Gesundheitswesen 2016; 78 - V83
DOI: 10.1055/s-0036-1578898

Wohnungslosigkeit oder seelische Erkrankung – was war zuerst? Ergebnisse der Münchner SEEWOLF-Studie (Seelische Erkrankungsrate in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe im Großraum München)

J Bäuml 1, M Brönner 1, B Baur 1, A Fischer 1, G Pitschel-Walz 1, T Jahn 1
  • 1Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinikum rechts der Isar der TU München, München

Hintergrund: Fichter et al. fanden in den 90iger Jahren eine Rate von 90% an psychisch Kranken unter den Wohnungslosen in München. Die SEEWOLF-Studie sollte klären, inwiefern sich diese Zahlen verändert haben und in einer zusätzlichen Längsschnittuntersuchung die Krankheitsvorgeschichte dieser Menschen erhellen. Methodik: Studienlaufzeit: 01.01.2010 bis 31.12.2012. U-Ziele: Bewohnerstruktur, Veränderungen biographischer, sozialer und medizinisch-psychiatrischer Art im Vergleich zur Fichter-Studie, aktueller Betreuungs- und Behandlungsbedarf in den Einrichtungen. Drei U-Termine für jeweils 2 – 4 Stunden. Psychiatrisches Untersuchungsgespräch: Biografie, Wohnungslosigkeit, Krankheitsvorgeschichte, aktuelle Befindlichkeit, Diagnose. Zusätzliche Fremdanamnese (v.a. Arztbriefe). Neuropsychologische Untersuchung (WIE). Internistisch-neurologische Untersuchung, Labortests. 1600 Bettenplätze, Randomisierung von 420 Bewohnern, 232 (55%) konnten komplett untersucht werden. Ergebnisse: Alter 48 Jahre, 20% Frauen, 80% Männer. Migrationshintergrund 15%. In München lebend seit 22 Jahren. 63% ledig, 29% geschieden, 4% verheiratet oder verwitwet. Partnerschaft 21%, Kinder 39%. Früherer Gefängnisaufenthalt bei 30%. Durchschnittlich 5-jährige Wohnungslosigkeit, im Mittel seit 22 Monaten in der aktuellen Einrichtung. Vor Beginn der Wohnungslosigkeit hatten 64% eine eigene Wohnung, „Platten“-Vergangenheit bei 42%. Suizidversuche wiesen 16% auf, Suizidgedanken 44%. 42% berichteten von einem psychiatrischen Voraufenthalt. Mindestens eine Achse-I-Störung hatten 93,3%: Substanzabhängigkeit 73,5%, schizophrenes Spektrum 13,5%, affektive Störungen 44,8%, Angst-, Zwang-, Belastungs- und somatoforme Störungen 21,1%. Überdauernde Persönlichkeitsstörungen bei 55%. Einnahme von Psychopharmaka bei 29%. Der Gesamt-IQ lag bei 84 Punkten. 80% der Untersuchten waren bereits vor Beginn oder zeitgleich mit der seelischen Erkrankung wohnungslos geworden. Die Latenz zwischen seelischer Erkrankung und Beginn der Wohnungslosigkeit betrug 6,5 Jahre. Diskussion: Im Vgl. zur Fichter-Studie hat sich das Diagnosen-Spektrum nicht verändert, multiple soziale und psychische Probleme. Die Trias psychische Erkrankung, eingeschränktes kognitives Leistungsvermögen und das zusätzliche Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung scheint ein besonderes Risiko für die Entwicklung einer späteren Wohnungslosigkeit zu bedeuten. Dies verdeutlicht die Wichtigkeit einer ausreichend langen und engagierten stationären Behandlung der bekannten Problempatienten mit Doppeldiagnosen. Gleichzeitig muss überlegt werden, wie die oben beschriebenen Risikopersonen bereits im Kindes- und Jugendalter besser gefördert und unterstützt werden können. Weitere Konsequenzen für die aktuelle Versorgung und Forschung werden zur Diskussion gestellt.