Twitter – Medium der Geschichtskultur, z.B. @9Nov38 (Außenperspektive)

 

Abstract: Hohe Resonanz in traditionellen wie neuen Medien und über 11000 Follower verzeichnete das Microblogging fünf junger HistorikerInnen zu den Novemberpogromen vor 75 Jahren. Ermöglicht zeitversetztes Tweeten wie das Projekt @9nov38 neue Brückenschläge in die Gegenwart? Einem ersten Kurzbeitrag der AutorInnen am 28.10.2013 folgten im November über 400 weitere Tweets, eine Abfolge aus Quellenauszügen und quellenbasierten Nachrichten. Der Wechsel des Slogans bei Twitter von „What are you doing?“ zu „What’s happening“ im Jahr 2009 bildete dabei die Voraussetzung, über aktuelle persönliche Befindlichkeiten und Tätigkeiten hinaus Kurzmeldungen und Kommentare zu posten und auszutauschen.1
DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-798.
Languages: Deutsch


Hohe Resonanz in traditionellen wie neuen Medien und über 11000 Follower verzeichnete das Microblogging fünf junger HistorikerInnen zu den Novemberpogromen vor 75 Jahren. Ermöglicht zeitversetztes Tweeten wie das Projekt @9nov38 neue Brückenschläge in die Gegenwart? Einem ersten Kurzbeitrag der AutorInnen am 28.10.2013 folgten im November über 400 weitere Tweets, eine Abfolge aus Quellenauszügen und quellenbasierten Nachrichten. Der Wechsel des Slogans bei Twitter von „What are you doing?“ zu „What’s happening“ im Jahr 2009 bildete dabei die Voraussetzung, über aktuelle persönliche Befindlichkeiten und Tätigkeiten hinaus Kurzmeldungen und Kommentare zu posten und auszutauschen.1

Geschichte als Statusupdate?

Auf einige geschichtstheoretische Fehlschlüsse des neuen Medienformats zur Thematisierung von Geschichte wurde bereits hingewiesen: aufzählende Fragmentierung in Einzelereignisse anstelle historischer Narration, Simulation einer Kopräsenz durch die Illusion minutengenauen „Miterlebens“ „der“ Ereignisse, Gleichsetzung von Vergangenheit und Geschichte durch die Anwendung des historischen Präsens.3 „What happened?“ wäre also der geeignetere Slogan für Geschichts-Tweets. Zur medialen Eigenlogik von Twitter gehört schließlich nicht nur die Deutung durch Auswahl von 140 Zeichen kompatiblen Nachrichten, sondern auch durch die Festlegung einer zumutbaren bzw. rezipierbaren Nachrichtenfrequenz für die Follower. „Im Endeffekt würden … am Abend und in der Nacht des 9./10. Novembers tausende Ereignistweets durchlaufen, die keiner mehr lesen oder aufnehmen könnte. Die Auslassung ist also gewollt und nötig.“4 Dagegen haben sich die AutorInnen von @9nov38 dem Problem der fehlenden Kontextualisierung und mangelnder Kohärenzangebote gestellt: Die begleitende Website5 enthält Quellen, einen Blog sowie Links zu Reaktionen auf das Projekt. Nach dessen Abschluss sollen überdies die Inhalte aller Tweets in einer Datenbank mit Literaturverweisen belegt werden.

Medienspezifische Potenziale

Die über mehrere Wochen abgesetzten Tweets können die temporale Dynamik der Novemberpogrome als Terrorwoche mit ihrer Vor- und Nachgeschichte deutlich machen. Durch ihre simultane Taktung mit der Gegenwart des Nutzers erhalten sie möglicherweise einen erhöhten Aufmerksamkeitsstatus und Prägnanz. Die im öffentlichen Gedenken stattfindende Reduktion der Vorgänge auf eine „Pogromnacht“ wird aufgebrochen. Die ereignisgeschichtlich individualisierenden und personalisierenden Kurznachrichten zum Leid der Opfer rücken die Gewalt gegen Menschen stärker ins Bewusstsein als dies häufig in den öffentlichen Medien erfolgt. Denn dort werden vor allem auch auf visueller Ebene die Pogrome auf die materielle Zerstörung reduziert, den brennenden Synagogen und zerstörten Geschäften. Natürlich müssen auch Geschichts-Tweets erst einmal abonniert werden, setzen also Eigeninitiative voraus, die aber als niederschwellig anzusiedeln ist. Als virtuelle Stolpersteine können sie neue Zielgruppen ansprechen und Lernvorgänge in Gang setzen oder verstärken. Das zeigt zumindest das auch die AutorInnen überraschende hohe Interesse der Follower an den verlinkten Quellen. 

Geschichte auf der Timeline

Da die Tweets im persönlichen bunten Nachrichten-Mix der Nutzer landen, stellt sich natürlich auch hier die Frage nach Kohärenz und Stabilität der Sinnbildungen durch diese historischen Weckrufe.6 Möglicherweise fungiert aber dieses „barrierefreie“ Einbrechen der Tweets in die Normalität und Gegenwart des eigenen Alltags auch als ein weiterer Zugang jenseits der normativ gebotenen Trauer, weil der Nutzer bzw. die Nutzerin sich auch hier bewusst wird, dass er bzw. sie selbst gerade etwas tut, was für viele Juden in Europa nicht möglich gewesen ist.7 „Das Vergangene muß eine Art neuer Gegenwart erhalten, zu neuem Leben erweckt werden: zu einem ‚sekundären’ Leben, dessen Ort unser Bewußtsein ist”8. So beschrieb Rolf Schörken lange vor dem Web 2.0 Vergegenwärtigung als eine Form der historischen Bemühung um Aneignung von Geschichte in der Gegenwart. Ein kreativer Versuch, das Vorstellungsvermögen zu aktivieren und Ritualisierungen des Gedenkens aufzubrechen, ist das Projekt in jedem Fall.

Vgl. Autorenteam Hoffmann, Jahnz & Schmalenstroer mit ihrer Akteursperspektive

_____________________

Literaturhinweise

Webressourcen

____________________

Abbildungsnachweis

Screenshot von @9Nov38 (22.11.13, 12.30 Uhr) mit freundlicher Genehmigung der AutorInnen.

Empfohlene Zitierweise

Bühl-Gramer, Charlotte: Twitter – Medium der Geschichtskultur, z.B. @9Nov38 (Außenperspektive). In: Public History Weekly 1 (2013) 13, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-798.

Copyright (c) 2013 by De Gruyter Oldenbourg and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact the editor-in-chief (see here). All articles are reliably referenced via a DOI, which includes all comments that are considered an integral part of the publication.

The assessments in this article reflect only the perspective of the author. PHW considers itself as a pluralistic debate journal, contributions to discussions are very welcome. Please note our commentary guidelines (https://public-history-weekly.degruyter.com/contribute/).

  1. Moraldo, Sandro M.: «das Leben in 140 Zeichen …heisst Twitter:-)» Kommunikative Aspekte der Microblogging-Plattform Twitter. In: Sprachspiegel (2012) 3, S. 77-85. Demnach hing die Umformulierung des Eingabeformats mit dem in der Anzahl gestiegenen und vor allem veränderten Nutzungsverhalten der Twitter-User zusammen: Über den ursprünglich intendierten aktuellen “Status” hinaus wurden vielmehr weitläufige Aspekte des aktuellen Geschehens mitgeteilt.
  2. Moraldo, Sandro M.: «das Leben in 140 Zeichen …heisst Twitter:-)» Kommunikative Aspekte der Microblogging-Plattform Twitter. In: Sprachspiegel (2012) 3, S. 77-85. Demnach hing die Umformulierung des Eingabeformats mit dem in der Anzahl gestiegenen und vor allem veränderten Nutzungsverhalten der Twitter-User zusammen: Über den ursprünglich intendierten aktuellen “Status” hinaus wurden vielmehr weitläufige Aspekte des aktuellen Geschehens mitgeteilt.
  3. Hodel, Jan: Geschichte twittern? In: weblog.histnet.ch, vom 28.11.2011. Abrufbar unter URL: http://weblog.hist.net/archives/6026, (14.11.2013). Pallaske, Christoph: nachgefragt | Vergangenheit im Liveticker – geht das? | @9nov38. In: Historisch denken | Geschichte machen | Blog von Christoph Pallaske, vom 12.11.2013. Abrufbar unter URL http://historischdenken.hypotheses.org/2196, (14.11.2013).
  4. Michael Schmalenstroer, Mitglied des Projektteams. Schmalenstroer, Michael: 9Nov38 – ein Experiment auf Twitter. In: Schmalenstroer.net, vom 30.10.2013. Abrufbar unter URL http://schmalenstroer.net/blog/2013/10/9nov38-ein-projekt-auf-twitter/ (12.11.2013).
  5. Website des Projekts: http://9nov38.de/.
  6. Vgl. Kommentar von Oliver Plessow bei PHW.
  7. Vgl. Kommentar von Anke John bei PHW.
  8. Schörken, Rolf: Begegnungen mit Geschichte. Vom außerwissenschaftlichen Umgang mit der Historie in Literatur und Medien, Stuttgart 1995, S. 12.

Categories: 1 (2013) 13
DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-798

Tags: , ,

1 reply »

  1. Redaktionelle Anmerkung: Bitte beachten Sie für die Diskussion des Beitrags von Charlotte Bühl-Gramer auch die Kommentarspalte zum Beitrag des Autorenteams Hoffmann, Jahnz & Schmalenstroer.

Pin It on Pinterest