Skip to content
BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter May 31, 2023

Rainer Kuhlen, Dirk Lewandowski, Wolfgang Semar, Christa Wormser-Hacker (Hrsg.): Grundlagen der Informationswissenschaft, 7., völlig neu gefasste Ausgabe, Berlin: De Gruyter, 2023, gebundene Ausgabe: 958 S., ISBN-10: 311076895X, ISBN-13: 978-3110768954, € 220,00

  • Dirk Weisbrod EMAIL logo

Reviewed Publication:

Rainer Kuhlen Dirk Lewandowski Wolfgang Semar Christa Wormser-Hacker (Hrsg.) Grundlagen der Informationswissenschaft, 7., völlig neu gefasste Ausgabe Berlin De Gruyter 2023 gebundene Ausgabe € 220,00 ISBN-10: 311076895X, ISBN-13: 978-3110768954 1 958


Seit der sechsten Auflage der „Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation“ sind zehn Jahre vergangen. Das vormals unter der Abkürzung LaiLuMU (nach den Herausgebern der Erstauflage Klaus Laisiepen, Ernst Lutterbeck und Karl-Heinrich Meyer-Uhlenried) bekannte Werk erschien 1972 zum ersten Mal und hat Ausbildung und Berufsleben ganzer Generationen begleitet. Die nunmehr bei De Gruyter erschienene 7., völlig neu gefasste Ausgabe überrascht zunächst mit einem neuen Titel: „Grundlagen der Informationswissenschaft“. Damit soll – so die Herausgeber – „dem Rechnung getragen werden, dass die Informationswissenschaft es verstärkt unternimmt, die Grundlagen ihres Faches und ihrer Profession wissenschaftlich abzusichern.“ Der neue Titel deutet somit eine Erweiterung, wenn nicht Verschiebung des inhaltlichen Schwerpunkts des Werks von der Informationspraxis zu einem wissenschaftlichen Nachschlagewerk an. Zugleich wird versichert, dass „kein radikaler Bruch mit den bisherigen Ausgaben“ beabsichtigt sei.

Die in diesen Worten angedeutete Kontinuität besteht hingegen gerade in der Spannung zwischen Theorie und Praxis, die in der Informationswissenschaft auch wegen ihrer engen Verknüpfung mit Institutionen wie Bibliotheken, Archiven und Museen besonders ausgeprägt ist. Betrachtet man die neue Ausgabe der „Grundlagen“ genauer, so deutet sich sogar eine Stärkung des Praxisbezugs an. Kapitel wie „Thesauri“ (B4), „Klassifikation“ (B5) und „Formale Erschließung“ (B6), die in der sechsten Ausgabe ausgespart wurden, sind nun wieder mit neugefassten Beiträgen enthalten. Seinerzeit wurde damit argumentiert, dass in diesen Themenfeldern nur geringe Änderungen zu verzeichnen seien, sodass man auch auf die älteren Texte zurückgreifen könne. Nun war und ist es aber die Aufgabe eines Grundlagenwerkes, ebensolche Grundlagen unmittelbar zu behandeln, gerade auch für den sich noch in der Ausbildung befindlichen Leserkreis. Dass die älteren Artikel zum Ausgleich kostenlos online bereitgestellt wurden, konnte nach Meinung des Rezensenten über dieses Defizit nicht hinwegtäuschen. Dies hat offenbar auch das Herausgebergremium erkannt. Mit B2 „Intellektuelles Indexieren“ wurde sogar der 2004 verfasste Artikel des 2015 verstorbenen Gerd Knorz in leicht bearbeiteter Form wieder aufgenommen.

Damit umfasst das Werk 958 paginierte Seiten mit 70 Beiträgen von 78 Autorinnen und Autoren. Es ist in 6 Teile gegliedert: A „Informationswissenschaft im Kontext“, B „Methoden und Systeme der Inhaltserschließung, Wissensorganisation und Wissensrepräsentation“, C „Information Retrieval“, D „Informationsverhalten“, E „Proprietäre und offene Informationsmärkte“ sowie F „Regulierungsformen von Wissen und Information“. Zudem verfügen die Grundlagen über ein umfangreiches, 82 Seiten starkes, Glossar sowie ein Stichwortregister. Da es im Rahmen einer Rezension unmöglich ist, auf alle Beiträge einzugehen, sollen hier nur einige Beobachtungen herausgegriffen werden.

Im einleitenden Beitrag, A1 „Information – ein Konstrukt mit Folgen“, entwickeln Rainer Kuhlen und Wolfgang Semar den pragmatischen Informationsbegriff Kuhlens weiter. Die bekannte Formulierung „Information ist Wissen in Aktion“ setzt sich sowohl von einem formal-mathematischen als auch von einem semantischen Informationsbegriff ab. Information wird demnach von ihren Nutzern „erst in konkreten Situationen situativ handlungsleitend konstruiert“. Den Prozess der Informationskonstruktion beschreiben Kuhlen und Semar nunmehr mit zwei unterschiedlichen Begriffen: dem Information-P, der potenziell relevanten Information, i.S. von aufbereitetem Wissen, das der Öffentlichkeit über diverse Informationskanäle angeboten wird; und dem Information-N, das die Nutzer aus dem ihnen zugänglichen Information-P als relevant akzeptieren und nutzen.

Die Autoren machen zugleich deutlich, dass die Informationswissenschaft immer noch weit davon entfernt sei, „eine verbindliche, allseits akzeptierte Bestimmung von Information entwickelt zu haben“. Auch in den Kapiteln dieser Ausgabe sei eine Heterogenität der Informationsverständnisse festzustellen.

Dies dürfte auch in Zukunft so bleiben. Konstatiert doch Hans-Christoph Hobohm in A3 „Theorien in der Informationswissenschaft“, dass metatheoretisch – wenn auch in vielfacher Ausdifferenzierung – zwei unterschiedliche Ansätze verfolgt werden. Neben einem Konstruktivismus, der auch dem von Kuhlen und Semar vertretenen pragmatischen Informationsbegriff zugrunde liegt, ist das ein Realismus, der „logische Ordnung und Kategorien als gegeben an(sieht), die menschliches Handeln koordinieren aufgrund der in den Informations-Artefakten vorgefundenen Eigenschaften.“ Dieser Realismus, der etwa bibliotheks- und archivwissenschaftlichen Ordnungsprinzipien zugrunde liegt, lässt sich nicht ohne Weiteres in den pragmatischen Informationsbegriff integrieren, wie auch die Bibliothekswissenschaft nicht einfach unter die Informationswissenschaft zu subsumieren ist. Insofern bleibt auch mit Information-P und -N die Diskrepanz zwischen den beiden von Hobohm angesprochen Begriffs- und Theoriekategorien bestehen, da sie nur die konstruktivistisch-pragmatische Perspektive adressieren.

Hinsichtlich des Einsatzes innovativer digitaler Technologien bilden die „Grundlagen“ einen auch allgemein zu beobachtenden Trend ab: Verfahren der künstlichen Intelligenz (KI) – und hier insbesondere das „Deep Learning in Neuronalen Netzen“ – spielen bei der Erschließung, Aufbereitung und Analyse von Informationen (etwa B8 „Abstracting – Textzusammenfassung“, B12 „Automatische Sprachverarbeitung“, B13 „Informationsvisualisierung und Visual Analytics“, B14 „Maschinelle Übersetzung“) sowie in Retrieval-Systemen (hier etwa C3 „Suchmaschinen“, C4 „Interaktives Information Retrieval“, C9 „Sprachmodelle und neuronale Netze im Information Retrieval“, C12 „Empfehlungssysteme“) eine immer größere Rolle. Offenbar sind die erzielten Erfolge so beeindruckend, dass die Autorinnen und Autoren von einem „Paradigmenwechsel“, von „dominiert mittlerweile die aktuelle Forschung“ oder „Popularität“ sprechen.

Allerdings werden KI-Verfahren immer nur im Kontext ihrer jeweiligen Anwendung abgehandelt, sodass ihre grundsätzliche Bedeutung für die Informationswissenschaft nicht genügend deutlich wird. Ein entsprechendes Kapitel, in dem u. a. die Funktionsweise verschiedener KI-Technologien, die mit ihnen verbundenen Methoden der Datenverarbeitung (Knowledge Bases vs. Big Data), Stärken und Schwächen (wie etwa die Intransparenz von Deep-Learning-Algorithmen) sowie die Bedeutung des ausgerufenen „Paradigmenwechsels“ für das Fach im Zusammenhang erörtert wird, bleibt somit ein Desiderat für zukünftige Ausgaben.

Deep Learning ist aber nur ein Aspekt der sog. Digitalisierung. Die digitalen Kommunikations- und Informationstechnologien insgesamt haben – so die Herausgeber – „nicht nur ganz neue Methoden und Verfahren für die Informationsarbeit hervorgebracht, sondern auch die Öffnung der Fachinformationsmärkte in die allgemeinen Publikumsmärkte provoziert.“ Erfreulich ist, dass in vielen Beiträgen auch ein Gespür für die Neuartigkeit der Herausforderungen entwickelt wird, die im Kontext neuer Medien für jene entstehen, die Informationen verarbeiten und nutzen.

Beispielhaft sei zunächst Kapitel E8 „Social Media & Social Web“ von Isabella Peters erwähnt. Die Autorin klärt die oft unscharf benutzten Begriffe „Web 2.0“, „Social Media“, „Social Software“ und „Soziale Netzwerke“ und widmet sich dann den Praktiken im Social Web, die um User Generated Content (UCG) oder Vernetzung kreisen. Dies wirft dann auch ein Schlaglicht auf die Plattformökonomie (Kapitel E2) mit ihren komplexen Geschäftsmodellen: „Oftmals wird kritisiert, dass UGC auf der kreativen Freiwilligkeit der Nutzenden aufbaut, die für ihre Arbeit nicht bezahlt werden. Dies wiegt schwer, wenn man bedenkt, dass der UGC häufig an die Plattformen gebunden ist (teilweise weder gelöscht noch exportiert werden kann) und sie diesen durchaus zur Erfüllung ihrer Geschäftsmodelle nutzen.“ Für die Forschung (z. B. Erforschung der Nutzungsmotivation oder des Social Web als soziotechnisches System, in dem Informationen ausgetauscht und verknüpft werden) und die Informationspraxis (z. B. Archivierung, Erschließung und Zugänglichmachung von Social Media) ergeben sich daraus neue Fragestellungen.

Ein ähnliches Problembewusstsein zeigt auch Kapitel D5 „Information Need, Informationsbedarf und -bedürfnis“ von Kirsten Schlebbe und Elke Greifeneder. Nach einer Einführung in das Forschungsfeld und seine Konzepte kommen die Autorinnen auch auf „das Entdecken von Informationen, ohne dass diese konkret gesucht werden“ zu sprechen. Die Relevanz solcher Informationen für bestimmte Nutzer ermitteln Dienste wie Google Discovery, „basierend auf persönlichen Einstellungen und bisherigen Webaktivitäten“ und sozusagen im Hintergrund, u. a. durch Einsatz der oben erwähnten Verfahren der KI. Die Autorinnen schließen mit der Feststellung: „Eine Untersuchung der Erstellung von automatisierten Empfehlungen sowie der Auswirkungen dieser auf menschliche Informationsbedürfnisse stellt daher ein relevantes Gebiet für zukünftige Forschung dar.“

Damit ist ein Problemkreis angeschnitten, der in Kapitel F1 „Informationsethik“ von Herrmann Rösch behandelt wird. Das Kapitel bietet nicht nur einen gut lesbaren und verdichteten Überblick über die Grundbegriffe Ethik, Moral und Recht, der Funktion von Ethikkodizes und Ethikkommissionen sowie der Geschichte, Konzepte und Zielsetzungen der Informationsethik, sondern auch eine präzise ethische Evaluation, der sich aus dem rasanten Wandel von Informationstechnologien ergebenden Fragestellungen. Dabei handelt es nicht nur um die Instrumentalisierung von Mediennutzern als Produkt oder die kommerzielle Verwertung ihrer Datenspuren, sondern um eine ganze Reihe von Phänomenen wie Zensur, Sicherung der Meinungsfreiheit, Datenschutz oder Desinformation, die entlang diverser Grundwerte eingeführt und besprochen werden. Aufmerksamkeit müsse – so der Autor – den Einsatzmöglichkeiten und dem Missbrauchspotential von künstlicher Intelligenz sowie der Wahrung von Meinungsfreiheit und der Bekämpfung von Desinformation gewidmet werden. Zudem wird auch auf Ethik als Korrektiv von Recht eingegangen, dessen für die Informationswissenschaft relevanten Bereiche in F3–6 (Urheberrecht, Datenschutz und Informationsfreiheit, Plagiat) besprochen werden.

Mit „Informationspathologien – Desinformation“ (F6) befasst sich Rainer Kuhlen dann im abschließenden Kapitel. Für die Produktion und Rezeption von Fake News, Clickbaits, Deep Fakes, aber auch des Media Bias’ in klassischen Medien, ist demnach nicht entscheidend, ob eine Information im epistemologischen Sinne objektiv wahr ist oder ob sie überhaupt als Information bezeichnet werden kann, sondern ob die Rezipienten die dargebotenen Inhalte als solche auffassen. Für die Analyse von Pathologien erweist sich somit Kuhlens und Semars pragmatischer Informationsbegriff als besonders geeignet; er gibt aber keine Antwort auf die Frage, wie Desinformation erkannt und korrigiert werden kann. Hilfsweise wird auf die Vertrauenswürdigkeit und damit die Prüfung der Quellen medial dargebotener Information verwiesen. Ob der Einsatz von KI bei der Entdeckung von Desinformation sinnvoll ist, muss angesichts der Tatsache hinterfragt werden, dass diese selbst auch für die Produktion und Verbreitung solcher Informationen eingesetzt wird (Stichwort: Bots). Aus Sicht des Rezensenten ist daher die Stärkung der „informationellen Urteilskraft“ durch Bildung in Schulen und Hochschulen, aber auch durch Informationsspezialisten und -spezialistinnen, die vielversprechendste.

Die genannten Beispiele zeigen, welche Bedeutung der Informationswissenschaft seit einiger Zeit durch die digitalen Medien zuwächst. Die neuen „Grundlagen der Informationswissenschaft“ können daher auch programmatisch, im Sinne des Entwicklungspotenzials des Fachs, gelesen werden. Gerade dies macht, neben der wiedergewonnenen Breite, ihre Stärke aus.

Abschließend sei noch auf ein erfreuliches Detail hingewiesen. Nicht nur fast ein Drittel der Beiträge in Teil E (9–13) widmet sich dem offenen Zugang zu digitalen Publikationen und Informationen (Open Science und Open Government), auch alle Kapitel der „Grundlagen“ sind erstmals Open Access und unter https://doi.org/10.1515/9783110769043 frei zugänglich. Damit hat jeder, der sich die Printausgabe für stattliche 220 Euro nicht leisten kann, die Möglichkeit alle Kapitel online zu nutzen. Die Printausgabe dieses Standardwerkes sollte hingegen in keiner informationswissenschaftlichen Bibliothek fehlen.

Published Online: 2023-05-31
Published in Print: 2023-08-24

© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 9.6.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/bfp-2023-0031/html
Scroll to top button