Zusammenfassung
Der Begriff der Emanzipation verweist auf leitende Orientierungen wie Mündigkeit, Autonomie und Selbstbestimmung. Das säkular geprägte Verständnis der feministischen Theorie bedient sich des aufklärerischen Emanzipationsbegriffs und geht davon aus, dass Feminismus und Religion unvereinbar seien und westliche Säkularisierung und Emanzipation lediglich zwei Seiten derselben Medaille sind. Der sozialwissenschaftliche Differenzdiskurs über muslimische Frauen in der europäischen Öffentlichkeit bildet mit Hilfe dieser antireligiösen Emanzipationsvorstellungen muslimische Frauen stereotypisch als passive Opfer ihrer Religion und Kultur (rückständig, ungebildet etc.) ab. Im Rahmen des islamischen Feminismus werden demgegenüber Emanzipation und feministische Orientierung in einen Referenzrahmen gestellt, der nicht nur religiös bestimmt ist, sondern darüber hinaus eine hierarchische, patriarchale Ordnung als vereinbar mit den Zielen von Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung ansieht. Entlang des Begriffs der Emanzipation wird jedoch eine Dichotomie zwischen der säkularisierten und der islamisch-weiblichen Subjektivität konstruiert. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, wie die Dichotomie zwischen den säkular und den islamisch orientierten feministischen Diskursen bei der Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen überwunden werden kann. Die grundlegende Annahmen dabei sind, dass muslimische Frauen im europäischen Raum zum Subjekt werden, indem sie sich innerhalb dieser Diskurse als ein solches anrufen lassen und die Möglichkeiten des Wandels beider Diskurse auf der Grundlage der Ökonomiekritik erfolgen kann.
Abstract
The term emancipation refers to guiding orientations such as maturity, autonomy, and self-determination. Feminist theory, shaped by a secular understanding, draws on this educational term and assumes that feminism and religion are incompatible, and that western secularism and emancipation are simply two sides of the same coin. With the help of such anti-religious conceptualizations of emancipation, the socio-scientific difference discourse about Muslim women in the public domain stereotypically pictures women as passive victims of their religion and culture (backwardly, uneducated, etc.). In contrast, within the scope of Islamic feminism, emancipation and feminist orientation are placed in a referential framework which is not only religiously determined but also sees a hierarchical, patriarchal order as being compatible with the aims of self-realization and self-determination. However, there exists a constructed dichotomy between the secular and the Islamic female subjectivity. The present paper deals with the question of how the dichotomy between the secular and the Islamic-oriented feminist discourses can be overcome. The presumption that underlies this move is that Muslim women in the European area become a subject by letting themselves be addressed as such, which opens up on the basis of economic criticism the possibilities for the transformation of both discourses.
Notes
In dieser an Max Weber angelehnten Modernisierungstheorie wird Religion als etwas im Zuge der Moderne zu Überwindendes betrachtet – zumindest jedoch haftet der Religion etwas Vormodernes, Unzeitgemäßes an.
Der Begriff „islamischer Feminismus“ hat sich im Unterschied zu dem des „muslimischen Feminismus“ als Terminus im öffentlichen sowie im sozialwissenschaftlichen Diskurs weitgehend durchgesetzt und gilt gegenwärtig als Oberbegriff für ein sehr breites Spektrum an religiösen und säkularen Orientierungen. Ihnen gemeinsam ist nicht viel mehr als der (negative oder positive) Bezug auf Koran und Sunna in der Verteidigung ihrer jeweiligen Argumente (vgl. Salah 2010).
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Kasap Çetingök, Y. Zu den Möglichkeiten des Wandels der säkular und islamisch geprägten feministischen Diskurse und der Subjektpositionen muslimischer Frauen. Österreich Z Soziol 41 (Suppl 3), 145–160 (2016). https://doi.org/10.1007/s11614-016-0235-5
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