Psychiatr Prax 2007; 34(5): 215-217
DOI: 10.1055/s-2007-970817
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Psychiatriereform war nur eine Modernisierung

The Reformation of Psychiatry was Only a Modernization Pro:Sebastian  Stierl, Kontra:Manfred  Bauer
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Publication Date:
27 June 2007 (online)

Pro

„Ich glaube, dass es ganz wichtige Gesichtspunkte sind, die von jedem Sozialpsychiater zu bedenken sind, dass er weiß, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen er arbeitet und die Tatsachen zu erkennen lernt, die Sozialpsychiatrie in den letzten Jahren möglich gemacht hat …, um einkalkulieren zu können, dass bei einer Veränderung der ökonomischen Lage diese sozialpsychiatrischen Ansätze als ein modischer Firlefanz abgetan werden können und es einen Rückzug der Psychiatrie auf alte Positionen und alte Organisationsmodelle geben kann” (1971).

Der Reformbegriff wird zunehmend zur Verschleierung des Sozialabbaus missbraucht. Es scheint deshalb sinnvoll, die Psychiatriereform auf ihre Substanz zu überprüfen.

Dabei definiere ich Reform als politischen Transformationsprozess der Anpassung gesellschaftlicher Verhältnisse (hier der psychiatrischen Versorgung) im Interesse einer demokratischen Mehrheit zur nachhaltigen Verbesserung der Lebensbedingungen unter besonderer Berücksichtigung von Minderheiten und Schwachen (hier der Schwer- und chronisch psychisch Kranken). Davon unterscheide ich die Modernisierung. Diese findet ebenfalls als Anpassung an sich verändernde Verhältnisse statt, hier aber vorrangig „nach dem neuesten Stand der Wissenschaft”. Begriffe wie „Markt”, „Effektivität”, „Konkurrenz” und „Individualisierung der Lebensgestaltung” lassen dabei die grundsätzlich ideologische Ausrichtung an den Maßstäben einer neoliberal-kapitalistischen Gesellschaft erkennen. Während „Staat” und „Solidarität” als verstaubt und überholt gelten, wird „privat” und „Profit” zwar nicht unbedingt als gerecht, sicher aber als modern assoziiert.

Ausgehend von der Bestandsaufnahme „teilweise elender, menschenunwürdiger Verhältnisse” (Zwischenbericht der Enquete 1973) sollte die Psychiatrie am Ende der notwendigen Reform bedarfsgerecht, gemeindeorientiert und seelisch Kranke endlich mit körperlich Kranken gleichgestellt sein. Die Expertenkommission hatte 1988 zu ihrer Umsetzung konkretere Schritte empfohlen.

Die kritische Bilanz ist ernüchternd. Unzulängliche gesetzliche Präzisierungen und fehlende Durchsetzungsinstrumente führen aufgrund mangelnder Verbindlichkeit zu unterschiedlichen Standards und Versorgungsniveaus in den Regionen (z. B. Zwangseinweisungsraten, Rehabilitationsmöglichkeiten, Hilfebedarfskriterien). Das Regionalisierungskonzept als Prinzip kollektiver Verantwortung bleibt vom guten Willen der Beteiligten abhängig, schlimmstenfalls bildet es den Rahmen für einen Kampf um „Kunden”, um das Überleben der Einrichtung „am Markt”. Fachliche Standards werden im Gesetzgebungsverfahren soweit verzerrt, bis sie schließlich als „Leistungsverhinderungsgesetze” (z. B. Soziotherapie, Ambulante Psychiatrische Pflege) in Kraft treten.

Der Bettenabbau in den psychiatrischen Anstalten verschleiert die Tatsache, dass in der Regel neben der Schaffung neuer Betten in psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern der Ausbau privater Heimplätze insgesamt zu einem Anstieg psychiatrischer Betten in der Region und somit zu einer Verstärkung der stationären Versorgung führt (von wegen: „ambulant vor stationär”!). Mit der Privatisierung von Landeskrankenhäusern ist die Hoffnung auf weitere Bettenreduzierung endgültig tot: wer wird schon die Kuh schlachten, die man gekauft hat, um sie zu melken?

Bei dieser Rechnung bleibt die ungeheuerliche Verdopplung forensischer Betten innerhalb der letzten 10 Jahre noch unberücksichtigt.

„Personenzentrierung”, ursprünglich entstanden in Abgrenzung zur „Institutionszentrierung”, pervertiert in der Praxis viel zu oft (z. B. in Lüneburg) zur Legitimierung entwürdigender Hilfebedarfskontrollen und ihrer restriktiven Umsetzung in Fachleistungsstunden. Unmerklich verschieben sich unter Rationierung und Kostendruck die Patienten der Psychiatrie in andere Zuständigkeiten: hier in die Forensik, dort in die Obdachlosigkeit. Für die weniger Störenden locken die gepflegten Betten von Psychosomatik und Psychotherapie. Die postmoderne Individualisierung und Entstaatlichung spiegelt sich in der Psychiatrie in Form von Entsolidarisierung, Deregulierung und Deinstitutionalisierung. Psychiatrie entwickelt sich unter diesen Bedingungen vom „öffentlichen Gut” zur „warenförmigen Dienstleistung” (2005).

Auch in der Klinik halten sich die Fortschritte, z. B. bei der Behandlung akuter Psychosen, in Grenzen. An den Milieus der Aufnahmestationen sind die Erkenntnisse der biopsychosozialen Forschung vorbeigegangen: zur Reizabschirmung und Entängstigung werden nach wie vor gleich (un-)wirksame Medikamente missbraucht, um konzeptionelle Ideenlosigkeit, Personalabbau und Qualifikationsdefizite zu kompensieren. Die Nebenwirkungen sind zwar nicht mehr so auffällig, dafür aber nicht weniger schwerwiegend. Bei qualitätsgesichertem Personalabbau zerrinnt uns die PsychPV zwischen den Fingern. Nach außen reden wir von Psychotherapie und Beziehung und in Wirklichkeit reduziert sich der direkte Patientenkontakt bei den Ärzten mittlerweile auf weniger als die Hälfte ihrer Arbeitszeit. Immerhin herrschen in der Psychiatrie keine elenden, menschenunwürdigen Verhältnisse mehr. Auch forensische Stationen sind heute hell und geschmackvoll eingerichtet, die Hightech-Überwachung dezent verkleidet - und auch der personellen Kontinuität in der Therapie wird hier Rechnung getragen …

Nach der Entlassung stauen sich die Patienten vor den psychotherapeutischen Praxen, während psychiatrische Kassenarztsitze zunehmend verwaisen. Mit den weiter boomenden (Alten-)Heimen, den privatisierten Krankenhäusern und dem Wegbrechen der psychiatrischen „Tante-Emma-Praxen” ist die Psychiatrie in der neoliberalen Wirklichkeit angekommen. Psychiatrisches Handeln wird in nie da gewesener Weise einer allumfassenden Ökonomisierung unterworfen, Beziehungen in Minutenwerte und Teilleistungseinheiten zerhackt. Die Abkehr von der staatlich garantierten Funktion sozialer Sicherung in Richtung auf eine gewinnorientierte, betriebswirtschaftliche Ausrichtung des Sozialen trifft auch in der Psychiatrie - wen wundert's - vorrangig chronisch Kranke.

Da die Welt uns nicht den Gefallen getan hat, sich trotz unseres entschieden moralischen Anspruchs in eine gerechtere zu verwandeln, werden wir die bestehende Ungerechtigkeit wohl als gegeben anerkennen. Psychiatrie wäre künftig als Teil des medizinischen Dienstleistungsbetriebes zu begreifen, wo sie sich als Ware konkurrierend auf dem expandierenden Gesundheitsmarkt behaupten muss.

Die gesellschaftlichen Bedingungen haben sich seit 1971 gewaltig verändert. Ein Zurück, wie es M. Richartz befürchtete, wird es nicht geben. Allerdings ist etwas anderes herausgekommen, als von der DGSP und den Reformern ursprünglich geplant war. Bei unbestritten positiven Veränderungen in Teilbereichen (Abteilungen, Tageskliniken, Betreutes Wohnen etc.) sehen wir keine Reform, sondern eine konsequente Modernisierung der Psychiatrie.

Literatur

  • 1 Richartz M. et al . Was ist Sozialpsychiatrie? (Interview).  Soz Psych Inf. 1971;  5 57-93
  • 2 Fülberth G. G Strich - Kleine Geschichte des Kapitalismus. Köln; Papyrossa 2005: 15
  • 3 Bauer M, Richartz M. Angepasste Psychiatrie als Psychiatrie der Anpassung. Das Argument 60 - Kritik der bürgerlichen Medizin. Berlin; 1970: 152-162
  • 4 Richartz M, Bauer M. Zur Ideologie der „Arbeit” in der Sozialpsychiatrie. In: Dörner K, Plog U (Hrsg) Sozialpsychiatrie - Psychisches Leiden zwischen Integration und Emanzipation. München; Luchterhand 1972: 61-69
  • 5 Bauer M. Streifzüge durch die englische Psychiatrie.  Soz Psych Inf. 1973;  Heft 14/15 1-164
  • 6 Hemprich R D, Kisker K P. Die Herren der Klinik und ihre Patienten.  Nervenarzt. 1968;  39 433
  • 7 Fischer F. Irrenhäuser- Kranke klagen an. München; Desch 1969
  • 8 Bauer M. Reform als soziale Bewegung: Der „Mannheimer Kreis” und die „Gründung der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie”. In: Kersting FW (Hrsg) Psychiatrie - Reform als Gesellschaftsreform. Paderborn; Schöningh Verlag 2003
  • 9 Häfner H. Die Psychiatrie-Enquete - historische Aspekte und Perspektiven. In: Aktion Psychisch Kranke (Hrsg) 25 Jahre Psychiatrie-Enquete. 2001: 72-102
  • 10 Bauer M. Woher wir kommen, wo wir stehen, wohin wir gehen (sollten). Zur Entwicklung der Sozialpsychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland. In: Hoffmann-Richter U, Haselbeck H, Engfer R (Hrsg) Sozialpsychiatrie vor der Enquete. Bonn; Psychiatrie Verlag 1997: 109-121
  • 11 Bauer M. Von der Schwierigkeit der Gemeindepsychiatrie mit sog. forensischen Patienten.  Psych Pflege. 1996;  2 107-111
  • 12 Stierl S. Das Ende der Psychiatrie-Reform.  Soziale Psychiatrie. 2005;  1 4-8

Dr. med. Sebastian Stierl

Ltd. Arzt am NLKH Lüneburg

Am Wienebütteler Weg 1

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Prof. Dr. Manfred Bauer

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