Suchttherapie 2003; 4 - 5
DOI: 10.1055/s-2003-822285

Gegen eine Stigmatisierung Drogenabhängiger

J Gölz 1
  • 1Berlin

Das von einer aktuellen Norm Abweichende unterliegt der Gefahr einer Kennzeichnung als „böse“ oder „verdammenswert“. Diese Stigmatisierung kann sich auf seelische und körperliche Erkrankungen beziehen, kann Armut, Unfruchtbarkeit oder sexuelle Orientierung abwerten, sie kann sich auf gegen die Zugehörigkeit zu einer Religion, zu einer Rasse oder zu einer Hautfarbe richten, die Themen sind beliebig zu erweitern. Die verachteten

Sachverhalte sind weder zeitlich noch räumlich konstant. Was vor 100 Jahren stigmatisiert war, gilt heute als normal; was in der einen Gesellschaft als abstoßend gekennzeichnet wird, gilt in einer anderen Gesellschaft als Anlaß zum Mitgefühl.

Die Merkmale und Verhaltensweisen von jedem von uns könnten also je nach Zeit und Ort zu unserer eigenen Stigmatisierung beitragen. Durch die Stigmatisierung des als „Unnormal“ Empfundenen vergewissert sich der Mensch seiner Normalität. Stigmatisierend beschädigen wir die Identität anderer, um uns selbst als unbeschädigt erleben zu können. Je mehr stigmatisierte Gruppen eine Gesellschaft benötigt, desto schwächer ist das Selbstgefühl der normalen Mitglieder.

In den Industrienationen ist in den letzten Jahrzehnten die Drogenabhängigkeit zum schweren Stigma geworden. Der Drogenabhängige wurde zur Inkarnation des Bösen dämonisiert. In diesem Prozess wird völlig vergessen, dass die Ursache des stigmatisierten Verhaltens eine seelische Erkrankung ist, die sich niemand freiwillig aussucht. Die abstoßenden Aspekte im Verlauf dieser Erkrankung sind überwiegend durch die gesellschaftliche Reaktion der

Prohibition hervorgerufen. Mit der quälend langsamen Einführung schadensmindernder Behandlungsangebote ist dieser Misstand noch nicht beseitigt. Drogenabhängige haben alltäglich mit Verachtung, Misstrauen und Ablehnung zu rechnen, wo immer sie auftreten: In der U-Bahn, im Krankenhaus, in Teilen der Arztpraxen, in Untersuchungshaft, im Gefängnis, auf Ämtern.

Die Stärke einer Gesellschaft zeigt sich daran, wie wenig sie durch das Abweichende geängstigt wird und wie selbstverständlich sie denen Hilfe anbieten kann, die die Normen nicht erfüllen.