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Publicly Available Published by De Gruyter Mouton April 6, 2016

In memoriam Gerhard Nickel

  • Wolfgang Kühlwein

Am 23. Juli 2015 verstarb nach über zwei Jahren unsäglichen Leidens der Gründungspräsident der Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL e.V.) Ord. Univ.-Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Gerhard Nickel, M.A., Hon. F.I.L. Er selbst hat,bescheiden wie er persönlich war, diese lange Titelei kaum je bekundet. Im Gegenteil: Als er in jungen Jahren an der Universität Kiel zum Ord. Professor ernannt wurde, hat er nicht etwa das Epithet ‚Prof.’ seinem Namensstempel hinzugefügt, sondern stattdessen schlicht das ‚Dr.’ weggeschnitten. Seine Tochter Beatrice, Privatdozentin der Komparatistik und Romanistik, sagt: ’er hat in den letzten beiden Jahren so viel überstanden, dass es fast den Anschein hatte, er würde immer alles überstehen’.

Beide Erfahrungen charakterisieren Gerhard Nickel: persönliche Bescheidenheit und Kraft, sich gegen jeden Sturm – nicht nur für sich, sondern auch für ihm nahestehende andere Menschen – zu stemmen.

Ohne es plakativ vor sich herzutragen, hatte Nickel eine vision, und ihn trieb auch eine mission an. Er widmete sein wissenschaftliches Leben – wofür seiner Familie viel Dank für deren Entbehrungen gebührt – der vision, dass Verstehen von Sprachen zu tieferem Verständnis für anderssprachige Kulturen und damit letztlich zu mehr Frieden in der Welt führen möge. Wen man versteht und für wen man darüber hinaus Verständnis hat, auf den schießt man nicht! So hob er denn bei seiner Rede zur Verleihung des Ehrendoktorats in Opole/Polen u. a. besonders auf so kongeniale Persönlichkeiten wie Wilhelm von Humboldt, Dwight Bolinger, Alfred Habdank Korzybski ab. – Seine mission: aus dieser Geisteshaltung heraus setzte er sich dezidiert von Strömungen wie ‚Sprache und Nation’ o. ä. ab, wie sie ja (obschon abnehmend) noch fortbestanden hatten. Dagegen: das Erforschen von Sprachen, auch der strukturellen und funktionalen Unterschiede zwischen unterschiedlichen Sprach(gemeinschaft)en waren für ihn stets als BRÜCKE verstanden, um Menschen einander näher zu bringen. Heute, kurz nach seinem Tode aktueller denn zuvor. Man höre auf ihn posthum!

Dieser synthetische Blick darauf, wofür Sprachwissenschaft gut sein möge, erklärt sich aus Nickels Werdegang und wissenschaftlichen Erfahrungen.

Geboren am 15. August 1928 in Kostellitz im damaligen Oberschlesien erlebte der Jugendliche durchaus bereits bewusst Krieg, Flucht und Vertreibung. Seine spätere Reaktion auf diese Erfahrungen verdient Hochachtung: kein Lamento; stattdessen Aufnahme und dauerhafte Pflege von Verbindungen zu seiner Heimatregion, dem nunmehr polnischen Kóscieliska, und darüber weit hinaus Initiierung von wissenschaftlichen Verbindungen zum Nachkriegspolen – mutige Kontakte, die in der Zeit des ‚Kalten Krieges’ im Osten wie im Westen alles andere als karriereförderlich, ja sogar suspekt waren. Nickel wollte helfen, Polen und Deutschland wieder zu einander finden zu lassen, und als Instrument dafür stand ihm sein Fach(wissen) zur Verfügung. Man hatte ihn in seiner Erlanger Zeit einmal als Politiker gewinnen wollen. Er entschied sich dagegen: für sein Fach. Erfolg am Beispiel Polen: Welch’ frühe und bis heute von vielen auch ihm beruflich Nahestehenden noch nicht als solche erkannte ‚ANWENDUNG’ der Linguistik!

Gerhard Nickel wurde Student, Assistent, Lehrer in Bamberg und dann an der Universität Erlangen: Neuere Fremdsprachen, Philosophie, Theologie – diese Verbindung erklärt vieles seines späteren Tuns.

Schon in diesen frühen Jahren erweist sich, dass für den Studenten Gerhard Nickel per definitionem festgelegte Begrenzungen zu eng waren. Seine Doktorarbeit Der soziokulturelle Hintergrund der frühen amerikanischen Komödie (1952, unveröffentl.), hervorgegangen aus seiner Magisterarbeit an der Universität South Carolina, Columbia/S.C. (1951), erweist schon Möglichkeiten, wie damals mögliche linguistische Analyse der literaturwissenschaftlichen Interpretation dienlich sein kann und wie diese ihrerseits soziopolitische Prozesse, wie man heute sagen würde, erklären und sie verbessern könnte. Wieder: Eine frühe ANWENDUNG – ehe ‚Angewandte Linguistik’ überhaupt geboren war?

Der nächste Brückenschlag erfolgte mit seinen Mittelalterstudien. Sein Artikel Die Begleiterepisode in Sir Gawain and the Green Knight erfolgt zwar unter literaturhistorischer Fragestellung (Originalitätshypothese, die Nickel unterstützt), verwendet hierfür aber damals neue textlinguistische Verfahren.

Die Habilitationsschrift Die Expanded Form im Altenglischen (1966) ist zu einem anerkannten Standardwerk geworden.

Schon 1963 nahm Gerhard Nickel einen Ruf auf den Lehrstuhl für Englische Sprachwissenschaft an der Universität Kiel an und war damit einer der damals jüngsten Ordentlichen Professoren Deutschlands. Er fand ein Institut im alten philologischen Sinne vor. Und dann kam da ein joungster-Prof., der was Neues, weitgehend von Amerika Kommendes, genannt ‚Linguistics’, einführen wollte und dann auch gleich eine Deutsche Gesellschaft für Angewandte Linguistik gründen wollte! Beides geriet zu einem großen Erfolg.

Mit der örtlichen Unterstützung von Weinrich, Heger (damals beide Romanistik), Steger (Germanistik) und Winter (Vergleichende Sprachwissenschaft) hielt die neuere Linguistik Einzug in Kiel. – Vor allem aber: Gerhard Nickel wäre nicht er selbst gewesen, wenn er sich nicht stets an die Versammlung erinnert hätte, die – wohl mit Wohlwollen des Europarates – 1964 in Straßburg eine non-governmental organization namens International Association of Applied Liunguistics (AILA) gegründet hatte. Mit zwei Schwerpunkten: ‚(Fremd-) Sprachenunterricht’ und ‚Sprachliche Datenverarbeitung’.

Deshalb lud er für den 15. Juni 1968 zu einem vorbereitenden Treffen für eine deutsche AILA-Sektion nach Hannover ein. Am 02. November 1968 kamen daraufhin im Leo-Roeppel-Saal des Internationalen Hauses Sonnenberg bei St. Andreasberg im Harz [Anmerkung: damals einer der wenigen Orte, dessen Sprach- und Kulturtagungen sich stets auch osteuropäischer TeilnehmerInnen erfreuen durften] 19 TeilnehmerInnen aus Universitäten, Schulen, Deutsch-als Fremdsprache-Institutionen zusammen und gründeten die GESELLSCHAFT FÜR ANGEWANDTE LINGUISTIK (GAL) e.V. Pit Corder/Edinburgh, Max Gorosch/Stockholm, Sven Nord/Europarat unterstützten von fern.

Zum 1. Vorsitzenden [den Titel Präsident gab es noch nicht] wurde mit 16 von 18 Stimmen Gerhard Nickel gewählt. Bis 1976 übte er diese Funktion aus, wofür die GAL ihm mit der Ernennung zum Ehrenvorsitzenden dankte. Ein bisschen war Nickel dann doch Politiker: Er schickte Mitarbeiter/Assistenten in die deutschen Lande, um für diese neue Gesellschaft für Angewandte Linguistik zu werben. Und wieder: mit großem Erfolg. Schon beim 1. Kongress der Gesellschaft im November 1969 waren aus den beiden Säulen der AILA–Gründung in der GAL acht Sektionen geworden: Pädagogische Technologie, Theorie der Übersetzung, Didaktik des Fremdsprachenunterrichts, Erforschung der deutschen Gegenwartssprache, Psycholinguistik, Linguistik, Sprachtests, Maschinelle Sprachanalyse.

Kurz vorher war Nickel dem Ruf für Englische Sprachwissenschaft an die Universität Stuttgart gefolgt. Sie brauchte damals jemanden, der Erfahrung im Aufbau von Neuem hatte. Die Stuttgarter Jahre bauten auf seinen Kieler Initiativen auf. Das langfristig angelegte Project for Applied Contrastive Linguistics (PAKS –die Homophonie mit pax ‚Frieden’ war kein Zufall) konnte weitergeführt werden. Zumal Nickel inzwischen zu den auch international führenden Experten in Kontrastiver Linguistik und Fehleranalyse gehörte, konnte sich das Projekt in die Reihe vergleichbarer Vorhaben in anderen, besonders auch osteuropäischen Ländern einfügen.

Hinzu kamen Herausgeber- und Beraterfunktionen; so langjährig für die International Review of Applied Linguistics in Language Teaching (IRAL), für SYSTEM, für Studi Italiani di Linguistica Teorica e Applicata (SILTA), für Indian Journal of Applied Linguistics (IJOAL), für ITL Review of Applied Linguistics, für Lenguage y Ciencias, für Papers and Studies in Contrastive Linguistics (PSICL), und natürlich für das AILA-Bulletin – vor allem auch über die GAL hinaus seine langjährigen Funktionen als Angehöriger des engeren Vorstands der Weltorganisation für Angewandte Linguistik (AILA) – Beraterfunktionen für bildungspolitische Institutionen wie den EUROPARAT und die UNESCO.

Ehrungen, ‚fellowships’, Medaillen zeugen von verdienter Anerkennung.

Trotz bereits so früh beginnender internationaler Einbindung und trotz so zahlreicher Managementfunktionen im Fach hat Gerhard Nickel nie die ‚Bodenhaftung’ verloren. An erster Stelle standen für ihn stets die Studierenden. Dies erweisen in seinen frühen Jahren die dreibändige Neuedition von Holthausens Beowulfausgabe, aber nun mit seinen engsten Mitarbeitern dezidiert auf den Gebrauch für Studierende hin ausgelegt, bis hin zu seiner Einführung in die Linguistik (2. Aufl. 1985). Diese setzt sich von manch anderen Einführungen insbesondere dadurch ab, dass sie an keiner Stelle versucht, die Studierenden auf eine bestimmte Theorie hin ‚einzuschwören’, sondern rivalisierenden Theorien deskriptiv und objektiv ihren Raum gibt.

Eben dies kennzeichnete auch das Verhältnis zu seinen MitarbeiterInnen. Nickel hat seine MitarbeiterInnen nie auf eine bestimmte fachliche Richtung ‚eingeschworen’. Er hat es nie als Lebensaufgabe gesehen, etwa eine Nickel-Schule im Fach zu etablieren. Er gewährte uneingeschränkte Freiheit im Bekennen zu den unterschiedlichsten Schulen und im Entwickeln eigener theoretischer Ansätze.

Aber ohne uneingeschränkte Leistungsbereitschaft und Loyalität wäre beim Chef Nickel für keinen etwas ‚gelaufen‘. Indes: Nickel lebte diese beiden sine qua non – Anforderungen auch selbst. Leistung bis an die physischen Grenzen sowieso (er selber war Sportler gewesen); auch Loyalität, so seine bedingungslosen Einsätze für Mitarbeiter, wenn sie bzw. ihre Arbeiten unfair angegriffen wurden.

Jedenfalls lief es langfristig für viele doch sehr gut. So manche Lehrstühle wären ohne Nickels Pionierarbeit überhaupt nie eingerichtet worden. Und für so manche Professuren haben sich frühere AssistentInnen Nickels erfolgreich qualifiziert, so etwa in Berlin, Bremen, Hannover, Lüneburg Marburg, Münster, Trier, Tübingen. Trotz großer Vielfalt in den Profilen dieser Professuren: gefreut hat sich Gerhard Nickel stets, wenn mit ihnen – in welchem Maße auch immer – sein angewandt-linguistisches ERBE weitergegeben wurde.

Die Linguistik, insbesondere deren ANWENDUNG, verdankt eben diesem Erbe heute mehr als wir seinen Angehörigen, seiner Gattin Beate Nickel und seinen Kindern zum Ausdruck bringen können. Ihnen gilt unser aller Mitgefühl und Angedenken.

Bleibenden wissenschaftlich-herzlichen Dank unserem Gerhard Nickel!

Wolfgang Kühlwein

Published Online: 2016-04-06
Published in Print: 2016-04-01

©2016 by De Gruyter Mouton

Downloaded on 28.3.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zfal-2016-0006/html
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