Rofo 2005; 177(12): 1622-1624
DOI: 10.1055/s-2005-858758
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

MR-Myelographie oder: Die Kunst der Differenzialindikation

Magnetic Resonance Myelography or The Art of Differential IndicationW. Golder1
  • 1Association d`Imagerie Médicale, Troyes/France
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Publication Date:
07 December 2005 (online)

Die kernspintomographischen Verfahren, mit deren Hilfe langsam strömende Flüssigkeit signalreich dargestellt werden kann, haben rasch Verbreitung gefunden. Die MR-Myelographie (MRM) ist ein gutes Beispiel für den Erfolg dieses Typs von Untersuchungen. Der Datensatz einer MRM kann mit geringem Zeitaufwand akquiriert und in vielfältiger Weise rekonstruiert werden. Der Kontrast ist hervorragend, die Bildergebnisse sind eindrucksvoll. Die Alternative der gadoliniumverstärkten MRM ist - anders als etwa die direkte oder indirekte kontrastverstärkte MR-Arthrographie - nach einer kurzen Phase der klinischen Erprobung gegenüber der Nativtechnik in den Hintergrund getreten [1]. Ihr Einsatz wird nur in wenigen Fällen, z. B. zur Prüfung der Obstruktion bzw. Kommunikation von Kompartimenten der Liquorräume, für Liquorflussstudien und zum Nachweis von Liquorfisteln erwogen [2].

Obwohl die Stärke der MRM in der Übersichtsdarstellung und nicht im Detail liegt, ist sie eine typische Zusatzuntersuchung. Die MRM wird nahezu ausnahmslos im Zusammenhang mit einer spinalen MRT durchgeführt. Anders als etwa die methodisch vergleichbare MRCP, die eine andere Untersuchung komplett ersetzen und die man deshalb auch unabhängig von einer MRT der Leber indizieren kann, wird sie so gut wie nie isoliert angefordert und durchgeführt. Die medizinische Notwendigkeit ergibt sich erst aus dem Resultat der Standard-MRT der Wirbelsäule; nur ausnahmsweise wird die MRM vom zuweisenden Kollegen ausdrücklich und von vorneherein als Zusatzleistung verlangt. Die korrekte Indikation liegt also in der Hand des Untersuchers.

Die Wahl der geeigneten Projektionen ist eine wesentliche Voraussetzung für die diagnostische Qualität der MRM. Darin unterscheidet sie sich nicht von der konventionellen Myeloradikulographie. Die Darstellung des Liquorraums in zumindest vier Ebenen ist deshalb auch von der MRM zu fordern. Da die Schrägaufnahmen nicht gezielt gewonnen werden, sind grundsätzlich sogar mehr als vier Projektionen, beispielsweise acht oder zwölf, sinnvoll. Diese methodische Voraussetzung muss eine MRM erfüllen, um aussagekräftig zu sein. Daher bestehen erhebliche Zweifel an der Eignung der Single-Shot(T2-TSE)-Technik für die MRM. Es ist verlockend, mit dieser Methode im Bruchteil einer Minute ein Myelogramm zu gewinnen. Das Single-Shot-Myelogramm ist indes, selbst wenn man es in zwei zueinander senkrechten Orientierungen gewinnt, kaum geeignet, den Informationswert einer spinalen MRT zu steigern. Auch der klinische Partner, der den Bildeindruck der Myelographie schätzt und vom Ergebnis der Myelographie u. U. den Entschluss zu einer bestimmten Form der Intervention abhängig macht, wird sich mit einem mono- oder biplanen Myeloradikulogramm nicht zufrieden geben. Das Myelogramm ersetzt auch nicht die zur Operationsplanung u. U. erforderliche Abbildung der Wirbelsäule in der dritten Ebene. Wenn zusätzlich zu den sagittalen und axialen Standardaufnahmen eine Darstellung der Wirbelsäule in der Koronarebene erforderlich ist, leistet die MRT sogar bessere Dienste als die MRM.

Auch dann, wenn die MRM in optimaler Technik (Akquisition eines T2*w-GRE-, 3D-TSE- oder CISS-Datensatzes und anschließende multiplanare radiäre Rekonstruktion) durchgeführt wird, ist die Indikation mit Zurückhaltung zu stellen. Dies gebietet die unsichere Datenlage. Zum einen ist die Zahl der Untersuchungen, in denen die MRM anderen Verfahren zur Abbildung des Liquorraums gegenübergestellt wird, begrenzt. Zum anderen sind die Ergebnisse, die dabei mit der MRM erzielt wurden, widersprüchlich.

Vergleichende Studien über die Leistungsfähigkeit von MRT und MRM wurden sowohl an der HWS wie an der LWS durchgeführt. Den Auswertungen zufolge liefert die MRM an der HWS in 13 % der Fälle Informationen, die zur Etablierung der Diagnose beitragen, an der LWS beträgt die entsprechende Quote 6 % [3] [4]. Als unentbehrlich für die abschließende Diagnose wird die MRM nie eingestuft. Die lumbale MRM liefert nach Ansicht der Autoren in 73 % der Fälle keinerlei verwertbare Zusatzinformationen, in weiteren 21 % bestätigt sie lediglich das Resultat der MRT. Verließe man sich nur auf die MRM, so würden viele wichtige Befunde unentdeckt bleiben, z. B. jede vierte laterale intraforaminale Radikulopathie. Einen vergleichsweise hohen Informationsgewinn erzielt man mit der MRM bei Patienten mit multisegmentalen Läsionen. Etwas geringer, aber immer noch deutlich ist der diagnostische Ertrag des Verfahrens bei Patienten mit einer Skoliose. In diesen beiden Gruppen trägt die MRM dazu bei, das Segment, dessen pathologische Veränderungen für die Symptomatik am ehesten verantwortlich zu sein scheinen, zuverlässiger zu identifizieren. Wenn die Resultate von MRT und MRM differieren, so ist ausnahmslos letztere unterlegen, da sie weniger pathologische Befunde demonstriert als erstere. Dieser Unterschied ist im Segment L5/S1 besonders deutlich ausgeprägt.

In die bisher größte klinische Untersuchung zur Bedeutung der MRM als Zusatzmaßnahme bei der MRT der degenerierten Wirbelsäule sind 1022 Patienten aufgenommen worden [5]. Dabei wurde in 638 Fällen ein positiver und in 384 Fällen ein negativer Befund erhoben. Von den positiven Befunden wurden 22,3 % als klinisch relevant eingestuft, d. h., sie leisteten einen Beitrag zur abschließenden Beurteilung. Den negativen Befunden im MRM standen hingegen in 75 % positive Befunde in der konventionellen MRT gegenüber. Mit anderen Worten: Etwa jede zehnte MRM ergab einen falsch negativen Befund. Die Diskordanz der aus dem MRT bzw. MRM gezogenen diagnostischen Schlussfolgerungen war an der LWS am stärksten ausgeprägt (kappa: 0,2).

Dem großen Kollektiv der degenerativen Erkrankungen, bei denen die MRM die Erwartungen bisher nicht erfüllt hat, steht eine kleine und heterogene Gruppe von Leiden gegenüber, deren Erkennung und Beurteilung durch die MRM gefördert werden kann. Dazu gehören die intraduralen Tumoren, die spinalen vaskulären Malformationen und die duralen Lecks, vor allem jene nach traumatischen Läsionen des Plexus cervicobrachialis [6]. Diese Läsionen lassen sich in der MRM überzeugend darstellen. Ähnlich übersichtlich stellen sich Meningozelen, große perineurale Zysten und posttraumatische bzw. postoperative Divertikel des Duralsacks dar. Im Einzelfall kann die MRM auch bei der Abschätzung der Folgen der Spondylolisthesis und bei der Identifizierung von „conjoined lumbosacral nerve roots” hilfreich sein.

So wenig sich die MRM in der bisher üblichen Form als Appendix der spinalen Routine-MRT eignet, so gut sind dennoch ihre Aussichten, als eigenständige Untersuchung Bedeutung zu gewinnen. Man muss dazu allerdings die Technik modifizieren. Abgesehen von der freien Wahl der Projektionen ist die MRM in der bisher üblichen Form lediglich das Negativ der konventionellen statischen MRT. Allein aus diesem Grund ist ihr Zusatzinformationswert begrenzt. Wenn es aber gelingt, die MRM zu dynamisieren, d. h. sie der konventionellen Myelographie einschließlich deren Varianten ähnlicher zu machen, wächst ihre Informationsbreite und -tiefe. Dieses Ziel kann erreicht werden, wenn man sie unter verschiedenen Formen der mechanischen Provokation durchführt. Dabei entstehen zwei Subtypen der Untersuchung: Die Funktions-MRM und die Belastungs- bzw. Kompressions-MRM.

Die Funktions-MRM ist die funktionsorientierte, d. h. an der konventionellen Funktions-Myelographie orientierte Variante der MRM. Sie ist nur an einem offenen MR-Tomographen realisierbar. Nur dort kann es dem Patienten gelingen, den erkrankten Abschnitt der Wirbelsäule aktiv und unbehindert so stark zu beugen und zu strecken und wenn nötig andere Provokationshaltungen einzunehmen, dass eine zuverlässige und reproduzierbare Aussage über bewegungs- bzw. positionsbedingte Befunde und Befundänderungen möglich wird. Geeignete mechanische Lagerungshilfen und die Kooperation des Untersuchten vorausgesetzt, gelingen damit MR-Myelographien, deren Qualität und Aussagekraft an die der konventionellen Funktions-Myelographie heranreichen.

Die Belastungs-MRM bezieht das Prinzip der axialen Kompression in die Untersuchung ein. Belastungsuntersuchungen haben zwar gegenwärtig bei der MRT der Wirbelsäule nur geringe Bedeutung. Ihr Zukunftspotenzial ist aber beachtlich. Seit MR-kompatibles Instrumentarium kommerziell verfügbar ist, mit dessen Hilfe die Wirbelsäule des auf dem Rücken liegenden Patienten dosiert und reproduzierbar in der Körperlängsachse belastet werden kann, wächst die Frequenz derartiger Untersuchungen. Indiziert ist die Untersuchung dann, wenn die klinischen Beschwerden eindeutig positionsabhängig sind, d. h. in aufrechter Position stärker als im Liegen, und wenn die Standard-MRT keine(n) Befund(e) zeigt, der(die) die Symptome ausreichend gut erklärt(en). In diesen Fällen kann die Belastungs-MRT sinnvoll eingesetzt werden, um z. B. die klinische Relevanz von Stenosen des Spinalkanals, von Diskushernien oder einer Spondylolisthesis zu beweisen [7]. In der bisher üblichen Form besteht die Belastungs-MRT aus mindestens einer sagittalen und einer axialen Serie. Der für die Datenakquisition erforderliche Zeitaufwand ist erheblich; außerdem muss man noch die Zeitspanne berücksichtigen, bis die artifizielle Kompression voll wirksam geworden ist und man mit der Messung beginnen kann. Beim Ersatz der MRT durch die MRM können die entsprechenden Informationen hingegen in einem Durchgang gewonnen werden. Der multiplanar rekonstruierte Datensatz bietet einen Überblick über alle wichtigen belastungsinduzierten Änderungen an der Position der intraduralen anatomischen Elemente. Vor allem Patienten mit krankhaften Befunden in mehreren Segmenten werden davon profitieren. Die Bestätigung für die Leistungsfähigkeit des Verfahrens ist von einer Studie zu erwarten, in der geprüft wird, ob die axiale Belastungs-MRM die Zahl der zusätzlichen, d. h. nach Abschluss der Standarddiagnostik (mit MRT oder CT) angeforderten konventionellen Myeloradikulographien, senken kann. Wenn dieser Nachweis gelingt, stellt die MRM auch bei der Diagnostik der verschleißbedingten Wirbelsäulenerkrankungen eine sinnvolle ergänzende Maßnahme dar.

Literatur

  • 1 Zeng Q, Xiong L, Jinkins R. Intrathecal Gadolinium-enhanced MR-myelography and cisternography: a pilot study in human patients.  AJR. 1999;  177 1109-1115
  • 2 Turgut Tali E, Ercan N, Krumina G. et al . Intrathecal Gadolinium (Gadopentetate Dimeglumine) Enhanced Magnetic Resonance Myelography and Cisternography.  Invest Radiol. 2002;  177 152-159
  • 3 El-Gammal T A, Crews C E. MR myelography of the cervical spine.  Radiographics. 1996;  177 77-88
  • 4 O’Connell M J, Ryan M, Powell T. et al . The Value of Routine MR Myelography at MRI of the Lumbar Spine.  Acta Radiol. 2003;  177 665-672
  • 5 Ferrer P, Marti-Bonmati L, Mollá E. et al . MR-myelography as an adjunct to the MR examination of the degenerative spine.  MAGMA. 2004;  177 203-210
  • 6 Gasparotti R, Ferraresi S, Pinelli L. et al . Three-dimensional MR Myelography of Traumatic Injuries of the Brachial Plexus.  AJNR. 1997;  177 1733-1742
  • 7 Willen J, Danielson B. The diagnostic effect from axial loading of the lumbar spine on computed tomography and magnetic resonance imaging in patients with degenerative disorders.  Spine. 2001;  177 2607-2614

Prof. Dr. Werner Golder

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