Klin Monbl Augenheilkd 2006; 223(11): 869-876
DOI: 10.1055/s-2006-926888
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft (DOG) im Nationalsozialismus

The German Ophthalmological Society (DOG) during the Period of National SocialismJ. M. Rohrbach1
  • 1Augenklinik des Universitäts-Klinikums, Abteilung I (Ärztlicher Direktor Prof. Dr. K. U. Bartz-Schmidt), Tübingen
Nach einem Vortrag anlässlich der 103. Tagung der DOG, zugleich 15. Zusammenkunft der SOE, Berlin, 25. - 29.9.2005
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Publication History

Eingegangen: 20.7.2005

Angenommen: 16.5.2006

Publication Date:
28 November 2006 (online)

Zusammenfassung

Die Geschichte der DOG in der NS-Zeit ist bisher, 61 Jahre nach dem Ende der Hitler-Diktatur, noch nicht systematisch untersucht worden. Nach Auswertung verschiedener Quellen, hierbei insbesondere der DOG-Berichtsbände von 1934, 1936, 1938 und 1940, lässt sich das folgende Bild nachzeichnen. 1. Die Machtergreifung Hitlers wurde von der großen Mehrheit der DOG-Mitglieder begrüßt. 2. Durch eine Satzungsänderung wurde der DOG-Vorstand der Kontrolle des Reichsinnenministeriums unterstellt. Die DOG entging dadurch der „Gleichschaltung” und blieb relativ selbstständig. 3. Von den Inhabern ophthalmologischer Lehrstühle im Reichsgebiet, welche die Meinungsführerschaft innerhalb der DOG innehatten, gehörten etwa 40 % der NSDAP an. Die allermeisten von ihnen traten der Partei erst 1933 oder später bei. 4. Bis zur letzten Tagung 1940 in Dresden entfaltete die DOG noch relativ rege Aktivitäten, welche danach aber offenbar fast vollständig zum Erliegen kamen. 5. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” vom 1.1.1934 wurde von der DOG intensiv diskutiert. Prominente Ophthalmologen und DOG-Mitglieder waren für (Zwangs-)Sterilisationen mit verantwortlich. Einen offiziellen Einfluss auf die Sterilisationspraxis nahm die DOG soweit bekannt aber nicht. 6. Zwischen 1932 und 1940 verlor die DOG etwa 12 % ihrer Mitglieder. Hierbei handelte es sich vor allem um ausländische und um inländische, jüdische Augenärzte. Der Austritt erfolgte, wie Walther Löhlein es nach dem Kriege formulierte, „freiwillig”, dürfte aber ganz wesentlich durch das Gefühl, in der DOG unerwünscht zu sein, motiviert gewesen sein. Der Nationalsozialismus hatte zum Teil gravierende Auswirkungen auf die Augenheilkunde. Mögen einzelne DOG-Mitglieder hieran beteiligt gewesen sein, so war die DOG als Organisation nach den bisherigen Erkenntnissen aber nicht in die Exzesse involviert. Angesichts des Umstandes, dass mehr als 10 % der Mitglieder aus der Prä-NS-Zeit es vorzogen, ihre wissenschaftliche Vereinigung zu verlassen, bleibt es allerdings Interpretationssache, ob die DOG von 1933 bis 1945 gänzlich „schuldlos” geblieben ist.

Abstract

Sixtyone years after the end of the Hitler dictatorship, the history of the German Ophthalmological Society (DOG) has still hardly been investigated. According to different sources, especially the reports of the DOG congresses 1934, 1936, 1938, and 1940, the following picture can be drawn: 1. The seizure of power (”Machtergreifung”) of Adolf Hitler was appreciated by most of the DOG members. 2.After a change of the constitution the DOG came under the control of the “Reichsinnenministerium”. However, it escaped the egalitarianism (”Gleichschaltung”) and remained relatively independent. 3. Approximately 40 % of the heads of the German university eye clinics who were the most influential DOG representatives were members of the national socialistic German working party (NSDAP). Almost all of these joined the party in 1933 or later. 4. Up to the last congress in Dresden, 1940, the DOG activities were quite extensive. After that time the activities strongly declined. 5. The “Law for the prevention of genetically disabled offspring” (”Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses”) from January 1st 1934 was intensely discussed by the DOG. Some prominent ophthalmologists and DOG members were at least in part responsible for the sterilisations because of “congenital blindness”. However, as far as it is known, the DOG itself did not intervene directly concerning the practice of sterilisation. 6. Between 1932 and 1940, the DOG lost approximately 12 % of its members. Many of these stemmed from foreign countries, and many were German Jews. The latter left the DOG, as Walther Löhlein stated after the end of the war, “voluntarily”. However, a main reason for leaving the DOG was very likely the feeling of being unwanted. The national socialism had several disastrous effects on ophthalmology. Although single DOG members participated in the excesses, the DOG as an organization was not directly involved. However, taking into consideration that more than 10 % of the members of the pre-Hitler era left their scientific society it is a matter of interpretation whether the DOG remained completely innocent between 1933 and 1945.

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2 Adolf Hitler erlitt im Oktober 1918 als Frontsoldat im 1. Weltkrieg eine Giftgasverletzung, die eine vorübergehende, ihn prägende Blindheit verursachte. Es ist nicht bekannt, ob Hitler durch diese Verletzung bleibende Schäden an den Augen zurück behielt. Hitler hat Walther Löhlein an der Berliner Universitäts-Augenklinik wiederholt konsultiert (Prof. Dr. H. Harms [1908 - 2003], seinerzeit Oberarzt Löhleins in Berlin, persönliche Mitteilung 2002). Im März 1944 äußerte Hitler gegenüber Albert Speer, dass seine Gesundheit schwer angegriffen sei und er befürchten müsse, bald sein Augenlicht zu verlieren. Speer als sehr enger Mitarbeiter Hitlers berichtete allerdings später nichts über Auffälligkeiten im Verhalten „des Führers”, die auf einen stärkeren visuellen Funktionsverlust hätten hindeuten können [26]. Die Vermutung, Hitler könne an einer Arteriitis temporalis gelitten haben, konnte bis heute nicht bestätigt werden [23].

Prof. Dr. Jens Martin Rohrbach

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