Soziales Kapital

Olaf v. d. Knesebeck

(letzte Aktualisierung am 24.11.2023)

Zitierhinweis: v. d. Knesebeck, O. (2020). Soziales Kapital. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i111-2.0

Zusammenfassung

Der Begriff des sozialen Kapitals wird in der Literatur mit unterschiedlichen Schwerpunkten und in verschiedenen Dimensionen definiert. Grundsätzlich beschreibt er das soziale Gefüge einer Gemeinschaft und die Position eines Individuums in dieser Umwelt. Im Zentrum stehen Prozesse zwischen den Menschen, die Netzwerke, Normen und soziales Vertrauen hervorbringen sowie die Zusammenarbeit erleichtern. Untersuchungen zeigen verschiedene Zusammenhänge zwischen den Indikatoren des sozialen Kapitals und der individuellen Gesundheit. Deshalb findet dieses Konzept inzwischen Eingang in die Gesundheitsförderung – z. B. als Maßnahmen zur Stärkung der sozialen Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger und der Health Literacy/ Gesundheitskompetenz.


Für Coleman (1990) ist soziales Kapital eine von drei Formen des Kapitals, die Individuen zur Zielerreichung zur Verfügung stehen. Neben dem „human capital“, das menschliche Fähigkeiten und Kompetenzen umschreibt, und dem „physical capital“, das die nutzbare physische Umwelt beschreibt, dient auch „social capital“ der Erreichung von individuellen Handlungszielen. Coleman versteht dabei unter sozialem Kapital Charakteristika der sozialen Umwelt (oder auch der sozialen Beziehungen), die von Individuen als Ressource genutzt werden, um eigene Ziele zu verwirklichen.

Das Konzept Soziales Kapital

Soziales Kapital beschreibt den Grad des sozialen Zusammenhalts, der innerhalb von Gemeinschaften zu finden ist. Soziales Kapital bezieht sich auf Prozesse zwischen Menschen, die Netzwerke, Normen und soziales Vertrauen hervorbringen sowie Koordination und Zusammenarbeit erleichtern. Bei den unterschiedlichen Definitionen des Begriffs besteht eine grundsätzliche Differenz der Betrachtung: Einige Autorinnen und Autoren legen den Akzent auf die Ebene der Auswirkungen, die von dem sozialstrukturellen Merkmal „soziales Kapital“ auf individuelle Erfahrungen und Handlungen ausgehen. Andere interpretieren den Terminus als kollektives Merkmal, das beispielsweise der Aufklärung wirtschaftlicher Erfolge einer Region oder dem guten Funktionieren demokratischer Strukturen dient. Wieder andere Autorinnen und Autoren betonen, dass sich mehrere Ebenen sozialen Kapitals unterscheiden lassen – die Makroebene (historische, soziale, politische und ökonomische Merkmale von Gesellschaften), die Mesoebene (Merkmale von Nachbarschaften), individuelle Verhaltensweisen (soziale Partizipation, freiwilliges Engagement), und individuelle Normen (wie gegenseitiges Vertrauen und Reziprozität).

Das soziale Kapital weist Überschneidungen mit älteren, bereits etablierten Konzepten auf. Dazu zählen das Konzept der sozialen Kohäsion sowie das Konzept der sozialen Beziehungen, das die soziale Unterstützung und die sozialen Netzwerke (Soziale Netzwerke und Netzwerkförderung) umfasst. Soziale Kohäsion bezeichnet eine bestimmte Qualität und Dichte zwischenmenschlicher Beziehungen in überschaubaren sozial-räumlichen Einheiten (z. B. Nachbarschaften, Wohngebieten, Städten, Regionen), die durch gemeinsame Werte und Normen gekennzeichnet sind. Soziale Unterstützung und soziales Netzwerk beschreiben auf individueller Ebene die Qualität und Quantität sozialer Beziehungen.

Erfassung des Sozialen Kapitals

Im Hinblick auf die Erfassung sozialen Kapitals wird häufig die strukturelle bzw. verhaltensbezogene von der kognitiven Dimension unterschieden. Ein Indikator für die strukturelle bzw. verhaltensbezogene Dimension ist z. B. die Partizipation in zivilgesellschaftlichen Netzwerken, die kognitive Dimension wird z. B. durch das Ausmaß des wahrgenommenen Vertrauens oder der wahrgenommenen Hilfsbereitschaft erfasst. Dabei werden häufig Antworten aus standardisierten Bevölkerungsbefragungen verwendet. Ein viel zitiertes Beispiel für eine Operationalisierung stellt Putnams „Index of Civic Community“ dar, der aus drei Indikatoren gebildet wird (Putnam, Leonardi & Nanetti 1993): 1. dem Ausmaß sozialer Netzwerkbildung in Form von sekundären Gruppen, d. h. in Vereinen und freiwilligen Zusammenschlüssen, 2. der Einschätzung eines Klimas des Vertrauens innerhalb der Wohnregion, 3. der eingeschätzten Geltung von Normen und Werten gegenseitiger Hilfsbereitschaft und Fairness.

Die Untersuchung der Gesundheitsrelevanz sozialen Kapitals begann Mitte der 1990er-Jahre: Kawachi und Mitarbeiter analysierten den Zusammenhang von sozialem Kapital und Mortalität auf der Ebene von Bundesstaaten der USA (Kawachi, Kennedy, Lochner & Prothrow-Stith 1997). Sie zeigten, dass jeder der drei Indikatoren Putnams, aus Umfrageergebnissen ermittelt und auf die Ebene von Bundesstaaten aggregiert, mit der altersstandardisierten Mortalitätsrate pro Bundesstaat korrelierte. Weitere Studien bestätigten diesen Zusammenhang für unterschiedliche andere Gesundheitsindikatoren.

Inzwischen liegen nicht nur Untersuchungen zur Gesundheitswirksamkeit von kollektivem Sozialkapital, sondern auch von individuellem Sozialkapital vor. Die meisten Studien weisen darauf hin, dass Personen, die über ein vergleichsweise hohes Maß an sozialem Kapital verfügen, einen besseren Gesundheitszustand aufweisen.

Soziales Kapital und Gesundheit

Im Hinblick auf die Frage, auf welchem Weg soziales Kapital die Gesundheit beeinflusst, wird häufig zwischen kompositionalen und kontextuellen Effekten unterschieden (Kawachi & Berkman 2014). So kann eine Korrelation zwischen sozialem Kapital und Gesundheit auf Aggregatebene darauf zurückzuführen sein, dass sozial isolierte und somit auch gesundheitsgefährdete Individuen gehäuft in Gebieten mit niedrigem sozialem Kapital leben. Von kontextuellen Effekten würde man sprechen, wenn die Korrelation durch strukturelle Eigenheiten der Gebiete (z. B. kommunale Ressourcen) erklärt werden kann.

Es ist davon auszugehen, dass das soziale Kapital gesundheitsrelevante Wirkungen auf unterschiedlichen Ebenen entfalten kann. Auf der individuellen Ebene ist an gesundheitsrelevante Verhaltensweisen sowie psychosoziale Faktoren (Selbstwirksamkeit, Anerkennung), auf der Ebene der nachbarschaftlichen Umgebung an die Verbreitung von gesundheitsrelevanten Informationen und gesundheitsförderlichen Normen oder an den Zugang zu lokalen (Versorgungs-)Leistungen und auf der nationalen Ebene an die Funktionsfähigkeit der Politik und des Gesundheitswesens zu denken.

Diese Überlegungen bilden die Grundlage für die Verwendung des Konzeptes „soziales Kapital“ in der Gesundheitsförderung (Cox 1997; Naidoo & Wills 2019). Demnach haben Maßnahmen zur Stärkung sozialer Partizipation, z. B. in Vereinen und freiwilligen Zusammenschlüssen, zur Förderung von Hilfsbereitschaft sowie zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens ein starkes gesundheitsförderliches Potenzial. Dabei kommt Maßnahmen, die in der Kommune, im Stadtteil oder im Wohnumfeld ansetzen, eine besondere Bedeutung zu. Darunter fallen Maßnahmen zur Entwicklung der sozialen Kapazitäten und Handlungskompetenzen des Gemeinwesens (Capacity Building), d. h. der Aufbau kommunaler Ressourcen und die Weiterentwicklung der Fähigkeiten der Bürgerinnen und Bürger zur Durchführung von Gemeinschaftsaktionen.

Eine adäquate Infrastruktur an Dienstleistungsangeboten ist für die Gesundheit und Lebensqualität von Menschen in einer gegebenen Wohngegend von entscheidender Bedeutung. Dienstleistungsangebote (z. B. Läden oder Postämter) und öffentliche Plätze in der Nachbarschaft fördern soziale Kontakte und das soziale Kapital. In diesem Zusammenhang gilt es auch, die Kenntnis der vorhandenen lokalen Angebote, Einrichtungen und Organisationen sowie die Kommunikationskompetenz auf Seiten der Bürgerinnen und Bürger zu fördern (Health Literacy/Gesundheitskompetenz). Eine weitere Maßnahme zur Steigerung des sozialen Kapitals besteht darin, Bürgerinnen und Bürger bei kommunalen Entscheidungen zu beteiligen. Bei der Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements (z. B. Ehrenämter, freiwillige Arbeiten, Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung) gilt es zu berücksichtigen, dass ein solches Engagement nur dann gesundheitsförderlich ist, wenn – ähnlich wie bei beruflichen Tätigkeiten – eine angemessene Anerkennung erfahren wird und die Bedingungen als fair empfunden werden.

Literatur:

Coleman, J. S. (1990). Foundations of Social Theory. Harvard: Belknap Press of Harvard University Press.
Cox, E. (1997). Building social capital. Health Promotion Matters, 4, 1-4.
Kawachi, I. & Bergman, L. F. (2014). Social capital, social cohesion, and health. In: L. F. Bergman, I. Kawachi & M. Glymour (Hrsg.). Social Epidemiology. Oxford: Oxford University Press, 290-319.
Kawachi, I., Kennedy, B. P., Lochner, K. & Prothrow-Stith, D. (1997). Social capital, income inequality, and mortality. American Journal of Public Health, 87, 1491–1498.
Naidoo, J. & Wills, J. (2019). Lehrbuch Gesundheitsförderung. Bern: Hogrefe.
Putnam, R. D., Leonardi, R. & Nanetti, R. (1993). Making democracy work: Civic traditions in modern Italy. Princeton University Press.

Verweise:

Capacity Building / Kapazitätsentwicklung, Gesundheitskompetenz / Health Literacy, Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger, Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung, Soziale Netzwerke und Netzwerkförderung