Dtsch Med Wochenschr 2022; 147(22): 1443-1449
DOI: 10.1055/a-1872-8957
Klinischer Fortschritt
Geriatrie

Multimorbidität im Versorgungsalltag – Definitionen, Strategien und Grenzen

Multimorbidity in patient’s care – definitions, strategies and limitations
Barbara Kumlehn*
1   Geriatrisches Zentrum Ulm/Alb-Donau an der Agaplesion Bethesda Klinik Ulm
,
Letizia Ragazzoni*
2   Kantonsspital Winterthur, Schweiz
,
Michael Denkinger
1   Geriatrisches Zentrum Ulm/Alb-Donau an der Agaplesion Bethesda Klinik Ulm
3   Institut für Geriatrische Forschung, Universitätsklinik Ulm
› Author Affiliations

Was ist neu?

Epidemiologie Multimorbidität steigt exponentiell ab etwa dem 40. Lebensjahr an und erreicht mit dem 80. Lebensjahr ein Plateau. Die Prävalenz wird aufgrund des demografischen Wandels und des medizinischen Fortschritts v. a. in den höheren Altersgruppen weiter steigen. Die resultierenden Kosten für das Gesundheitswesen sind dramatisch.

Definition Viele der aktuellen Definitionen von Multimorbidität sind unscharf. Eine Hierarchisierung der einzelnen Erkrankungen erscheint essenziell. Erkrankungen gruppieren sich häufig in Krankheitsclustern.

Grenzen evidenzbasierter Medizin bei Multimorbidität Die komplexen Bedürfnisse multimorbider Patienten werden mit dem vorherrschenden Ein-Erkrankungsansatz nicht ausreichend adressiert. Entscheidungsdilemmata aufgrund widersprüchlicher Behandlungsstrategien von Leitlinien gehören zu den alltäglichen Herausforderungen von Ärzten.

Aktuelle und zukünftige Lösungsansätze Eine gute Behandlung von multimorbiden Patienten erfordert Zeit, Kommunikation und eine auf die Bedürfnisse und Präferenzen der Patienten angepasste Entscheidungsfindung. Zusätzlich ist eine Koordinierung der Behandlung interdisziplinär und sektorenübergreifend zwingend erforderlich. Klinische Studien und Leitlinien müssen so konzipiert werden, dass ältere Menschen mit für sie relevanten Outcomes abgebildet werden. Ohne eine Stratifizierung nach Risiko und anschließend gezielter und strukturierter Erhebung mithilfe eines geriatrischen Assessments kann dieser integrative Ansatz nicht gelingen. Ziel muss sein, operationelle Hilfen und Integration der vorhandenen Leitlinien zu schaffen. Mit dem Forschungsgebiet der „Geroscience“ ergeben sich zukünftig neue Behandlungsansätze der Multimorbidität.

Abstract

The challenge of multimorbidity, the occurrence of multiple medical conditions, lies in its complexity, considering their type and severity, their interactions, and the patient’s social status and characteristics. Although the number of combinations appears unlimited, there emerge so-called multimorbidity patterns, that group diseases, that often coincide.

The prevalence of multimorbidity will increase dramatically because of the demographic change and the medical progress, leading to exploding costs in healthcare. The definition and the therapeutic approaches of the field are ambiguous, while it also lacks an established assessment.

The complex needs of a patient with multimorbidity are not addressed appropriately with the established one-disease-approach. Clinical guidelines can suggest conflicting treatment strategies, which result in decision dilemmas in daily work.

Time, communication and decisions adapted to the patient’s situation are the key to a successful treatment of multimorbidity. An integrated approach must be based on a comprehensive geriatric assessment. Action strategies and the integration of guidelines are needed and will support the clinician during the decision-making processes. Furthermore, clinical studies should include older adults with multimorbidity and should particularly consider their relevant outcomes.

Geroscience is a new research area that addresses the hallmarks of aging with therapeutic approaches to delay or even avoid the onset of multimorbidity.

* geteilte Erstautorenschaft




Publication History

Article published online:
01 November 2022

© 2022. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany