Hintergrund

„Müdigkeit“ stellt ein Symptom einer Vielzahl von Erkrankungen in der hausärztlichen Versorgung dar. Es ist in 10–20 % Haupt- oder Nebenberatungsanlass in der Praxis [1]. Betroffene verwenden dabei Beschreibungen, die emotionale, kognitive, körperliche oder Verhaltensaspekte beinhalten. Müdigkeit gehört zu den Beschwerden, die im Praxisalltag Schwierigkeiten in der Diagnostik bereiten und als problematisch erlebt werden [2,3,4,5].

Oft lässt sich das Symptom diagnostisch nicht klar einordnen, was die Gefahr sowohl einer Über- als auch einer Unterdiagnostik mit sich bringt.

In der Leitlinie, die jetzt überarbeitet wurde und der wir auch die Abbildungen entnahmen [6], wird das Symptom „akute und chronische Müdigkeit“ bei Erwachsenen behandelt. Es geht um eine belastende Müdigkeit, deren Ursache nicht direkt evident ist (im Unterschied zu physiologischer Müdigkeit oder einem Infektionsgeschehen), deren Beschwerden nicht kurzfristig vorliegen oder trotz entsprechender Therapie weiterbestehen.

Das dargelegte strukturierte und wissenschaftlich begründete Vorgehen soll Ärzt:innen dabei helfen, relevante Störungen zu erkennen und Betroffene entsprechend zu beraten. Ein wichtiges Ziel ist es, abwendbar gefährliche Verläufe zu erkennen sowie diagnostische und therapeutische Unsicherheiten zu verringern. Häufig liegt eine Kombination verschiedener Einflussfaktoren vor, sodass ein biopsychosozialer Ansatz adäquat ist.

Suchmethoden und Studienselektion

Hintergrund der Aktualisierung der S3-Leitlinie ist eine umfangreiche Literaturrecherche in PubMed und der Cochrane Library, die 2015 für die Vorgängerversion durchgeführt wurde. Die aktuelle Suche erfolgte bis einschließlich November 2020 zur Epidemiologie, Ätiologie und Diagnostik des Leitsymptoms „Müdigkeit“ sowie zur Behandlung dieses Symptoms im Kontext primärärztlicher Versorgung. Die Titel und gegebenenfalls Abstracts wurden jeweils von 2 Autor:innen der Leitlinie gescreent, die selektierten Artikel jeweils von einer Autor:in gelesen und in Evidenztabellen überführt. Außerdem wurde auf Handsuche durch die am Konsensusprozess Beteiligten zurückgegriffen. Details sind dem Leitlinienreport zu entnehmen [7]. Erstmals konnte auch genauer auf die sehr spezielle Untergruppe der Personen mit myalgischer Enzephalitis (oder Enzephalopathie)/chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) eingegangen werden, da hier die Empfehlungen einer europäischen Konsensusgruppe [8] und die erst kürzlich fertiggestellte britische Leitlinie des NICE-Instituts herangezogen werden [9]. Es gab jedoch keine vergleichbaren Leitlinien zum Symptom Müdigkeit im GIN-Register [10].

Empfohlene Vorgehensweise

Zunächst sind Hinweise auf abwendbar gefährliche Verläufe sowie spezifische Probleme bei Betroffenen mit dem Beratungsanlass Müdigkeit zu beachten. Dies gilt insbesondere für

  • behandlungsbedürftige psychische Störungen, vor allem Depression und Angststörung;

  • Schlafapnoesyndrom und Medikamentennebenwirkungen/Substanzabusus;

  • postexertionelle Malaise (PEM) bei ME/CFS (Erläuterung im weiteren Text).

Behandelbare bisher nicht diagnostizierte schwere körperliche Erkrankungen sind in diesem Kontext selten und praktisch immer mit Auffälligkeiten in Anamnese und/oder körperlicher Untersuchung verbunden. Auf biologische Ursachen fixierte Diagnostik („Tumorsuche“) führt oft zu unnötiger Belastung der Betroffenen und/oder Fehlleitung sowie Somatisierung.

Im Folgenden werden Leitlinienempfehlungen anhand eines konkreten Fallbeispiels (jeweils kursiv dargestellt) exemplarisch erläutert.

Fallbeispiel

Die 50-jährige Frau K. stellt sich in der Hausarztpraxis vor. Sie fühle sich seit ca. 6 Monaten müde und schlapp. Früher habe sie auch deutlich besser geschlafen. Zeitweise nicke sie sogar tagsüber ein. Auf Nachfrage berichtet sie, dass ihre Stimmung in den letzten Monaten gedrückt sei. Ihre Schwester sei vor einem halben Jahr an Brustkrebs verstorben. Zu Dingen, die ihr früher Spaß gemacht hätten, wie Geigespielen und Spazierengehen, könne sie sich kaum noch aufraffen. Die Patientin erinnert sich nicht daran, vor Beginn der Müdigkeit einen Infekt, z.B. mit dem Coronavirus, gehabt zu haben. Sie verneint, dass sie tagelang nach körperlichen oder psychischen Belastungen eine Verschlimmerung der Symptomatik erlebe.

Bis vor ca. einem Jahr sei sie fit und aktiv gewesen, sei regelmäßig Fahrrad gefahren, was sie aktuell kaum noch mache. In der Familie seien keine frühzeitigen Herz-Kreislauf-Erkrankungen bekannt.

An Vorerkrankungen besteht eine Hypertonie, mit Ramipril behandelt, sowie eine Hypothyreose unter L‑Thyroxin-Therapie. Weitere Medikamente nehme sie nicht ein. Der Konsum von psychotropen Substanzen wird glaubhaft verneint.

Auf Nachfragen gibt die Patientin an, kein Blut in Stuhl oder Urin bemerkt zu haben und nicht unter Haarausfall zu leiden. Sie könne sich allerdings schlecht konzentrieren und sei unaufmerksam, was sie selbst auf die anhaltende Müdigkeit zurückführe.

Diagnostik

Nach einer ausführlichen symptombezogenen Anamnese gilt es, körperliche und gleichzeitig psychosoziale Ursachen zu untersuchen. Hierzu kann der Patientenfragebogen zur Anamnese, der online auf den Seiten der DEGAM zur Verfügung gestellt wird, verwendet werden [11]. Hier ergaben sich außer Schnarchen keine über die initiale Anamnese hinausgehenden auffälligen Befunde. Kernpunkte der Anamnese sind in Abb. 1 dargestellt, die der Kurzfassung der Leitlinie entnommen wurde [12].

Abb. 1
figure 1

Kernpunkte der Anamnese, die bei dem Symptom „Müdigkeit“, in der hausärztlichen Praxis erfragt werden sollten. PEM postexertionelle Malaise [12]

Die körperliche Untersuchung erfolgt in Abhängigkeit von Auffälligkeiten der Anamnese. Wenn sich keine Hinweise auf eine definierte körperliche Störung ergeben, werden untersucht: Herz, Abdomen, Kreislauf, Atemwege, Schleimhäute, Lymphknoten. Zudem sollte eine orientierende neurologische Untersuchung erfolgen.

Im Rahmen der zielgerichteten körperlichen Untersuchung ergeben sich bei Frau K. keine wegweisenden Auffälligkeiten.

In Fortsetzung des Basisprogramms werden nun die folgenden Parameter im Blut bestimmt: Blutglukose, Differenzialblutbild, CRP (oder Blutsenkung), Transaminasen (oder γ‑GT), TSH. Die aufgeführten Werte liegen bei Frau K. in der Norm. Falls sich an diesem Punkt Auffälligkeiten finden, sollten auch pathologische Laborwerte nicht vorschnell als ausreichende Erklärung akzeptiert werden. Nur bei entsprechenden Hinweisen in Anamnese oder körperlichem Befund sollte diese Basisdiagnostik gezielt erweitert werden.

Somit ergaben sich aufgrund der Basisdiagnostik folgende Anhaltspunkte für die weitere Ursachenabklärung: Die Patientin berichtet über eine ausgeprägte Tagesmüdigkeit und häufiges Einnicken. Es besteht zudem eine Hypertonie als Vordiagnose. Die beschriebene Symptomkonstellation legt den Verdacht einer schlafbezogenen Atemstörung nahe. In der Anamnese sollte in diesem Zusammenhang auf die folgenden Aspekte näher eingegangen werden: Tagesschläfrigkeit (Einschlafen am Steuer), Schlafstörungen, insbesondere beobachtete Apnoen und lautes Schnarchen, sowie der Body-Mass-Index (BMI). Hieraus ergeben sich diagnostische Hinweise; die definitive Diagnose erfolgt dann apparativ.

Frau K. bejaht auf Nachfrage auch nach Angaben ihres Partners nachts besonders laut zu schnarchen. Zusammen mit der bereits beschriebenen imperativen Einschlafneigung tagsüber kann auf der Ebene der allgemeinärztlichen Praxis also die Indikation für eine weitere schlafmedizinische Diagnostik gestellt werden.

Gleichzeitig beschreibt Frau K. eine depressive Symptomatik: Die Stimmung in den letzten Wochen sei gedrückt, sie habe die Freude an Aktivitäten verloren, die ihr früher Spaß gemacht haben (Fahrradfahren, Geigespielen), schlafe schlecht und könne sich nicht mehr gut konzentrieren. Somit wurden beide Screeningfragen auf Depression bejaht. Bereits bei einer positiven Antwort (bezogen auf die letzten 4 Wochen) im Kontext des Beratungsanlasses Müdigkeit sollten die weiteren Kernsymptome einer Depression erfasst werden: Bezogen auf die letzten 2 Wochen bestanden verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit, vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Schuldgefühle, pessimistische Zukunftsperspektiven, verminderter Appetit, Suizidgedanken/selbstverletzendes Verhalten? In diesem Kontext kann der Gesundheitsfragenbogen PHQ 9 angewandt werden [13, 14]. Es bestätigte sich der Verdacht auf eine milde Depression. Als auslösendes belastendes Ereignis könnte die Krebsdiagnose der Schwester infrage kommen.

Wichtig ist, dass von Anfang an sowohl der psychosoziale als auch der somatische Bereich einbezogen wird. Bei dem Symptom Müdigkeit spielen oft verschiedene Komponenten eine Rolle. Bei initialer Fokussierung auf ausschließlich somatische Ursachen besteht überdies die Gefahr, dass Patient: innen sich auf die Überzeugung fixieren könnten, dass eine verborgene körperliche Ursache bestehe [15].

Prinzipiell sind, um das diagnostische Vorgehen der Leitlinie durchzuführen, häufig mehrere Kontakte notwendig, die sowohl zur Verlaufskontrolle als auch zur Besprechung der Ergebnisse der Basisuntersuchungen dienen können.

Wegen der Häufigkeit wird empfohlen, neben Depressionen auch Angststörungen beim Leitsymptom Müdigkeit zu erfragen. Folgende Aspekte können als Orientierung zur Diagnosehilfe einer Angststörung dienen: nervliche Anspannung/Ängstlichkeit/Gefühl, aus dem seelischen Gleichgewicht zu sein, Sorgen über vielerlei Dinge, Angstattacke(n). Empfohlen werden auch die oben aufgeführten Screeningfragen zum Schlafapnoesyndrom. Wegen unterschiedlicher therapeutischer Strategien ist außerdem die frühzeitige Erfassung einer sog. postexertionellen Malaise (PEM) sinnvoll: Dabei lösen körperliche oder seelische Belastungen eine mindestens 24 h anhaltende Symptomverschlechterung aus.

Abb. 2 gibt einen Überblick über verschiedene Konstellationen bei der Diagnostik.

Abb. 2
figure 2

Übersicht über verschiedene diagnostische Konstellationen [12]

Therapie und Betreuung im Verlauf

Auch wenn – anders als bei Frau K. – keine psychische (Teil‑)Ursache des Symptoms Müdigkeit vorliegt, ist es sinnvoll, ebenso bei noch ungeklärter Ätiologie, einen verhaltenstherapeutischen Ansatz bei Betroffenen mit anhaltender Müdigkeit zu wählen. Dies dient auch der Kompensation von Begleitbeschwerden und hilft bei der Krankheitsbewältigung.

Bedarfsorientierte Folgetermine sind nun zu planen, um Frau K. nicht aus dem Blick zu verlieren. Eine psychotherapeutische Anbindung braucht in der Praxis häufig Zeit. Hier können Kurzkontakte durch die Hausärzt:in mit entlastenden Gesprächen ein Werkzeug zur Überbrückung darstellen und Exazerbationen der psychischen Symptomatik (z. B. Suizidalität) können früh erkannt und behandelt werden.

Weitere Möglichkeiten stellen symptomorientierte aktivierende Maßnahmen und das Führen eines Symptomtagebuchs dar.

Wenn bei Patient:innen keine psychosoziale oder somatische Ursache gefunden wird, sind Folgekontakte nach einigen Wochen sinnvoll und können weitere diagnostische Hinweise liefern (im Sinne eines „abwartenden Offenhaltens“).

Eine Ausweitung von Laboranalyse oder apparativer Diagnostik ist nur bei spezifischen Hinweisen angezeigt. Auch wenn sich kein Anhalt für eine spezifische Ursache des Symptoms ergibt, sind die Beschwerden ernst zu nehmen. Gesprächsbereitschaft sollte signalisiert und die Bedeutung biologischer, seelischer und sozialer Faktoren hervorgehoben werden. Abb. 3 gibt einen Überblick über die empfohlene Vorgehensweise.

Abb. 3
figure 3

Algorithmus bei primär ungeklärter Müdigkeit. Asterisk Belastung nur bis zu der Schwelle, die toleriert wird, aber möglichst keine weitgehende Inaktivierung [12]

Besonderheiten myalgische Enzephalomyelitis (oder Enzephalopathie)/chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS)

Ein in der Hausarztpraxis seltenes aber wegen seiner Besonderheiten auch hier relevantes Krankheitsbild ist ME/CFS. Das entsprechende Kapitel wurde in der aktuellen Leitlinie überarbeitet und auch mit Spezialist:innen auf diesem Gebiet und mit den Patient:innenvertretungen konsentiert, allerdings wurde nachträglich ein Sondervotum verschiedener Fachgesellschaften eingebracht [6]. Dieses Votum wendet sich insbesondere gegen Krankheitsbegriffe, die auf eine spezifische organische Ursache deuten, da wirksame Therapien dadurch vorenthalten werden könnten. Patient:innenorganisationen widersprachen diesem Sondervotum heftig [7]. Die Ätiologie ist bislang nicht hinreichend geklärt, weshalb neuerdings der Begriff myalgische Enzephalopathie (statt Enzephalomyelitis) bevorzugt wird. Auch liegt dabei keine Festlegung auf eine hirnorganische Ursache vor.

Zur Diagnosestellung wurden vom Institute of Medicine (IOM) 2015 vereinfachte Diagnosekriterien vorgeschlagen, die als hilfreiches Screeninginstrument in der Primärversorgung dienen. Sie sehen die frühzeitige Erfassung folgender Symptome vor: Symptomverschlechterung nach körperlicher und/oder kognitiver Anstrengung (PEM), Fatigue sowie ein nichterholsamer Schlaf. Weitere Kriterien sind kognitive Einschränkungen und orthostatische Intoleranz. Eine definitive Diagnosestellung ist erst nach 6 Monaten angezeigt.

Empfohlen wird, dass bei mindestens seit 3 Monaten anhaltender bisher ungeklärter Müdigkeit die ME/CFS-Kriterien nach dem Institute of Medicine (IOM) eruiert werden sollen, um eine Verdachtsdiagnose zu stellen.

International werden für die Diagnostik in der Sekundärversorgung sowie in der Forschung häufig die kanadischen Konsensuskriterien (Canadian Consensus Criteria, CCC) verwendet. Ergänzend zu den oben genannten Symptomen charakterisieren Schmerzen, neurologische/kognitive Störungen und mindestens ein weiteres Symptom aus 2 der Kategorien a) autonome, b) neuroendokrine und c) immunologische Manifestationen das Krankheitsbild.

Die Versorgungslage für Betroffene ist weltweit problematisch. Zur Abgrenzung von anderen Erkrankungen empfiehlt sich das in dieser Leitlinie angegebene allgemeine diagnostische Vorgehen.

Auch hier gilt es, auf eine integrierte psychosoziale und somatische Betreuung der häufig schwer kranken Patient:innen zu achten. Prinzipiell sollen bei ME/CFS keine körperlichen Aktivierungen auf Basis des Dekonditionierungskonzepts (mit vorab festgelegter Belastungssteigerung) angeboten werden. Zu beachten ist die Belastungsintoleranz mit unterschiedlicher Latenz. Eine Verhaltenstherapie kann angeboten werden, insbesondere zur Therapie von Begleitsymptomen.

Durch eine individuell angepasste symptomorientierte Therapie, Stressreduktion und Pacing (Belastung nur bis zu der Schwelle, die toleriert wird, aber möglichst keine weitgehende Inaktivierung) kann eine Stabilisierung und Besserung erreicht werden, meist ist der Verlauf jedoch chronisch und es kommt häufig zu Rückfällen.

Fazit für die Praxis

  • Das Symptom Müdigkeit stellt einen häufigen Beratungsanlass in der Hausarztpraxis dar, der Ärzt:innen nicht selten vor eine diagnostische und therapeutische Herausforderung stellt.

  • Generell ist ein integrierter Ansatz anzustreben, in dem psychosoziale und somatische Aspekte berücksichtigt werden.

  • Bei primär ungeklärter Müdigkeit wird eine definierte Basisdiagnostik empfohlen. Die weitere Diagnostik sollte zielgerichtet anhand der erhobenen Befunde erfolgen, insbesondere um eine Über- oder Unterdiagnostik zu vermeiden.

  • Wenn nach diesem Vorgehen keine hinreichende Erklärung für das Symptom gefunden wurde, gilt es, mit den Patient:innen Folgekontakte zu vereinbaren und sie nicht aus den Augen zu verlieren.

  • Symptomorientierte aktivierende Maßnahmen sowie verhaltenstherapeutische Ansätze unter Vermeidung einer Überlastung (dies gilt insbesondere für ME/CFS) und das Führen eines Symptomtagebuchs sind hilfreiche Werkzeuge.