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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter November 10, 2021

Saskia Gall, Erzählen von unmâze. Narratologische Aspekte des Kontrollverlusts im ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach. (Beihefte zum Euphorion 101) Winter, Heidelberg 2018. 294 S., € 45,–.Angila Vetter, Textgeschichte(n). Retextualisierungsstrategien und Sinnproduktion in Sammlungsverbünden. Der ‚Willehalm‘ in kontextueller Lektüre. (Philologische Studien und Quellen 268) E. Schmidt, Berlin 2018. 392 S., € 89,95.

  • Anna Kathrin Bleuler EMAIL logo
From the journal Arbitrium

Rezensierte Publikationen:

Saskia Gall, Erzählen von unmâze. Narratologische Aspekte des Kontrollverlusts im Willehalm Wolframs von Eschenbach. (Beihefte zum Euphorion 101) Winter, Heidelberg 2018. 294 S., € 45,–.

Angila Vetter, Textgeschichte(n). Retextualisierungsstrategien und Sinnproduktion in Sammlungsverbünden. Der ‚Willehalm‘ in kontextueller Lektüre. (Philologische Studien und Quellen 268) Schmidt, Berlin 2018. 392 S., € 89,95.


Mit den beiden 2016 abgeschlossenen und 2018 veröffentlichten Dissertationen von Saskia Gall (Karlsruhe) und Angila Vetter (Kiel) liegen zwei Monographien zu Wolframs von Eschenbach Willehalm vor, die dessen Erforschung in jeweils ganz unterschiedlicher Art und Weise neue Impulse geben. Beiden Arbeiten – so verschieden sie hinsichtlich ihrer Fragestellung und ihrer thematischen Ausrichtung sind – ist gemeinsam, dass sie eine neue Perspektive auf den Willehalm einnehmen und methodisch äußerst reflektiert angelegt sind.
Saskia Galls Studie widmet sich der Darstellung von Kontrollverlusten, die die Figuren aufgrund von Affekten wie zorn und trûren erleiden, und untersucht diese in Hinblick auf ihre Bedeutung für die Figurenkonstitution sowie ihre narrativen Funktionen. Zum Vergleich zieht sie Wolframs altfranzösische Vorlage, die Chanson de geste Bataille d’Aliscans, sowie den Eneas-Roman Heinrichs von Veldeke heran.
Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ist die These, dass das Maßhalten (mâze) in der um 1200 entstandenen höfischen Epik als Leitkategorie fungiert, an der sich das Ideal einer höfisch agierenden Figur ausrichtet, und dass demzufolge Erregungszustände wie Zorn, Wut oder Verlust des Bewusstseins sowie deren Ausdrucksmittel (u. a. Klagen und Weinen) als Verstöße gegen den höfischen Verhaltenscodex anzusehen sind (S. 14). Ausführlich erörtert Gall die Frage nach der passenden Beschreibungssprache für solche gegen das mâze-Ideal verstoßenden Handlungen (S. 23–28) und gelangt zu dem Ergebnis, dass diese nicht als Emotionen, sondern als affektische Handlungen zu bezeichnen sind, da ihnen das Moment der Überwältigung innewohne, was der Affektbegriff nachgerade impliziere. Emotionen dagegen seien kontrollierbar und können – im Unterschied zu affektischen Handlungen – gezielt eingesetzt werden (S. 27). Ausgehend von dieser Begriffsdefinition stellt Gall die Arbeitshypothese auf, dass solche das mâze-Ideal verletzenden, affektischen Handlungen auf der Handlungs- und Figurenebene als zweckfrei beziehungsweise unmotiviert erscheinen (S. 267) und es deshalb zur Erschließung ihrer Funktionen erforderlich sei, die Analyse auf die Ebene des Erzählens auszuweiten. Im Zentrum steht dann die Frage nach den narrativen Funktionen solcher Handlungen (S. 267). Damit steckt Gall ihr Forschungsfeld ab und definiert zugleich den Bereich, gegen den sie sich in ihrer Arbeit maßgeblich richtet, nämlich den der psychologisierenden Figureninterpretation, der sich in den 1950er- und 60er-Jahren ausgebildet hat. Methodisch gesehen plädiert Gall dafür, die narratologischen Analysen kleinteilig, das heißt auf einzelne Szenen fokussiert, durchzuführen, um auf diese Weise einerseits die jeweiligen Erzählstrategien möglichst detailliert herausarbeiten zu können und andererseits der ‚Gefahr‘ von psychologisierenden Interpretationen zu Figurenentwicklungen zu entgehen (S. 52). Aspekte der historischen Emotionsforschung sowie der Ritualforschung bezieht Gall ein, wenn es zu klären gilt, inwieweit eine Handlung tatsächlich als zweckfrei – oder doch als zweckgebunden beziehungsweise rituell anzusehen ist (S. 40–60).
Untersuchungsgegenstand sind affektive Schlüsselszenen (u. a. die Tötung Arofels durch Willehalm, Willehalms Auftritt in Munleun, seine Trauer um Rennewart [S. 67–118]; Rennewarts Auftritte in Munleun, Orange und bei Petit Pont [S. 140–214] und Gyburgs Auftritt beim Hoffest in Orange [S. 238–257]). Den einzelnen Analysen sind Forschungsreferate vorangestellt, die gewinnbringend in die Textanalysen einbezogen werden, allerdings ist das wiederholte Abrechnen mit den (heute ohnehin obsoleten) psychologisierenden Entwicklungsthesen der früheren Forschung mitunter etwas ermüdend. Die Frage indes, ob beziehungsweise inwiefern eine Handlung als Kontrollverlust aufzufassen ist oder nicht, erweist sich, dies zeigen Galls Untersuchungen, als gar nicht so einfach. Denn sie hängt maßgeblich davon ab, in Bezug auf welchen (kulturellen) Deutungsrahmen die Handlung interpretiert wird. Gut zu sehen ist das in Bezug auf Galls Interpretation der Szene, in der Willehalm um Rennewart klagt und in deren Verlauf der Markgraf weint und in Ohnmacht fällt. Gall deutet diese Handlung als affektiven Verstoß gegen zuht und mâze, denn Weinen sei weiblich konnotiert (S. 113). Sie bezieht sich dabei auf eine andere Stelle des Romans – nämlich Gyburgs Weinen am Hoffest auf Orange (Willehalm, 246–252) –, an der dies entsprechend dargestellt wird (S. 113; S. 253). Das heißt: Der Deutungsrahmen, in Bezug auf den Gall Willehalms Weinen um Rennewart interpretiert, ist der (intratextuelle) literarische Diskurs über höfische Verhaltensnormen. Dies ließe sich – wie Sonja Kerth in ihrer Rezension zu Galls Arbeit[1] treffend feststellt – auch anders deuten, indem man nämlich die für das Werk konstitutive Gattungshybridität berücksichtigt und deren Bedeutung für die Figurenkonstitution fruchtbar macht:

In der Heldenepik ist exorbitantes Trauern, das neben lautem Weinen und Ohnmacht mitunter sogar an Selbstverstümmelung erinnernde Handlungen umfasst, Kennzeichen des guten, treuen Gefolgsherrn. Es erscheint funktional und positiv konnotiert, wenn es eine Trauergemeinschaft herstellt und Rachehandlungen aktiviert. Ein Normverstoß liegt daher in der Trauerszene um Rennewart nicht zwingend vor.[2]

Kerth setzt andere Normen für die Interpretation von Willehalms Weinen an, nämlich solche, die sich an dem in der Heldenepik etablierten Ethos des Heroischen ausrichten, und löst damit ein, was Gall einleitend selbst einfordert, nämlich dass die Bedeutung von Gattungsinterferenzen für die Figurenkonstitution untersucht werden müsse (S. 62–66). Keine der beiden Interpretationen ist falsch, sondern sie bereichern sich gegenseitig. Und dies zeigt, dass der produktive Zugang zur Erschließung der Vielschichtigkeit und Ambivalenz von Wolframs Figurendarstellungen nicht die Kategorie des Kontrollverlusts als solche ist, sondern vielmehr die Frage danach, inwiefern die Darstellung einer affektischen (bzw. emotionalen) Handlung als Kontrollverlust anzusehen ist oder nicht. Diesen Zugang hätte Gall bisweilen etwas konsequenter verfolgen können.
Wie gewinnbringend es sein kann, hierfür auch Sinnzusammenhänge, die sich über größere Texträume hinweg ergeben, zu berücksichtigen, zeigt Gall unter anderem, indem sie Willehalms Klage um Rennewart in Relation zur Vivianz-Klage (Willehalm, 61–64) setzt: Da die beiden Szenen aufgrund ihrer strukturellen Parallelität paradigmatisch aufeinander bezogen sind, fungiert der in der Vivianz-Klage explizit als Kontrollverlust inszenierte Zusammenbruch Willehalms als ‚Folie‘, vor der das Moment des Kontrollverlusts in Willehalms Klage um Rennewart profiliert wird. Solche übergeordneten Sinnzusammenhänge hätten auch für die Interpretation anderer Szenen stärker berücksichtigt werden können.
Insgesamt offenbart Galls Ebenen verknüpfende Analyse der (potenziellen) Kontrollverluste im Willehalm Motivationsstrukturen in der Handlung und lässt Rückschlüsse auf die Figurenkonzeptionen zu. Ein zentrales Ergebnis ihrer Studie ist, dass die Protagonisten die basalen Affekte Trauer und Zorn, durch die sie sich in Aliscans definieren, zwar beibehalten; zusätzlich jedoch erhalten sie – als weiteres konstitutives Merkmal – die Fähigkeit, sich gemäß den höfischen Werten und Normen zu verhalten (S. 271). Das bedeutet, so Gall, dass „für die Handlungen von Figuren, die ursprünglich aus dem heroischen Chanson de geste-Kontext stammen, die höfischen Werte und Normen als Bezugspunkt etabliert werden“ (S. 271). Dieses Ergebnis ist im Grunde wenig überraschend, jedoch: Die Arbeit liefert mit ihren detaillierten Textanalysen neue Evidenz dafür.
Angila Vetter unternimmt den Versuch, Ansätze der Material Philology und der überlieferungsgeschichtlichen Forschung für literaturwissenschaftliche Fragestellungen nutzbar zu machen, indem sie die Textgeschichte des Willehalm, die sich über die Prozesse des Kopierens, Umschreibens und Neuschreibens konstituiert (S. 340), in bislang wenig erforschten Handschriften untersucht. Ihre These ist, dass sich der Prozess der Textübertragung nur in Bezug auf die Texte, mit denen der Willehalm gemeinsam in einer Handschrift überliefert ist, angemessen beschreiben lässt, was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass es sich beim Willehalm um ein (wohl) unabgeschlossenes, fragmentarisch überliefertes Werk handelt.
Von dieser Grundannahme ausgehend untersucht Vetter Retextualisierungsstrategien in bislang wenig erforschten Sammelhandschriften, die den Willehalm abseits des die Überlieferung dominierenden Erzählzyklus (Ulrichs von dem Türlin Arabel, Willehalm und Ulrichs von Türheim Rennewart) mit ganz unterschiedlichen geistlichen und weltlichen Erzähltexten kontextualisieren. Solche Kompilierungen des Willehalm mit Texten, die nicht dem gängigen Zyklus zuzurechnen sind, stellen eine im gesamten Überlieferungszeitraum nachzuweisende Form der Tradition dar (S. 14–19). Vetter zeigt in ihrer Studie, dass hier – ähnlich wie in den Handschriften, die den Willehalm zusammen mit seinen beiden Ergänzungsdichtungen überliefern – die Tendenz besteht, „die komplexe Multiperspektivität der Wolframschen Poetik zu vereindeutigen“ (S. 341).
Den methodischen Ansatz entwickelt Vetter anhand des Codex Sangallenis 857 (S. 57–95). Im Vordergrund steht dabei die Frage, inwiefern sich materielle, kodikologisch erfassbare Daten für die Frage nach dem Verhältnis der Texte zueinander nutzbar machen lassen und näherhin, welchen Aufschluss diese über die Auffassungen der Kompilatoren und Redaktoren von Autor, Stoffgeschichte und Gattungsvorstellungen zu geben vermögen. Die induktiv gewonnenen Erkenntnisse dazu bilden die Basis für die theoretisch-methodischen Vorüberlegungen, die die Voraussetzung für die Untersuchung der Hamburger Willehalm-Sammelhandschrift germ. 19 (S. 214–335) sowie der beiden Willehalm-Fragmente Nr. 35 (S. 97–129) und 22+31 (S. 130–213) schaffen.
In ihrer Untersuchung gelingt es Vetter sodann, kontextuelle Lektüren nachzuweisen, die sich über die materielle und textuelle Bearbeitung der Texte ergeben. In Bezug auf das Schönsteiner Fragment 35 zum Beispiel, in dem das Herzmære Konrads von Würzburg, nach Einfügung einer Überschrift, direkt auf den Willehalm folgt, weist Vetter Umarbeitungen nach, die bewirken, dass Liebe und Leid so eng miteinander verwoben werden, dass das Märe mit dem Willehalm grundsätzlich vergleichbar wird. Hierzu trägt entscheidend bei, dass im Herzmære sowohl das Pro- als auch das Epimythion getilgt sind, wodurch der Aufruf der ‚Tristan‘-Minne fehlt; zudem erscheint der Text anonym, was andere intertextuelle Bezüge ermöglicht. Vetter zeigt, dass durch den Wegfall des Gottfried-Zitats und damit einhergehend des Minnegedankens, der zumindest potenziell eine Erfüllung in der Welt zulässt, in dieser Herzmære-Version den Liebenden jegliches weltliche Glück verwehrt ist und der Tod die einzige Möglichkeit der Vereinigung bietet. Durch diese Bearbeitung verbindet sich das Minnekonzept des Märes mit dem des Willehalm-Fragments, in welchem „den Figuren der Transzendenzgedanke der Minne, also die Erlösung durch den Tod und den Eingang ins Himmelreich, stets als Endpunkt allen irdischen Leidens präsent“ bleibt (S. 342). Vetters Analyse des Schönsteiner Fragments zeigt, dass solche Textkürzungen und -glättungen dem Anstoß neuer Erzählprozesse geschuldet sind, die auf den fragmentarischen Status des Willehalm reagieren (S. 343).
Insgesamt macht Vetters Studie deutlich, dass in den verschiedenen Sammelhandschriften jeweils unterschiedliche Bedeutungspotenziale des Willehalm aktiviert werden: Während im Cod. Disc. 35/Ko der Zusammenhang von Minnedienst und Gottesdienst profiliert wird, ist es im Cod. Disc. 22+31/E der von Gotteskrieg und Heilsgeschichte und im Hamburger Codex germ. 19 der von Heiligkeit und Heidenkampf. Vetter arbeitet solche Retextualisierungs- beziehungsweise Textvergesellschaftungsstrategien in minutiösen Analysen heraus. Allein deshalb schon ist dieses Buch lesenswert, ganz besonders aber aufgrund der Fähigkeit der Autorin, handschriftenkundliche Befunde gewinnbringend mit überlieferungsgeschichtlichen und literaturwissenschaftlichen Fragestellungen zu verbinden.
Online erschienen: 2021-11-10
Erschienen im Druck: 2021-12-31

© 2021 Anna Kathrin Bleuler, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 28.4.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/arb-2021-0079/html
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