Klinische Neurophysiologie 2009; 40 - P296
DOI: 10.1055/s-0029-1216155

Erhaltene Reflexe, erhaltene Propriozeption, erhaltene SNAP: Trotzdem Friedreich-Ataxie

K Dimitriadis 1, S Heck 1, T Klopstock 1
  • 1München

Fragestellung: In der prämolekularen Ära wurde die Friedreich-Ataxie klinisch definiert als progressive sensible Ataxie mit Beginn vor dem 25. Lebensjahr, fehlenden Reflexen und schwerer Beeinträchtigung der propriozeptiven Sensibilität. Als Korrelat der meist schweren sensiblen Neuropathie mit fehlenden oder deutlich amplitudengeminderten sensiblen Nervenaktionspotentialen (SNAP) fand sich pathologisch eine Degeneration der sensiblen Spinal-Ganglienzellen und der großen myelinisierten Fasern im peripheren Nerven. Die Identifikation des verantwortlichen Gendefektes führte zu einer deutlichen Erweiterung des phänotypischen Spektrums, und es wurde klar, dass die Friedreich-Ataxie auch Fälle mit wesentlich späterer Manifestation und Fälle mit erhaltenen Reflexen umfasst. Bislang sind jedoch nur wenige Fälle beschrieben, bei denen auch Propriozeption und SNAP weitgehend erhalten sind.

Methoden: Klinische, elektrophysiologische und molekulargenetische Untersuchungen bei drei Geschwistern mit sehr milde verlaufender Friedreich-Ataxie.

Ergebnisse: Die drei Geschwister (w 51, m 49, w 43) bemerkten erste Anzeichen von Gangunsicherheit im Alter von 44, 33 und 34 Jahren. Die klinische Untersuchung zeigte in allen drei Fällen eine nur gering ausgeprägte Gangataxie, eine diskrete Extremitätenataxie, normale Reflexe und ein völlig normales Vibrationsempfinden. Auch die motorische und sensible Neurografie zeigte einen unauffälligen Befund mit normalen SNAP des N. medianus bzw. N. radialis sowie des N. suralis. Die molekulargenetische Diagnostik ergab zwei verlängerte Allele im Frataxin-Gen mit ca. 130 GAA-Tripletts auf dem kürzeren Allel und ca. 850 GAA-Tripletts auf dem längeren Allel.

Schlussfolgerung: Entgegen den früheren Vorstellungen kann sich die Friedreich-Ataxie bis in das höhere Erwachsenen-Alter manifestieren, die Reflexe können erhalten sein. Die hier beschriebenen sowie einige bereits publizierte Fälle zeigen darüber hinaus, dass auch die Tiefensensibilität und die SNAP sehr gut erhalten sein können. Dieser besonders milde Verlauf korrespondiert mit dem molekulargenetischen Befund einer relativ geringen Zahl von ca. 130 GAA-Tripletts auf dem kürzeren Frataxin-Allel. Die Differentialdiagnose einer Friedreich-Ataxie muss daher auch erwogen werden, wenn eine leichte Gangataxie von keinem der traditionellen Zusatzkriterien begleitet wird.