CC BY-NC-ND 4.0 · Dtsch Med Wochenschr 2024; 149(04): e19-e36
DOI: 10.1055/a-2197-6479
Originalarbeit

Systemisches Denken, subjektive Befunde und das diagnostische „Schubladendenken“ bei ME/CFS – Eine vorwiegend qualitative Public-Health-Studie aus Patientensicht

Systems thinking, subjective findings and diagnostic “pigeonholing” in ME/CFS: A mainly qualitative public health study from a patient perspective
Lotte Habermann-Horstmeier
1   Villingen Institute of Public Health, Villingen-Schwenningen, GERMANY
,
Lukas Maximilian Horstmeier
2   Sektion für Versorgungsforschung und Rehabilitationsforschung, Universitätsklinikum Freiburg, Medizinische Fakultät, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, GERMANY,
› Author Affiliations
Dieser Teil der APAV-ME/CFS-Studie wurde größtenteils durch das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration aus Landesmitteln finanziert, die der Landtag Baden-Württemberg beschlossen hat.

Zusammenfassung

Hintergrund ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) ist eine vorwiegend als neuroimmunologische Multisystem-Erkrankung betrachtete Krankheit, die vielen Ärzt*innen in Deutschland noch immer unbekannt ist oder die von ihnen als psychosomatische Erkrankung eingeordnet wird. ME/CFS-Patient*innen berichten von den aus ihrer Sicht erheblichen Defiziten hinsichtlich der ärztlichen Behandlung und einer als problematisch empfundenen Arzt-Patienten-Beziehung (AP-Beziehung). Ziel der vorliegenden Studie ist es, aus Sicht der Betroffenen den Ablauf der Diagnosefindung als einen wichtigen Einflussfaktor auf die AP-Beziehung bei ME/CFS genauer zu analysieren.

Methode Im Rahmen eines explorativen qualitativen Surveys wurden 544 ME/CFS-Erkrankte (> 20 J.; 455 ♀, 89 ♂) mit ärztlicher ME/CFS-Diagnose schriftlich nach ihren Erfahrungen hinsichtlich des Ablaufs der Diagnosefindung befragt. Das Sampling erfolgte zuvor durch Selbstaktivierung und über das Schneeballprinzip. Der zu beantwortende Fragebogen war analog zu einem fokussierten, standardisierten Leitfadeninterview aufgebaut. Die Auswertung erfolgte im Rahmen einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring. Einige der Ergebnisse wurden anschließend quantifiziert.

Ergebnisse Die Proband*innen beschrieben den aus ihrer Sicht mangelhaften Ablauf der Diagnosefindung als zentralen Faktor einer problematischen AP-Beziehung bei ME/CFS. Sie berichteten von unzulänglichem Fachwissen, mangelnder Erfahrung im Umgang mit den Erkrankten und fehlender Fortbildungsbereitschaft der konsultierten Ärzt*innen. Viele Ärzt*innen stritten aus ihrer Sicht die Existenz von ME/CFS ab oder ordneten sie als rein psychosomatische Krankheit ein, beharrten auf ihrem Wissensstand, ignorierten das Patientenwissen und missachteten mitgebrachtes wissenschaftliches Informationsmaterial. Sie gingen nach „Standardprogramm“ vor, dachten in „Schubladen“ und seien unfähig zu systemischem Denken. Dies hätte erhebliche Auswirkungen auf die AP-Beziehung.

Diskussion Aus Sicht der ME/CFS-Erkrankten sind der Ablauf der Diagnosefindung und die Anerkennung von ME/CFS als neuroimmunologische Multisystem-Erkrankung die zentralen Aspekte einer von ihnen als problematisch erlebten AP-Beziehung. Bereits in der Vergangenheit wurden als „subjektiv“ klassifizierte und damit ignorierte Befunde, das für die biomedizinisch orientierte Medizin charakteristische diagnostische „Schubladendenken“ und ein Gesundheitssystem, das dem systemischen Denken bei der Diagnosefindung entgegensteht, als Faktoren identifiziert, die erheblichen Einfluss auf das AP-Verhältnis haben können.

Abstract

Background ME/CFS (Myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome) is an illness that is predominantly viewed as a neuroimmunological multisystem disease, which is still unknown to many doctors in Germany or which they classify as a psychosomatic disease. From their perspective, ME/CFS patients report significant deficits in terms of medical treatment and a doctor-patient relationship (DP relationship) that is perceived as problematic. The aim of the present study is to more precisely analyse the process of finding a diagnosis as an influencing factor on the DP relationship in ME/CFS from the point of view of those affected.

Method As part of an explorative qualitative survey, 544 ME/CFS patients (> 20 years; 455 ♀, 89 ♂) with a medical diagnosis of ME/CFS were asked in writing about their experiences with regard to the process of finding a diagnosis. The sampling was previously done by self-activation and via the snowball principle. The questionnaire to be answered was structured analogously to a focused, standardized guideline interview. The evaluation was carried out as part of a qualitative content analysis according to Mayring. Some of the results were subsequently quantified.

Results The participants described what they saw as the inadequate process of making a diagnosis as a central factor in a problematic DP relationship in ME/CFS. From their point of view, many doctors deny the existence of ME/CFS or classify it as a solely psychosomatic illness, insist on their level of knowledge, ignore patient knowledge and disregard scientific information provided. They follow the standard program, think in “pigeonholes” and are incapable of systemic thinking. This has a significant impact on the DP relationship.

Discussion From the point of view of ME/CFS patients, the process of making a diagnosis and the recognition of ME/CFS as a neuroimmunological multisystem disease are the central aspects of a DP relationship that they experience as problematic. In the past, findings classified as “subjective” and thus ignored, the pigeonholing that is characteristic of biomedically oriented medicine and a healthcare system that opposes systemic thinking when making a diagnosis have all been identified as factors that may have a significant impact on the DP relationship.

5 EUTB = Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung.


6 PENE: Post-Exertional Neuroimmune Exhaustion; PEM: Post-Exertional Malaise. Beide Begriffe stehen für eine charakteristische Reaktion des Körpers bereits auf geringe physische, kognitive oder sensorische Belastungen, da er nicht in der Lage ist, auf Abruf genügend Energie bereitzustellen. Der Begriff PENE betont zusätzlich noch die diesem Vorgang zugrundeliegende neuroimmunologische Komponente.




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Article published online:
14 December 2023

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