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Licensed Unlicensed Requires Authentication Published by De Gruyter Oldenbourg October 5, 2018

Lumpen sammeln. Mit Siegfried Kracauer im Dickicht des 19. Jahrhunderts

  • Till van Rahden EMAIL logo
From the journal Historische Zeitschrift

Zusammenfassung

Siegfried Kracauers 1969 veröffentlichte Studie „Geschichte – Vor den letzten Dingen“ zählt zu den wichtigsten geschichtstheoretischen Arbeiten des 20. Jahrhunderts. Besonders für Historiker des 19. Jahrhunderts lohnt sich die Auseinandersetzung mit Kracauers ebenso eigensinnniger wie unheroischer Gedankenwelt. Seine Geschichtstheorie bietet sich an, um diese Epoche neu zu entdecken, ein Jahrhundert, das ganz im Zeichen von abstrakten Schlagworten und gewichtigen Gesamtdarstellungen steht, die einschüchtern statt Neugier zu wecken. Gerade für diese Epoche könnte es sich als fruchtbar erweisen, sich von den Großtheorien zu verabschieden, die unser Verständnis prägen. Als Geschichtstheoretiker stand Kracauer den Gewissheiten der Geschichtsphilosophie ebenso skeptisch gegenüber wie dem Szientismus der historischen Sozialwissenschaft. Stattdessen plädierte er dafür, genau hinzuschauen und die historische Wirklichkeit im Detail zu entdecken. Der Verzicht auf letzte Fragen, eindeutige Antworten und analytische Präzision öffnet den Blick für Widersprüche und Paradoxien, Zwischenräume und Ambivalenzen. Für den Historiker als Lumpensammler könnte sich Kracauer dabei als ein störrischer Reisebegleiter und als ein eigensinniger Weggefährte erweisen. Das setzt die Bereitschaft voraus, sich auf Abwege zu begeben, dort wo die Hände schmutzig, die Gedanken verschwommen, aber frei und die Großtheorien fragwürdig werden, um über den Wert der Lumpen nachzudenken, die sich rechts und links des Weges aufstechen lassen.

Abstract

Siegfried Kracauer’s study „History: The Last Things Before the Last“ was published posthumously in 1969. It is not only his last book and his opus magnum but literally his legacy to the humanities. This essay attempts to read his study against the background of a long tradition of controversies over the nature of historical reality, the meaning of history, and the concept of history since the early Enlightenment. Especially historians of the 19th century might benefit from engaging Kracauer’s whimsical and unheroic theory of history. His reflections help us to rediscover an age that has been buried under a lexicon of abstract concepts and weighty works of masterly synthesis that combine to dampen and intimidate rather than arouse curiosity. Skeptical both of the ultimate truths of the philosophy of history and the scientific claims to objectivity of the social sciences, Kracauer’s theory of history encourages historians to gently prick their ears, to look ever so carefully and to discover the historical reality found, like God in the details. By avoiding final questions, definitive answers, and overconfident analytical precision, Kracauer urges us to explore contradictions and paradoxes, ambivalences and the interstices of history. This, as this paper argues, requires a disposition to go astray, a readiness to explore overgrown trails and back-alleys where historians can dirty their hands, where ideas become fuzzy and grand theories are rendered questionable.

Online erschienen: 2018-10-05

© 2018 by Walter de Gruyter Berlin/Boston

Downloaded on 21.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/hzhz-2018-0027/html
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