbaren. Stuttgart/ Köln: Kohlhammer 1973 (= Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur. Bd. 31.) Dort Lit. 32 R. Minder: Das gewandelte Tieck-Bild. In: Festschrift für Klaus Ziegler. Hrsg. v. E. Katholy u. a. Tübingen 1968. S. 181 - 204. 33 Vgl. dazu P. G. Klussmann: Ludwig Tieck. In: Deutsche Dichter des 19. Jahrhunderts. Hrsg. v. Benno v. Wiese. Berlin 1969. S. 15 - 53. Bes. S. 15. V IERTES K APITEL E. T. A. Hoffmann: Die Bergwerke zu Falun (1818/ 1819) oder: „ Unten liegt mein Schatz, mein Leben, mein alles! “ 1 Emil Staiger: Ludwig Tieck und der Ursprung der deutschen Romantik. In: Ders.: Stilwandel. Studien zur Vorgeschichte der Goethezeit. Zürich/ Freiburg im Br. 1963. S. 175 - 204. 2 Beispielhaft gemalt in Fontanes rückblickenden Erstlingsroman mit dem beredten Titel Vor dem Sturm (1878). 141 Viertes Kapitel 3 Gotthilf Heinrich Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden: Arnoldische Buchhandlung 1808. 8. Vorlesung. S. 215 - 216. 4 Ebd. S. 216. 5 Jason Nr. 1. 1809. S. 394. Entn. Hebels Werke: Hrsg. v. Otto Behaghel. Stuttgart/ Berlin 1883. II, 235. (= Deutsche Nationalliteratur 142). 6 Klaus J. Heinisch: E. T. A. Hoffmann: ‚ Die Bergwerke zu Falun ‘ . In: Deutsche Romantik. Interpretationen. Paderborn: Schöningh 1966. S. 135. 7 E. T. A. Hoffmanns Sämtliche Werke, Tagebücher, Briefe. Hrsg. u. eingel. von Rudolf Frank. München/ Leipzig 1924. V, 238 passim. 8 Ebd. 247. 9 Ebd. 250. 10 Ebd. 242. 11 Ebd. 252. 12 Zielkowski. 1961. S. 297 - 326. Z. referiert auf der soliden Basis gesicherter Quellenkunde von Theophrast (um 315 v. Chr.) bis Novalis die unveränderte Bedeutung des Steins in politischen, medizinischen, alchemistischen Traktaten, in Epen, Erzählungen und Gedichten. Vgl. D RITTES K APITEL . Anm. 25. - Zur religiösen und poetischen Bedeutung der Perle s. Friedrich Ohly: Tau und Perle. In: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977. S. 274 - 292. - Ders.: Die Geburt der Perle aus dem Blitz. In: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977. S. 293 - 311. - Dieter Arendt: Der falsche Prinz. Seelen-Metaphysik und Perlen-Metaphorik. In: Wirkendes Wort 39. 1989. S. 329 - 344. 13 Hoffmann. Sämtl. Werke V, 253. 14 Ebd. 15 Tieck. Schriften. IV, 242. 16 Ebd. 243. 17 Lüthi. 1947. S. 27: „ In derselben Richtung wirkt die Neigung des Märchens, Dinge und Lebewesen zu metallisieren und zu mineralisieren. Nicht nur Städte, Brücken und Schuhe sind steinern, eisern oder gläsern, nicht nur Häuser und Schlösser sind golden oder diamanten, auch Wälder, Pferde, Enten, Menschen können golden, silbern, eisern, kupfern sein oder plötzlich zu Stein werden. Metallische Ringe, Schlüssel, Glocken, goldene Gewänder, Haare, Federn oder Edelsteine und Perlen kommen fast in jedem Märchen vor. Besonders beliebt sind goldene Äpfel. Goldene und silberne Birnen, Nüsse, Blumen, gläserne Werkzeuge, goldene Spinnräder gehören zu den stehenden Märchenrequisiten. “ 18 Beispiele in Titeln: Wackenroder: Wunderbares morgenländisches Märchen vom nackten Heiligen; Die Wunder der Tonkunst; Von zwei wunderbaren Sprachen und deren geheimsten Kräften - Tieck: Wundersame Liebesgeschichte der schönen Magenole und des Grafen Peter aus der Provence; Sehr wundersame Historie von der Melusina; Merkwürdige Lebensgeschichte Sr. Majestät Abraham Tonelli - Beispiele im Inhalt: Tieck: Der blonde Eckbert (Wortvariationen etwa 20 Mal) - Chamisso: 142 Anmerkungen Peter Schlemihl (Wortvariationen etwa 50 Mal) - Siehe dazu bereits Hermann Petrich: Drei Kapitel vom romantischen Stil. 1878. 1964 2 . S. 104 f. 19 Hoffmann. Sämtl. Werke V, 30 f. 20 Johann Peter Hebel: Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Kritische Gesamtausgabe mit den Kalenderholzschnitten. Hrsg. v. Winfried Theiss. Stuttgart: Reclam 1981. S. 283. 21 Ebd. 22 Ebd. 283 f. 23 Zur Etymologie des Wortes „ Ereignis “ s. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 18. Aufl. bearbeitet v. Walter Mitzka. Berlin: De Gruyter 1960. 24 Hebel. Schatzkästlein. S. 284. 25 Ebd. 26 Literatur zu diesem Thema kaum noch zu übersehen; hervorgehoben sei Walter Rehm: Goethe und Johann Peter Hebel. Eine Freiburger Goethe-Rede 1949. In: Begegnungen und Probleme. Bern 1957. S. 7 - 39. - Ernst Bloch: Hebel, Gotthelf und bäurisches Tao. 1926. In: Verfremdungen I. Frankfurt am Main 1962. Dort S. 196: „ die schönste Geschichte von der Welt. “ - Walter Benjamin: Johann Peter Hebel zum 100. Todestag. 1926. In: Angelus Novus. Ausgew. Schriften 2. Frankfurt am Main 1966. S. 380ff: „ Tiefer hat nie ein Erzähler seinen Bericht in die Naturgeschichte gebettet, als Hebel es in dieser Chronologie vollzieht. Man lese sie nur genau: der Tod tritt in ihr in so regelmäßigem Turnus auf wie der Sensenmann in den Prozessionen, die um Mittag um die Münsteruhr ihren Umzug halten. “ F ÜNFTES K APITEL Friedrich de la Motte-Fouqué: Undine (1811) oder: „ Du aber siehst jetzt wirklich eine Undine, lieber Freund. “ 1 Odyssee XII. 2 Jean d ’ Arras: Histoire de Lusignan. 1387 - 94. - Thüring von Ringoltingen: Die Geschichte von der schönen Melusine die eine Meerfrau gewesen ist. Erstdruck 1474. - Giambatista Basile: Der Pentamerone oder Das Märchen aller Märchen. Neapel 1634 - 1636. Übs.: Felix Liebrecht. Breslau 1846. Dort: Marziella. - Irische Land- und Seemärchen. Ges. v. Thomas Crofton Croker. 2 Bde 1828. Übs.: v. Wilhelm Grimm. Hs. Staats-Archiv Marburg. Hrsg. v. Werner Moritz u. Charlotte Oberfeld. Marburg. Elwert 1986. Dort: Die Frau von Gollerus. - Estnische Märchen. Hrsg. v. Friedrich Kreutzwald. Übs. F. Löw. Halle 1869. In: Märchen von Nixen und Wasserfrauen. Hrsg. v. B. Stamer. Frankfurt: Fischer 1987. S. 98 - 111. Dort: Die Meermaid. - Deutsche Volksmärchen aus Schwaben. Hrsg. v. Ernst Meier. Stuttgart 1852. In: Märchen von Nixen und Wasserfrauen. Hrsg. v. B. Stamer. Frankfurt: Fischer 1987. S. 72 - 79. Dort: Die junge Gräfin und die Wasserfrau. - 143 Fünftes Kapitel J. W. Goethe. Der Fischer. - J. W. Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Dort: Die Neue Melusine. - Clemens Brentano: Müller Radlauf. Haus Starenberg. Murmeltier. Dort: Lore Lay und Lureley. - Eduard Mörike: Das Stuttgarter Hutzelmännlein. Dort: Historie von der schönen Lau. - E. T. A. Hoffmann: Undine. Oper. Urauff. 1816 Berlin. - Albert Lortzing: Undine. Oper. 1845. - H. C. Andersen: Die kleine Meerjungfrau. 1837. - Willhelm Jensen: Eddystone. 1872: Kitty. - Hans Makart: Nilfahrt der Kleopatra. 1873. - Oscar Wilde: Der Fischer und seine Seele. 1891. - Theodor Fontane: Schach von Wuthenow. 1882. - Theodor Fontane: Stechlin. 1899: Melusine. - Theodor Fontane: Oceane von Parceval. Fragment 1877. - Theodor Fontane: Melusine. Fragment 1882. - Wilhelm Bölsche: Die Mittagsgöttin. 1891: Lilly. - Gerhart Hauptmann: Die versunkene Glocke. 1897: Rautendelein. - Stefan George: Fibel. 1890. Dort: Die Sirene. Die Najade. - Bruno Wille: Offenbarungen des Wacholderbaums. 1901. - Hans Pfitzner: Die Rose vom Liebesgarten. 1901: Minneleide. - Richard Dehmel: Zwei Menschen. 1903: Ellewine. - Claude Debussy: Ondine. 1913. - Ingeborg Bachmann: Undine geht. 1965. 3 Lutz Röhrich: Erzählungen des späten Mittelalters u. ihr Weiterleben in Literatur und Volksdichtung bis zur Gegenwart. 2 Bde. Bern/ München 1962. Dort I, 27 - 61: Die gestörte Mahrtenehe. 4 Paracelsus: Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et ceteris spiritibus. 1535. 5 Oswald Floeck: Die Elementargeister bei Fouqué und anderen Dichtern der romantischen und nachromantischen Zeit. Bielitz/ Heidelberg 1909. - A. Koyré: Mystiques, Spirituals et Alchimistes du 16ème Siècle allemand. Paris 1971. - R. Paulli: Melusina. Kopenhagen 1918. Dort: Einleitung. - Heinz Politzer: Das Schweigen der Sirenen. In: DVS 41. Jg. 41. Bd. 1967. S. 444 - 467. - Jost Hermand: Undinen-Zauber. Zum Frauenbild des Jugendstils. In: Wissenschaft als Dialog. Hrsg. v. R. v. Heydebrand u. K. G. Just. Stuttgart 1969. S. 9 - 29. - Oskar Seidlin: Brentanos Melusinen. In: Euphorion 72. Bd. 4. Heft 1978. S. 369 - 399. - Erika Tunner: Sirene und Dirne. Chiffren der Dichterexistenz und der Poesie in Cl. Brentanos Lyrischem Werk. In: Recherches Germaniques No. 1979. S. 141 - 159. - Klotz. 1985. Kap.: Friedrich de la Motte-Fouqué. 6 Zit. aus: Fouqués Werke. Hrsg. und mit einem Lebensbild versehen von Walther Ziesemer. Berlin/ Leipzig/ Wien/ Stuttgart o J. [1911]. S. 42. Die folgenden ‚ Undine ‘ -Zitate aus dieser Ausgabe. [Fouqué. Werke]. 7 Wilhelm Pfeiffer: Über Fouqués Undine. Heidelberg 1903. S. 23 f. Dort entn. die Zitate. 8 Fouqué. Werke I. 53. 9 Ebd. 54. 10 Ebd. 56 f. 11 Ebd. 60 f. 12 Ebd. 64. 13 Ebd. 67 - 68. 14 J. W. Goethe: Faust I. 3911 ff. 144 Anmerkungen 15 Manfred Frank: Die unendliche Fahrt. Frankfurt/ M. Suhrkamp 1979. S. 96 f: „ Die Romantik [. . .] setzt einen Minimalkonsensus über die letzten Zwecke des Gemeinwesens voraus, und dieser Konsensus bewährt sich in einer gemeinschaftlichen axiologischen Option. Sie erzeugt jene ‚ guten Geister ‘ , von denen nur der sozial Isolierte verlassen sein könnte. Eine Gesellschaft, die ihre Moral dem freien Markt überläßt, produziert jenen Bruch zwischen Individuum und Gesellschaft, von dem die Rede war. Denn sie muß notwendig auch den obersten Wert, auf den sich die Verbindlichkeiten zwischen den Bürgern gründen, auf einen Tausch-Wert reduzieren, d. h. dem Spiel von Angebot und Nachfrage ausliefern. Das heißt ihn entmachten, denn seine Kraft gründet sich auf eine Überzeugung, die nicht dem Vergleich und dem Gesetz der Äquivalenz ausgesetzt werden kann, sondern über jeder Relation steht (nichts anderes meint die Rede vom ‚ Absoluten ‘ ). Die Säkularisierung jener gesellschaftsstiftenden und kommunikationstragenden Wertüberzeugungen (die, insofern sie für den Wert von Sozialität als solchen optieren, nicht einfach für vormodern oder mittelalterlich gelten dürfen) entzieht dem politisch-ökonomischen Rationalismus der modernen Staaten die Möglichkeit transzendenter Legitimation. Es ist kein Wunder, daß Jürgen Habermas im Schlußwort zu seinen Legitimationsproblemen im Spätkapitalismus den ‚ Preis einer sei ’ s drum: alteuropäischen Menschenwürde ‘ zu entrichten bereit ist. Die modische De-konstruktion des Abendlandes macht es geraten, den Wert dieses Preises recht gründlich zu bedenken. “ 16 Adjektivische Variationen aus dem Substantiv „ Wunder “ finden sich auffallend häufig: „ Wunderbar “ , „ wunderlich “ , „ wundersam “ , „ wundersamlich “ , „ wunderschön “ u. ä. 17 Lüthi. 1964. S. 32. 18 Wührl. 1984 S. 74 f. 19 Fouqué. Werke I. 27. 96. 20 Ebd. 74 f. 21 Ebd.78. 22 Ebd. 82. 23 Ebd. 83. 24 Ebd. 51. 25 Ebd. 88. 26 Ebd. 96. 27 Ebd. 96 f. 28 Ebd. 100. 29 Ebd. 110. 30 Ebd. 118. 31 Klotz. 1985. S. 173: „ Restlos sinnliche Wiederherstellung einer vorübergehend gestörten Weltordnung: die allgemeine Formel des Märchens erfüllt ‚ Undine ‘ auf besondere Weise, indem die Heldin sich schließlich gleichermaßen vereinigt mit Huldbrand und dem Weiher. “ 32 Fouqué. Werke I, 119. 145 Fünftes Kapitel 33 Gisela Dischner: Friedrich de la Motte-Fouqué: Undine. In: Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Neue Interpretationen. Hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Stuttgart: Reclam 1981. S. 279. Dort S. 270 ff. eine ausführliche Rezeptionsgeschichte. 34 Ebd. S. 279. 35 Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur. München/ Wien: Hanser 1989. S. 229 passim. 36 Klotz. 1985. S. 167. 37 Charles Baudelaire: Moesta et errabunda. In: Les Fleurs du Mal. Oeuvres complètes. Texte révisée, complètée et présenté par Claude Pichois. 1961. S. 61. Ed. Gallimard. 38 Ingeborg Bachmann: Undine geht. In: Werke. Hrsg. v. Christine Koschel, Inge von Weidensaum, Clemens Münster. München/ Zürich 1978. II, 259. S ECHSTES K APITEL Adelbert von Chamisso und E. T. A. Hoffmann (1813/ 1814/ 1815) oder: Schlemihl und Spikher am „ Haken “ des Herrn „ Dapertutto “ 1 Winfried Freund: Adelbert von Chamisso. Peter Schlemihl. Geld und Geist. Paderborn/ München/ Wien/ Zürich: Schöningh 1980 (=Modellanalysen: Literatur). 2 Undatierter Brief von 1799. Zit. nach Werner Feudel: Adelbert von Chamisso. Leben und Werk. Leipzig: Reclam 1980. S. 38. 3 Adelbert von Chamissos Werke. Hrsg. v. Friedrich Palm. 4 Bde. Leipzig 1864. V, 205. 4 Philipp Rath: Bibliotheka Schlemiliana. Bibliographien und Studien. Hrsg. v. Martin Breslauer. Berlin 1919. S. 18. - Zur Frage biographischer Details siehe René Riegel: Adelbert von Chamisso, sa vie et son oeuvre. Paris 1934. S. 441 ff. 5 Adelbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Hrsg. v. J. Perfahl u. V. Hoffmann. München 1975. I, 12. [Chamisso. Stl. Werke]. 6 Freund. 1980. S. 23. 7 Chamisso. Stl. Werke I, 13. 8 Ebd. I, 14. 9 Ebd. 10 Ebd. I, 15. 11 Thomas Mann: Chamisso. In: Ges. Werke. Berlin 1955. X, 35 - 57. XIII, 398 - 407. 12 Feudel. 1980. S. 66. 13 Benno von Wiese: A. v. Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. In: Die dt. Novelle von Goethe bis Kafka. Düsseldorf 1956, I, 97 - 116. 14 Chamisso. Stl. Werke I, 13. - Zu Hoffmanns Reaktion s. auch E. T. A. Hoffmann. Sämtliche Werke. Hrsg. v. Hartmut Steinecke u. Wulf Segebrecht. Frankfurt/ Main: Klassiker Verlag 1993. II, 1, 797 - 799. [Hoffmann. Stl. Werke] 146 Anmerkungen 15 Zur Geschichte des Motivs „ Schatten “ siehe Gero von Wilpert: Der verlorene Schatten. Varianten eines literarischen Motivs. Stuttgart: Kröner 1978. S. 57 - 59, 140 - 141. Dort zugleich mit der Motiv-Reihung eine stichwortartige Aufzählung der wichtigsten Urteile. - Zur Rezeptionsgeschichte siehe auch Freund. 1980. S. 59 - 82. Kap. III: Rezeption. - Einen ausführlichen und kommentierten Forschungsbericht liefert Dörte Brockhagen: Adelbert von Chamisso. In: Literatur in der sozialen Bewegung. Aufsätze und Forschungsberichte zum 19. Jahrhundert. Hrsg. v. Alberto Marino. Tübingen: Niemeyer 1977. S. 373 - 423. Zu Peter Schlemihl S. 400 - 409. 16 Hoffmann. Stl. Werke II, 1, 326. 354 passim. 17 Ebd. 330. 18 Ebd. 333. 19 Ebd. 20 Ebd. 334. 21 Ebd. 22 Ebd. 336. 23 Ebd. 335 f. 24 Ebd. 336. 25 Ebd. 342. 26 Ebd. 27 Regina Häusler: Das Bild Italiens in der deutschen Romantik. Diss. Bern 1939. 28 Hoffmann. Stl. Werke II, 1, 343. 29 Ebd. 344. 30 Ebd. 31 Ebd. 346. 32 Ebd. 349. 33 Ebd. 350. 34 Ebd. 354. 35 Ebd. 353. 36 Ebd. 354. 37 Ebd. 358. 38 Ebd. 359. 39 Ebd. 40 HWB d. dt. Aberglaubens. Berlin 138 - 1941. Sp. 126 - 142. 41 Freund. 1980. S. 20. 42 Chamisso. Stl. Werke I, 49. 43 Ebd. 48. 44 Walter Benjamin: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Hrsg. v. S. Unseld. Frankfurt/ Main. S. 340. 45 Allgemeine Literatur-Zeitung Nr. 208 (1936). Spalte 340. 46 Ernst Fedor Hoffmann: Spiegelbild und Schatten. Zur Behandlung ähnlicher Motive bei Brentano, Hoffmann und Chamisso. In: Lebendige Form. Interpretationen zur deutschen Literatur. Festschrift für H. E. K. Henel. München 1970. - Hans Peter 147 Sechstes Kapitel Neureuter: Das Spiegelbild bei Clemens Brentano. Studie zum romantischen Ich- Bewußtsein. Frankfurt/ Main 1972. 47 Clemens Brentano: Briefe. 2 Bde. Hrsg. v. F. Seebaß 1951. II, 165 f. Brief vom Januar 1816. 48 Brentano. Briefe. II, 166. 49 Ebd. 237. 50 Hegel: Phänomenologie (Vorrede). In: Sämtl. Werke. Neue kritische Ausgabe. 2. Aufl. Hrsg. v. Joh. Hoffmeister. Hamburg 1952. V, 14. S IEBTES K APITEL Friedrich de la Motte Fouqué: Eine Geschichte vom Galgenmännlein (1810) oder: „ meine Seele hat er ohnehin “ 1 Antoine Galland: Les mille et une nuits. 12 Bde. 1704 - 1717. - Motiv-Verbreitung bereits früher in Italien und Frankreich. Motive nachweislich auch in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. In der 2. Auflage als Nr. 99 mit dem Titel Der Geist im Glase eingefügt. Siehe dazu Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Neu bearbeitet v. Johannes Bolte u. Georg Polivka. Leipzig 1915. II, 414 - 422. - Handwörterbuch des deutschen Märchens. Hrsg. v. Lutz Mackensen. Berlin: de Gruyter 1934/ 1940. II, 449 - 451. - Enzyklopädie des Märchens. Hrsg. v. Hermann Bausinger, Lutz Röhrich u. a. Berlin/ NY: de Gruyter 1975 ff. V, 922 - 928. Dort: Motiv-Geschichte und Literatur. 2 Giambatiste Basile: Lo cunto de li cunti trattenemiento de li Peccerille. Napoli 1634 - 1636. Seit 1674 unter dem Titel Pentamerone weltberühmt. Dt. Übs. v. F. Liebrecht: Der Pentamerone. Breslau 1846. 3 Dieter Richter: Brentano als Leser Basiles und die italienische Übersetzung des Cunto de li Cunti. In: Jb. d. Freien Deutschen Hochstifts 1986. S. 234 - 241. 4 Clemens Brenano: Werke. Hrsg. v. W. Frühwald u. Fr. Kemp. München 1965. II, 369 - 385 u. 635 - 645. 5 Johann Karl Augusts Musäus: Volksmärchen der Deutschen. Gotha 1782 - 1786. 6 Einige Beispiele: Appenzeller Volkssage. - Ludwig Bechstein: Der Schmied von Jüterbogh. - Machiavelli: La Mandragola. 1520. - L. Valez de Guevara: El diablo cojuelo. 1641. - A. R. Lesage: Le Diable boiteux. 1707. - J. Cazotte: Le Diable amoureux. 1772. - Jean de la Fontaine: La Mandragore. 1650. - Christoffel von Grimmelshausen: Simplizissimi Galgenmännlein. 1668; Landstörzerin Courache. 1670. - Christoph Martin Wieland: Wintermärchen. 1776. - Ludwig Tieck: Der getreue Eckhart und der Tannhäuser. 1880. - Achim von Arnim: Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber. 1811. - E. T. A. Hoffmann: Der Kampf der Sänger. 1819. - Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. 1814. - Annette von Droste-Hülshoff: Der Spiritus familiaris des Rosstäuschers. 1842. - Carl Maria von Weber/ Kind: Der Freischütz. 1821. - Julius 148 Anmerkungen Wolff: Der Rattenfänger von Hameln. 1876. - Adolf Böttcher: Galgenmännchen. 1870. 7 KHM Nr. 36. 8 Friedrich de la Motte Fouqué: Sämtliche Romane und Novellenbücher. Hrsg. v. Wolfgang Möhrig. Hildesheim/ Zürich/ NY 1990. V,1. [Fouqué. Stl. Romane] 9 Wührl. 1984. S. 143: Reichart „ der Durchschnitts-Bürger schlechthin und zwar der erste im deutschen Kunstmärchen. “ 10 Fouqué. Stl. Romane. V,1. 107. 11 Ebd. 108. 12 Ebd. 109. 13 Ebd. 14 Ebd. 110. 15 KHM Nr. 99. 16 Fouqué. Stl. Romane. V,1. S. 361. 17 Ebd. 362. 18 Siehe ferner Carl Wilhelm Salice-Contessas Magister Rößlein und Louis Stevensons The Botte Imp. A CHTES K APITEL Carl Wilhelm Salice-Contessa: Magister Rößlein (1812) oder: „ seine arme Seele aus des Teufels Krallen gerissen “ 1 KHM Nr. 19, 125. 2 Wührl. 1984. S. 46. 3 Carl Wilhelm Salice-Contessa: Erzählungen und Märchen. Hrsg. v. Henk Koning. Würzburg 1990. S. 63. [Erzählungen] 4 Erzählungen. S. 64. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd. S. 66. 8 Ebd. 9 Ebd. S. 67. 10 Ebd. 11 Ebd. S. 69. 12 Ebd. S. 76. 13 Ebd. S. 87 passim. 14 Ebd. S. 92 f. 15 Ebd. S. 94. 16 Ebd. S. 98. 17 Siehe Anm. 1. 149 Achtes Kapitel N EUNTES K APITEL Wilhelm Hauff: Das kalte Herz (1827/ 1828) oder: „ aber - auf Kosten ihrer armen Seele “ 1 Apel. 1978. S. 210. 2 Fritz Martini: Wilhelm Hauff. In: Deutsche Dichter der Romantik. Ihr Leben und Werk. Hrsg. v. Benno von Wiese. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1971. S. 442. 3 Wie im E RSTEN K APITEL bereits erläutert, stand das Märchen seit dem Jahrhundert der Aufklärung nicht hoch im Diskurs im Rahmen der überkommenen Poetik. Zwar war es im Zuge der Querelle des anciens et des modernes zur modernen Gattung avanciert, allerdings zum pädagogisch-didaktischen Lehrstück aufgestutzt worden, und wirkte nun wunderlich im Dienste pädagogischer Aufklärung; die Phantasie diente am Ende des Aufklärungs-Jahrhunderts noch immer gehorsam als ancilla philosophiae, als Magd der Vernunft. In Deutschland findet die Staffage des Wunders noch bei Johann Karl August Musäus, und vor allem bei dem Bearbeiter und Übersetzer französischer Märchen, Christoph Martin Wieland, seine rationale Begründung und Fortsetzung, bis sie jäh abbricht in Tiecks Märchen. 4 Kinder-Märchen von E. W. Contessa, Friedrich Baron de la Motte Fouqué und E. T. A Hoffmann. Berlin: Realschulbuchhandlung 1816. Neu hrsg. v. Hans-Heino Ewers. Stuttgart: Reclam 1987. 5 Siehe dazu Hans-Heino Ewers: Kinder-Märchen. 1987. S. 332: „ Das romantische Kinderliteraturprogramm ergibt sich aus dieser Form der Kindheitsstilisierung. [. . .] Wenn die Kindheit die ontogenetische Evokation einer mythischen Vergangenheit darstellt, dann kann Kindern nur eine Literatur gemäß sein, die vom Geist eben dieser Urzeit geprägt ist. “ 6 E. Bloch: Literarische Aufsätze. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1965. S. 79 ff. 7 Frank. 1979. S. 342 ff. 8 Wilhelm Hauff: Werke. Hrsg. v. Bernhard Zeller. Frankfurt/ Main: Insel 1969. Bd. II, 221. [Hauff. Werke] 9 Hauff. Werke II, 220. 10 Siehe E INLEITUNG . Anm. 10. 11 Hauff. Werke II, 222 f. 12 Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit. In: HA IX, 446 ff. 13 Goethe. Die neue Melusine. In: HA VIII, 358. 14 Tieck. Schriften IV, 213 ff. 15 Ernst Theodor Amadeus Hoffmanns Sämtliche Werke. Tagebücher, Briefe. Hrsg. und eingeleitet von Rudolf Frank. München/ Leipzig 1924. Bd. V. 227 ff. 16 Fouqué. Stl. Romane V, 1. S. 104 ff. 17 Chamisso. Stl. Werke I. 10 ff. 18 Gottfried Keller: Spiegel das Kätzchen. In: Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Walter Morgenthaler. Zürich 2000. Bd. I, 295. 150 Anmerkungen 19 Die Nähe von Schatz und Herz bereits in Mt. 6, 11: „ Denn wo euer Schatz ist ( φγσαυροσ ), da ist auch ein Herz ( καρδια ). 20 Hauff. Werke II, 224 f. 21 Ebd. 225. 22 Die Gattungsbezeichnung ist hier so streng nicht zu verstehen wie seit den Brüdern Grimm literwissenschaftlich tradiert wird: „ Das Märchen ist poetischer, die Sage ist historischer. “ 23 Hauff. Werke II, 229. 24 Ebd. 230. 25 Ebd. 236. 26 Röhrich. 1964. S. 24 f., 233. - Frank Riklin: Wunscherfüllung und Symbolik im Märchen. Wien/ Leipzig 1908. Auszüge in: Märchenforschung und Tiefenpsychologie. Hrsg. v. Wilhelm Laiblin. Darmstadt 1975. S. 13 - 43 (= Wege der Forschung 52). 27 Johannes Bolte/ Georg Polivka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Berlin/ Leipzig 1930/ 33. Bd. I, 412 - 425. - Zur Dreizahl im Sprichwort siehe Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Hrsg. von Karl Friedrich Wilhelm Wander 1857 ff. Darmstadt 1964. I, Sp. 690 - 694. - Zur Dreizahl im Märchen siehe Handwörterbuch d. dt. Märchens. Hrsg. unter Mitwirkung von Joh. Bolte von Lutz Mackensen. Berlin 1931 - 40. - Zur Ökonomie siehe Wolfgang Fritz Haug: Einübung bürgerlicher Verkehrsformen bei Eulenspiegel. In: Das Argument 3. 1976. S. 18. - Karola Rimmel: Der Dummling und seine Metamorphosen in den ‚ Kinder- und Hausmärchen ‘ der Brüder Grimm als prototypische Figur des „ Erziehungsbuches “ . Mag.-Arbeit Gießen 1991. S. 80. Fn. 295: Im Märchen ist die Dreizahl oft auf den Menschen bezogen, so findet man: drei Söhne oder Brüder (Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen Ausgabe letzter Hand. Hrsg. v. Heinz Rölleke. Stuttgart: Reclam 1980 ff. Nr. 28. Weiter zitiert 28 in der Fassung von 1812 als KHM. KHM 36, 54, 57, 62, 63, 64, 70, 97, 124, 137, 138, 165, 191, 197, Anhang Nr. 5, 6, 28), drei Prinzessinnen (KHM 62, u. v. a.) oder drei Mädchen (KHM 64), drei Diebe oder drei Meister (KHM 33). Die Zahl drei wird jedoch auch häufig mit Tieren oder Pflanzen in Beziehung gesetzt: drei Drachen werden getötet, drei Tiere weinen um Schneewittchen, drei Tierarten - Ameisen, Enten und Bienen - helfen dem Dummling (KHM 62), der goldene Vogel stiehlt drei goldene Äpfel (KHM 57). Die Dreizahl gilt als Größe für Geld- und Zeitangaben: so bekommt der Jüngste, der sich vor nichts fürchtet, drei Kästen voll Gold, nachdem er drei Nächte lang in einem alten Schloß verbracht hat (KHM 4). Ferner müssen häufig drei Aufgaben gelöst (KHM 62, 63, 64, 165, 192 u. v. a.) oder drei Fragen beantwortet (KHM 165) werden. Der Dummling besitzt drei Wunderdinge: Ranzen, Hütlein und Hörnlein (KHM 54), drei Federn werden in die Luft geblasen (KHM 63), der junge Grafensohn lernt drei Sprachen (KHM 33). Außerdem kommt die Zahl drei im Märchen sowohl als Ordnungszahl als auch als Bruchzahl vor; Vielfache von drei lassen sich ebenfalls finden. Sehr häufig ist auch festzustellen, daß eine Handlung dreimal wiederholt wird: Der Dummling geht dreimal zu der Itsche, um den schönsten Teppich, den 151 Neuntes Kapitel schönsten Ring und die schönste Braut zu holen (KHM 63); so versuchen alle drei Brüder, die Perlen der Königstochter im Wald zu finden (KHM 62). Man kann hier von einer Dreigliedrigkeit im Märchen sprechen. Die Bedeutung, die der Zahl drei im Märchen zukommt, läßt sich schon anhand der Überschriften in den KHM feststellen: Die drei Sprachen (KHM 33), Die drei Federn (KHM63), Die drei Brüder (KHM 124), Die drei Glückskinder (KHM 70), Die drei Schlangenblätter (KHM 16), Der Teufel mit den drei goldenen Haaren (KHM 29) und andere. Vgl. Handwörterbuch des deutschen Märchens Bd. 1, S. 412 - 423. Enzyklopädie des Märchens. Berlin 1980 ff. Bd. 3. Sp. 851 - 868. 28 Dieter Arendt: Drei Wünsche und kein Ende. Das Wunschmärchen und seine parodistischen Folgen. In: Der Deutschunterricht. H 6. 1985. S. 94 - 108. 29 Hauff. Werke II, 235. 30 Ebd. 238. 31 Ebd. 238 f. 32 Ebd. 312 f. 33 Ebd. 314 f. 34 Ebd. 320 f. - Frank. 1979 S. 264 ff. Er macht aufmerksam auf den Zusammenhang des Namens Ezekiel mit Hesekiel 11, 19 und 36, 26: „ Ich werde das steinerne Herz aus eurem Leibe herausnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. “ 35 Hauff. Werke II, 323. 36 Ebd. 324. 37 Ebd. 327. 38 Siehe F ÜNFTES K APITEL . Anm. 15. 39 Ernst Bloch: Drei Wünsche und der beste. In: Prinzip Hoffnung. Frankfurt/ Main 1959. 1967. S. 1552 - 1555. 40 Der Begriff stammt von Max Weber und wird seit der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert mehr und mehr virulent. Z EHNTES K APITEL Jeremias Gotthelf: Die schwarze Spinne (1842) oder: „ am Ende könnte man ihn übertölpeln “ 1 Zu KHM (1819) Nr. 99 Geist im Glas siehe Enzyklopädie d. Märchens V, S. 922 - 928; HWB d. dt. Märchens II, S. 449 - 451. 2 Konrad Nussbächer im Nachwort zur Reclam-Ausgabe von 1959. S. 114 f. Die folgenden Texte aus dieser Ausgabe. - Lit. siehe Erläuterungen und Dokumente. S. 96 - 111. 3 Benno von Wiese: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Düsseldorf: August Babel 1963. I, 176. S. 347: Lit. 4 Reclam-Ausgabe. 1959. S. 3 f. 152 Anmerkungen 5 Vgl. v. Wiese. 1963. S. 24: „ das Ereignis aber, in dem sich eine solche Welt in gedrängter Fülle spiegeln kann, ist das Fest und in diesem Falle das Fest der Kindtaufe. “ 6 Reclam-Ausgabe. 1959. S. 24. 7 Ebd. S. 107. 8 Ebd. S. 25 f. 9 Ebd. S. 29. 10 Ebd. 11 Ebd. S. 30. 12 Ebd. S. 32. 13 Ebd. S. 37. 14 Ebd. S. 38. 15 Ebd. S. 40 f. 16 Ebd. S. 55. 17 Ebd. 18 Ebd. S. 57. 19 Ebd. S. 58. 20 Ebd. S. 59. 21 Ebd. S. 60. 22 Ebd. S. 69. 23 Ebd. S. 81. 24 Ebd. S. 82. 25 Ebd. S. 85 f. 26 Ebd. S. 87. 27 Ebd. 28 Ebd. S. 108. 29 Ebd. S. 109. 30 Vgl. v. Wiese. 1963. S. 195: „ Gotthelfs Erzählung ‚ Die schwarze Spinne ‘ gestaltet als Novelle eine mythische Begebenheit, die jeweils ihren legendären Wendepunkt hat, an dem durch die freie Opfertat des Menschen eine wiederhergestellte, Gott unterworfene geschichtliche Welt sich von neuem entfalten kann. Diese Novelle gehört zu den größten Prosadichtungen, die in deutscher Sprache geschrieben sind. “ E LFTES K APITEL Eduard Mörike: Der Schatz (1836) oder: „ ich könnte wohl ein bißchen beschnapst gewesen sein “ 1 Eduard Mörike: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Gerhard Baumann. Stuttgart 1954 [Mörike. Stl. Werke]. - Klotz. 1985. S. 385: „ In neueren Ausgaben führt der Text die Gattungsbezeichnung ‚ Novelle ‘ ; so seit der 3. Auflage von 1856. Mörike selbst hatte ihn noch im Vorwort der 2. Auflage (In Iris 1839) als Märchen bezeichnet. “ 153 Elftes Kapitel 2 Mörike. Stl. Werke I. S. 673. 3 Ebd. S. 678. 4 Ebd. S. 679. 5 Ebd. S. 686. 6 Ebd. S. 708. 7 Ebd. S. 720. 8 Ebd. S. 722. 9 Ebd. S. 725. 10 Ebd. S. 730. 11 Ebd. S. 732. 12 Ebd. S. 733. 13 Klotz. 1985. S. 227. 14 Ebd. S. 224. Z WÖLFTES K APITEL Gottfried Keller: Spiegel das Kätzchen (1855/ 1856) oder: „ Schönheit “ und „ ein schönes Vermögen “ 1 Gottfried Keller: Sämtliche Werke. Hist.-krit. Ausg. Hrsg. unter der Leitung v. Walter Morgenthaler im Auftrag der Stiftung Historisch-kritische Gottfried Keller-Ausgabe. 4. Bd.: Die Leute von Seldwyla. Zürich: Stromfeld 2000 [Keller. Stl. Werke]. - Heinz Röllecke: Grimms Märchen ‚ Hänsel und Gretel ‘ und Gottfried Kellers ‚ Spiegel das Kätzchen ‘ . In: Fabula 28. 1987. S. 316 - 319: R. nennt die neueren Darstellungen der Kunstmärchen mit ihren Verweisen auf die Nähe von Kellers Novellistik zu den Märchen der Brüder Grimm „ etwas salopp “ , nicht nur, weil die Vergleiche „ kaum spezifisch genannt werden können “ , sondern weil häufig „ ohne weiteres die KHM-Ausgabe letzter Hand herangezogen wird. “ (S. 316) - Siehe etwa Therese Müller-Nussmüller: Spiegel das Kätzchen. Interpretation. Diss. Basel 1974, bes. S. 69 - 71. - Jens Tismar: Kunstmärchen. Stuttgart 1977. S. 64 ff. (= Sammlung Metzler 155). - Klotz. 1985. S. 235 - 244. 385 ff. 406. - Kurt Schreiner (Hrsg.): Aufsätze zur Literatur. München 1963. S. 256. 2 Keller. Stl. Werke IV. S. 266 f. 3 Ebd. S. 267. 4 Ebd. S. 269. 5 Ebd. S. 271. 6 Ebd. S. 272 f. 7 Hans Poser: Spiegel das Kätzchen. Bürgerliche Welt im Spiegel des Märchens. In: Zur Literatur der deutschen Schweiz. Hrsg. v. Marianne Burkhard u. Gerd Labroisse. Amsterdamer Beiträge zur Neueren Germanistik. IX, 1979. S. 37 ff.: „ dem idealen Bürger werden Seldwyler gegenübergestellt, die sich deutlich von Spiegel unterscheiden. Dabei genügt es nicht, wie dies so oft geschieht, einfach festzustellen, daß bei ihnen Sein und Schein auseinanderfällt. Wichtiger erscheint die Tatsache, 154 Anmerkungen daß ihr Sein vor allem durch das Streben nach materiellem Besitz bestimmt ist. [. . .] Anders liegen die Dinge im Falle der weiblichen ‚ Gegenspielerin ‘ . [. . .] Der Gegensatz bezieht sich hier auf eine scheinbar streng religiöse Lebensweise, die in Wirklichkeit satanisch bestimmt ist. “ 8 Keller. Stl. Werke IV. S. 274. 9 Ebd. S. 275. 10 Ebd. S. 276. 11 Ebd. S. 280. 12 Poser. 1979. S. 40: „ Dadurch wird das übliche Erzählschema umgekehrt: nicht eine ‚ wirkliche ‘ Notsituation konstituiert das Märchen, sondern die Notsituation des Helden im Märchen führt zur Erzählung der Novelle, die keinerlei wunderbare Elemente mehr enthält. “ - Klotz bezeichnet Spiegels „ Redegespinst “ als „ eine formvollendete Novelle “ (S. 242 f.). 13 Keller. Stl. Werke IV. S. 282. 14 Ebd. S. 285. 15 Ebd. S. 296. 16 Ebd. S. 283. 17 Ebd. S. 302. 18 Ebd. S. 305. 19 Ebd. S. 312. D REIZEHNTES K APITEL Robert Louis Stevenson: The Bottle Imp (1891) oder: “ A love for a love! ” - “ A soul for a soul! ” 1 Robert Louis Stevenson: The Bottle Imp. Ditzingen: Reclam 1986. S. 3. - Der englische Text folgt der Ausgabe The Selected Writings of Robert Louis Stevenson. New York: Random House. 1947. 2 Reclam-Ausgabe. S. 3. 3 Ebd. 4 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. 1929. - Ursprünglich sollte das Wort “ Unglück ” für das Wort “ Unbehagen ” stehen. 5 Reclam-Ausgabe. S. 6. 6 Ebd. S. 30. 7 Ebd. S. 35. 8 Ebd. S. 38 f. 9 Ebd. S. 45. 10 Ebd. S. 48. 11 Ebd. S. 50. 155 Dreizehntes Kapitel V IERZEHNTES K APITEL Franz Kafka: Die Verwandlung (1912/ 1915) oder: „ Es war kein Traum. “ 1 Röhrich. 1964. S. 85. 2 Klotz. 1985. S. 339 passim. 3 Klotz. 1985. S. 340. - Klotz arbeitet konsequent mit der Formel „ pervertiertes Märchen “ und setzt sich mit genauer Begründung ab von dem missverständlichen Begriff „ Antimärchen “ : „ Clemens Heselhaus hat schon früh mit bemerkenswerten Beobachtungen auf Märchenzüge in Kafkas Erzählungen hingewiesen. Er spricht von Antimärchen “ . - Clemens Heselhaus: Kafkas Erzählformen. In: DVjs. 26 (1952). S. 357: „ Mir scheint die Bezeichnung pervertiertes Märchen zutreffender. Erstens spricht sie den Vorgang an, wie im Lauf der Erzählungen das intakte Märchenmuster angespielt und ins Negative verkehrt wird. Zweitens unterbindet sie den irrigen Eindruck, in Kafkas Erzählungen formuliere sich ein eigenständiger Antitypus zur Gattung Volksmärchen. “ 4 Klotz. 1985. S. 341. 5 Franz Kafka: Gesammelte Werke in 12 Bänden. Nach der kritischen Ausgabe hrsg. v. Hans-Gert Koch. Bd. I. Frankfurt/ Main: Fischer 1994. S. 93 f. [Kafka. Ges. Werke] 6 Zur Literatur siehe Peter U. Beicken: Franz Kafka. Eine kritische Einführung in die Forschung. Frankfurt/ Main: Athenäum 1974. S. 261. - Unvollständige Biographie Stanley Corngold: The Commentator ’ s Despair: The Interpretation of Kafka ’ s ‚ Metamorphosis ‘ . Port Washington/ London 1973. (129 Titel). - Peter U. Beicken: Erläuterungen und Dokumente. Franz Kafka: Die Verwandlung. Durchges. u. bibliogr. erg. Aufl. Stuttgart: Reclam 1995. Dort Lit. 7 Beicken. 1974. S. 267. 8 Kafka. Ges. Werke I. S. 125. 9 Ebd. S. 149. 10 Ebd. S. 138. 11 Klotz. 1985. S. 355. 12 Römer-Brief VIII,19 - 22. F ÜNFZEHNTES K APITEL Peter Rühmkorf: Auf Wiedersehen in Kenilworth (1980) oder: „ Mit uns soll die Welt noch mal ihr blaues Wunder erleben. “ 1 Peter Rühmkorf: Auf Wiedersehen in Kenilworth. Frankfurt/ Main: Fischer 1980. S. 9. 2 Ebd. S. 12. 3 Ebd. S. 13. 4 Ebd. S. 18. 156 Anmerkungen 5 Ebd. 6 Ebd. S. 19. 7 Ebd. S. 20. 8 Ebd. 9 Ebd. S. 21. 10 Ebd. 11 Ebd. S. 24. 12 Ebd. S. 25. 13 Ebd. S. 36. 14 Ebd. S. 81. 15 Ebd. S. 107. 16 Ebd. S. 108. 17 Ebd. S. 114. 18 Ebd. S. 108. 19 Ebd. S. 110. 20 Ebd. S. 113. 21 Ebd. S. 114. 22 Ebd. S. 115. 23 Ebd. S. 120. 24 Ebd. S. 121. 25 Ebd. S. 123. 26 Ebd. 27 Ebd. S. 124. 28 Ebd. S. 125. 29 Ebd. S. 128. 30 Ebd. S. 125. 31 Ebd. S. 128. 32 Ebd. S. 129. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Ebd. S. 134. 37 Ebd. S. 140. 157 Fünfzehntes Kapitel Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de NEUERSCHEINUNG JETZT BESTELLEN! Kathrin Pöge-Alder Märchenforschung Theorien, Methoden, Interpretationen narr studienbücher 2., überarb. Auflage 2011, 282 Seiten, €[D] 19,90/ SFr 28,90 ISBN 978-3-8233-6629-4 Märchen, traditionelle Märchen oder ‚Volksmärchen‘ werden gehört, verfilmt, gelesen, interpretiert. Man findet sie in der Werbung, im Comic, im Film, in Fantasy- und Trivialliteratur und in der Satire. Sie begleiten die Alltags- und Festkultur - wohl ein Leben lang. Dieses Studienbuch möchte dazu anleiten, sich näher mit Märchen zu beschäftigen. Märchen sind ein Teil der populären Literatur mit Sagen, Mythen, Legenden, Schwänken, Witzen und Rätseln. Märchenforschung ist damit ein Teil der Erzählforschung. Die Märchenforschung befasst sich bereits seit den Brüdern Grimm mit der Herkunft des internationalen Märchenschatzes. Warum gibt es so viele gleiche Märchen überall auf der Welt, bei allen Völkern? 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Auflage vorliegt, informiert stilistisch ansprechend über Darstellung und Stil im Märchen, geht ausführlich auf die Wesensmerkmale der Märchen ein und erörtert Funktion und Bedeutung von Märchen als Erzählformen in unterschiedlichen Kulturen. Der Autor setzt sich mit der strukturalistischen Märchenforschung auseinander und weist Wege zum historischen Verständnis einer Literaturgattung. »Ein Buch, das man immer wieder zur Hand nimmt; es sollte in keiner Bibliothek fehlen.« Lesenswert »Das Resultat ist nichts Geringeres als eine umfassende Phänomenologie des Märchens« Prof. Dr. P. Zinsli in Der Bund. »This brilliant endeavor to discover and describe the peculiar qualities that set Märchen apart from other genres of folk literature marks a definite advance in our understanding of them.« Prof. Dr. Archer Taylor in Modern Language Notes.