1 Einleitung

Die Globalisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte sind ohne das Internet und die digitale Vernetzung schwer vorstellbar. Versteht man Globalisierung als immer dichtere Verflechtung von Gesellschaften über lokale und regionale Kontexte hinaus, so reicht dieser Prozess zwar sehr viel weiter zurück. Mit der Ausbreitung des kommerziellen Internets seit den 1990er-Jahren kam es jedoch zu einer sprunghaften Veränderung der globalen Kommunikation. Vom weltweiten Handel bis in den Bereich privater Beziehungen basieren heute immer mehr gesellschaftliche Interaktionen wie selbstverständlich darauf, jederzeit große Mengen an digitalen Daten zu verschwindend geringen Kosten nahezu in Echtzeit über physische und virtuelle Grenzen hinweg austauschen zu können. Das Internet bildet den Kern dessen, was wir als globale digitale Ordnung verstehen: nämlich die Gesamtheit jener technischen, wirtschaftlichen und politischen Praktiken, die die weltweiten Kommunikations- und Informationsflüsse ermöglichen und prägen.

Die politische Ausgestaltung dieser globalen Ordnung ist dabei seit jeher umkämpft. Die Technik ist keinesfalls eine Naturgewalt, die determinierend über uns hereinbricht. Vielmehr ist es Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse, wie das Internet verstanden und gestaltet wird, welche Art von gesellschaftlichen und insbesondere wirtschaftlichen Beziehungen es befördert – und nicht zuletzt, welche Form von Globalisierung es unterstützt. So wurde das Internet anfangs mit der kosmopolitischen Utopie einer im virtuellen Raum vereinten Weltgesellschaft verknüpft. Doch seit einigen Jahren lässt sich ein Trend hin zu einer Rückbesinnung auf traditionelle Muster nationalstaatlicher und territorialer Souveränität beobachten: Autoritäre wie auch liberale Regierungen bemühen sich darum, ihren Souveränitätsanspruch im digitalen Raum und im Bereich digitaler Technologien zur Geltung zu bringen. Manch konträrer Hoffnungen zum Trotz sind sie dabei durchaus erfolgreich. Und auch große Techunternehmen versuchen, die Kontrolle über „ihren“ Teil des Internets zu festigen.

Schon vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Frühjahr 2022 kam erschwerend hinzu, dass insbesondere die USA und China digitale Technologien zunehmend als Mittel geopolitischer Auseinandersetzungen verstehen. Bei aller Vorsicht vor Spekulationen deuten die Entwicklungen seit Jahren darauf hin, dass überholt geglaubte geopolitische Deutungsmuster eine Renaissance erleben – mit Folgen auch für die globale digitale Ordnung. Dementsprechend hat sich die Debatte um eine Fragmentierung dieser Ordnung, wie sie sich mit der Entstehung des Internets etablierte, zugespitzt. Insbesondere aus kosmopolitischer Perspektive, die im Internet das Ideal einer Weltgemeinschaft verwirklicht sah, sind digitale Souveränitätsansprüche bereits seit längerem Anlass zur Sorge (Mueller 2017). Da die aktuelle Auseinandersetzung des Westens mit Russland über den militärischen Bereich hinaus unter anderem auch über die Technologiepolitik ausgetragen wird, stehen die vermeintlichen Grundfesten der globalen digitalen Ordnung nun erst Recht in Frage. Die lange eher theoretische Debatte um deren Fragmentierung erfährt so derzeit eine neue und unmittelbare Dringlichkeit.

Da das Internet ein elementarer Bestandteil der globalen Ordnung ist, liegt es nahe, Querverbindungen zur weiteren Debatte um Prozesse der Deglobalisierung zu ziehen. Die Eigenheiten digitaler Technologien machen aber zugleich eine eigenständige Betrachtung der globalen digitalen Ordnung notwendig. In diesem Beitrag schlagen wir eine neue Perspektive auf deren Entwicklung vor und bedienen uns der Netzwerktheorie – denn diese erlaubt es, die Auseinandersetzungen um die globale digitale Ordnung als Machtkonflikte um die Konfiguration technisch-politischer Netzwerke zu interpretieren. Eine solche Perspektive setzt tiefer an als an der von vielen BeobachternFootnote 1 betonten Konfrontation liberaler und autoritärer Programmatiken im Kontext geopolitischer Auseinandersetzungen, insbesondere der neuen west-östlichen „Blockkonfrontation“. Die Netzwerktheorie schärft den Blick dafür, dass es quer zu dieser explizit politischen Konfliktlinie eine nicht minder folgenreiche Auseinandersetzung darüber gibt, wie zentral oder dezentral das Internet gestaltet sein sollte. Auch bei diesem Konflikt sind Staaten zwar wichtige Akteure, hinzu kommen aber nicht zuletzt die großen Technologieunternehmen, deren Politiken für die Konfiguration des globalen Internets von kaum zu überschätzender Bedeutung sind. Ohne den Akteuren selbst einen netzwerktheoretischen Blick unterstellen zu müssen, lässt sich das Verhalten wichtiger Staaten wie auch transnationaler Unternehmen so deuten, dass sie sich um eine Rekonfiguration von Teilnetzen bemühen, um ihre Machtposition auszubauen und dauerhaft in die Struktur der Netzwerke „einzuschreiben“.

Dabei ist es naheliegend, eine „Wahlverwandtschaft“ zwischen dezentraler Netzwerkkonfiguration und liberalen Freiheitsidealen einerseits sowie Zentralität und autoritärer Herrschaft andererseits anzunehmen. Diese Zuordnungen sind aber nicht zwingend, weder auf praktischer noch auf konzeptioneller Ebene. Denn auch Vertreter liberaler Ordnungen können sich für die Zentralisierung öffentlicher Gewalt entscheiden; ebenso kann eine autoritäre Ordnung ein gewisses Maß an Dezentralisierung zulassen. In der Tat ist zu beobachten, dass sowohl demokratische Regierungen als auch autoritäre Staaten danach streben, zentrale Machtpositionen in Teilnetzen des Internets oder im Internet insgesamt zu schaffen und zu besetzen. Und nicht zuletzt die sich als Speerspitze der Weltoffenheit gerierenden Plattformunternehmen des „kalifornischen Kapitalismus“ gründen ökonomisch auf dem Prinzip der Monopolbildung und der Schaffung digitaler Abhängigkeiten. Umgekehrt erlaubt auch das chinesische Internet etwa den alltäglichen dezentralen Verkehr von Social-Media-Inhalten, sofern sich diese innerhalb der politisch gesteckten Grenzen bewegen.

Der Beitrag liefert im Folgenden eine zeithistorische Rekapitulation der zentralen drei Phasen der Internetgeschichte mit Blick auf Tendenzen, Hoffnungen und Politiken der (De‑)Zentralisierung. Auf die Darstellung des konzeptionellen und begrifflichen Zugangs (Abschnitt 2) folgt ein Rückblick auf die Frühphase des Internets, die von Rhetoriken der Dezentralisierung begleitet war, in der sich jedoch de facto die eminente infrastrukturpolitische Machtposition der US-Regierung bereits konstituierte (3.1). Der anschließende Abschnitt 3.2 widmet sich der zweiten Phase, die wir gekennzeichnet sehen sowohl durch eine Globalisierung des Internets als auch durch eine damit einhergehende Pluralisierung der Nutzungsformen und -räume. Die dritte, bis in die Gegenwart hineinreichende Phase (3.3) bringt schließlich sowohl zunehmende Bestrebungen zur souveränen Kontrolle der Internetinfrastruktur mit sich als auch parallel dazu eine Konsolidierung der bestehenden Machtstrukturen, vor allem im ökonomischen Bereich. In Abschnitt 4 betrachten wir summarisch die Debatte um die Fragmentierung des Internets, um im abschließenden Kapitel die Ergebnisse zu resümieren und einen kurzen Ausblick zu wagen.

2 Internet Governance und die Logik der Netzwerke

Sozialwissenschaftliche Forschung tendierte lange Zeit dazu, das Internet – wie Technik im Allgemeinen – als gegebenes Artefakt hinzunehmen und ihre Analysen auf dessen disruptive Kraft sowie die von ihm angestoßenen Transformationen zu konzentrieren. Aufgrund der zunehmenden Popularität interdisziplinärer Strömungen wie der Science and Technology Studies (STS) sowie der Rückbesinnung auf Grundlagen des Sozialkonstruktivismus und der Techniksoziologie hat sich in den letzten Jahren jedoch eine Forschungsperspektive etabliert, die das Internet und digitale Technologien auch als Produkt gesellschaftlicher und politischer Prozesse untersucht (Berg et al. 2020, S. 177 ff.). Zunehmend nimmt diese Forschung die Kontingenz dieser Prozesse und der damit verbundenen technologischen Entwicklungen in den Blick.Footnote 2 Der vorliegende Beitrag teilt mit ihr das Interesse an wechselseitigen Beeinflussungen von technologischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Prozessen. Dazu führen wir im Folgenden eine netzwerktheoretische Perspektive auf das Internet als technisches und politisches Netzwerk ein. Dies ermöglicht einerseits, das mit dem Internet verbundene Dezentralitätsversprechen zu hinterfragen sowie andererseits die Verschiebung von Machtverhältnissen in Bezug auf das Internet und der damit verbundenen Governancestrukturen in Relation zu Veränderungen in der Netzwerkkonfiguration zu analysieren.

2.1 Die Infrastruktur des Internets und seine Anwendungen

Um den Gegenstand „Internet“ analytisch und empirisch fassbar zu machen, ist es üblich, in technischer Hinsicht verschiedene Ebenen zu unterscheiden. Je nach Erkenntnisinteresse werden diese sehr unterschiedlich definiert; weithin unstrittig und für unsere Zwecke ausreichend ist es jedoch, zwischen der Ebene der „Internetinfrastruktur“ und jener der „Internetanwendungen“ zu differenzieren.Footnote 3

Zur Internetinfrastruktur zählen die physischen Infrastrukturen aus Kabeln und Funkverbindungen, Rechenzentren und Internetknotenpunkten (IXPs) sowie die grundlegenden Standards und Protokolle, die dafür sorgen, dass ein reibungsloser Datenverkehr zwischen den verschiedenen Teilnetzwerken des globalen Internets möglich ist. Die Internetinfrastruktur gilt als Musterbeispiel für ein weitgehend dezentrales Netzwerk – es ist letztlich ein Netzwerk aus Netzen. Das heißt: Es besteht aus einem Zusammenschluss vieler kleiner und großer Netzwerkinfrastrukturen und benötigt nur wenige übergreifende Koordinations- oder Eingriffspunkte.Footnote 4 Die technische Eleganz und Innovation der Internetinfrastruktur besteht zudem darin, dass sie nicht vorgibt, wie die einzelnen Elemente des Netzes beschaffen sind und wie sie dieses Netzwerk nutzen. Was das Internet als Infrastruktur im Wesentlichen bereitstellt, sind zum einen eine sich ständig aktualisierende Karte aller Elemente des Netzwerks sowie zum anderen Mechanismen, die regeln, wie Daten in diesem Netzwerk ausgetauscht werden können (DeNardis 2012; Lehr et al. 2019, S. 10 f.). Die Datenflüsse des Internets sind dabei bislang weitestgehend von territorialen Grenzen entkoppelt, Verbindungen können grenzüberschreitend zwischen beliebigen Endpunkten hergestellt werden. Wie fast alle Beschaffenheiten des Internets ist jedoch seine Unabhängigkeit von geographischen Orten und staatlichen Grenzen kein unumgänglicher Teil seines technischen Designs, sondern vielmehr Resultat bewusster politischer Entscheidungen (Lambach 2020, S. 483).

Das globale Netzwerk der Netze ist nicht überall gleich dicht, was sich klar in den physischen Strukturen der globalen Internetinfrastruktur widerspiegelt: Das Netz aus Unterseekabeln, über die derzeit mehr als 90 % des interkontinentalen Datenverkehrs geleitet werden, ist über die letzten Jahrzehnte kontinuierlich gewachsen. Ein Großteil der Kabel verläuft durch den Atlantik zwischen Europa und den USA, die über den Pazifik auch gut mit Japan und China verbunden sind. Dagegen besteht rund um Afrika bislang ein deutlich weniger dichtes Netz, das jedoch immer stärker ausgebaut wird. In seiner Gesamtheit trägt dieses physische Netzwerk aus Unterseekabeln dazu bei, dass die globale virtuelle Vernetzung von Jahr zu Jahr zunimmt (Starosielski 2015).

Die zweite Ebene, jene der Internetanwendungen, umfasst alle Technologien, die sich diese digitale Netzwerkinfrastruktur zunutze machen. Was mit der Darstellung von Websites über das World Wide Web und dem Austausch von E‑Mails begann, erstreckt sich heute auf die vielfältige Nutzung von Smartphones und die immer stärkere Vernetzung von Menschen, Gegenständen und Geräten im Sinne des „Internets der Dinge“. Im Vergleich zur Ebene der Internetinfrastruktur, zu der auch physische Kabel gehören, sind die Anwendungen nur bedingt im geographischen Raum zu verorten, da sie im Prinzip überall dort genutzt werden können, wo eine Internetverbindung verfügbar ist. Gleichzeitig sind sie in vielerlei Hinsicht mit der physischen Realität verflochten: Routinemäßig werden Nutzer einem geographischen Standort zugeordnet, und in vielen Fällen wird das Angebot einer Anwendung auf dieser Grundlage angepasst, um auf unterschiedliche Marktbedingungen und rechtliche Rahmenbedingungen zu reagieren (Misterek 2017, S. 15). Nicht zuletzt haben sich kulturelle und regionale Unterschiede in der Nutzung von Anwendungen entwickelt, unter anderem aufgrund regulativer Rahmenbedingungen.

Der politische Zugriff auf das Internet erstreckt sich sowohl auf die Ebene der Infrastruktur als auch auf jene der Anwendungen. An der Koordination, Gestaltung und Weiterentwicklung der Netzwerkinfrastruktur sowie der Internetanwendungen und ihrer Regeln sind jedoch bei weitem nicht allein staatliche Akteure beteiligt. Eine große Rolle spielen Unternehmen sowie Vertreter aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft, die um Teilhabe und Gestaltungsmacht ringen. Aufgrund dieser Heterogenität und Vielzahl der Prozesse und Akteure entzieht sich der Begriff der „Internet Governance“ – wie auch der Governancebegriff selbst – einer allgemein akzeptierten Definition. Breit gefasst kann Governance sowohl die Form autoritativer Regelsetzung als auch freiwilliger Koordination annehmen (Hofmann et al. 2017; Voelsen 2019a), wobei in Europa auf nationaler und EU-Ebene Ersteres überwiegt. Besonders sichtbar ist dies mit Blick auf die Regulierung von Internetanwendungen, etwa wenn Staaten Vorgaben zu Datenschutz und den Grenzen der Meinungsfreiheit beschließen (Breindl 2013; Fritz 2013; Marsden et al. 2020). Auf der globalen Ebene hingegen finden sich vor allem Formen der freiwilligen Koordination, insbesondere wenn es um komplexe technische Aspekte der Internetinfrastruktur geht (Hofmann 2016).

Besondere Bedeutung kommt dabei nichtstaatlichen Gremien und Organisationen wie beispielsweise der Internet Engineering Task Force (IETF) zu, in deren Rahmen die Arbeit an den grundlegenden Standards und Protokollen des Internets stattfindet. Es gibt jedoch international keine Institution, die vorgibt, welche dieser Standards zu nutzen sind. Ob und wie sich die Internetinfrastruktur weiterentwickelt, hängt darum davon ab, ob Standards von einem hinreichend großen Teil der Betreiber dieser Infrastruktur übernommen werden. Gerade hier zeigt sich somit die besondere Rolle privater Unternehmen in der globalen Internet Governance: Ein Großteil der globalen Infrastruktur liegt in ihren Händen, weshalb sie sich sehr aktiv an der Weiterentwicklung von Standards und Protokollen beteiligen und letztlich über deren Implementierung entscheiden (ten Oever 2021, S. 346; auch Musiani 2015). Einen ähnlich bedeutenden Einfluss üben Plattformunternehmen auf die Gestaltung der Anwendungsebene aus, da sie durch Geschäftsbedingungen De-facto-Regeln schaffen und damit das Nutzungsverhalten nachhaltig prägen (Gollatz 2020; Katzenbach 2021).

2.2 Der netzwerktheoretische Blick auf das Internet

Um das Internet als technisches Netzwerk und die Internet Governance als politisches Netzwerk mit sich häufig neu konfigurierenden Akteurs- und Machtkonstellationen analytisch zu erfassen, ist die Netzwerktheorie in besonderer Weise geeignet. Dementsprechend wurden netzwerktheoretische Ansätze schon früh für die Internet-Governance-Forschung fruchtbar gemacht. So wurden etwa Aushandlungsprozesse auf der Mikroebene mithilfe der Akteur-Netzwerk-Theorie (Flyverbom 2011; Pohle 2016) und die Rolle von Organisationen, Institutionen und Akteursgruppen auf der Mesoebene globaler Internet-Governance-Prozesse mithilfe der sozialen Netzwerkanalyse untersucht (Mueller 2010; Mueller et al. 2013; Pavan 2012). Den gemeinsamen Ausgangspunkt vieler netzwerktheoretischer Ansätze bildet jedoch die makrosoziologische Annahme, dass sich die Gesellschaft als Netzwerk verschiedentlich ausdifferenzierter Netzwerke verstehen lässt (Castells 1996, 2004; Kahler 2009). Diese Perspektive, die auch diesem Beitrag zugrunde liegt, sagt jedoch für sich genommen noch nichts über die Beschaffenheit dieser Netzwerke aus. Ein absolutistischer Staat lässt sich ebenso als Netzwerk verstehen wie ein transnationaler Zusammenschluss von Umweltaktivisten. Der Zweck und die konkrete Form gesellschaftlicher Netzwerke sind in diesem Sinne kontingent. Auch das Internet und die Internet Governance sind demnach Teil einer als globales Netzwerk verstandenen Weltgesellschaft und vereinen wie diese jeweils eine Vielzahl von mehr oder weniger stark institutionalisierten Teilnetzwerken. Technisch sind dies etwa die verschiedenen Teilsysteme des Internets, politisch die verschiedenen Institutionen und Foren der globalen Internet Governance sowie der nationalen Digitalpolitik.

Der analytische Zugriff über die Netzwerktheorie ist dabei zu trennen von den normativen Erwartungen, die oftmals mit dem Netzwerkbegriff verbunden werden. Gerade in der Internet Governance wurde und wird „das Netzwerk“ oft als Alternative zu traditionellen Formen gesellschaftlicher Organisation verstanden (Lambach 2020, S. 485; Mueller et al. 2013, S. 87). Netzwerke gelten dabei als offener, flexibler und inklusiver als etwa die Familie oder die Nation; zudem werden sie in Abgrenzung zu hierarchischen Regierungsformen mit Formen der freiwilligen und kooperativen Koordination assoziiert (August 2021; Pohle und Thiel 2019, S. 62). In unserer Analyse hingegen machen wir die Ausgestaltung des Internets als technisches und politisches Netzwerk selbst zum Untersuchungsgegenstand. Die Frage, wie zentral oder dezentral das Internet organisiert sein sollte, betrachten wir als Teil einer Auseinandersetzung um den Charakter technischer wie politischen Teilnetzwerke, die in ihrer Gesamtheit das globale Internet und das Akteurs- und Institutionengefüge der Internet Governance bilden. Die Summe der hier zu beobachtenden Entwicklungen prägt das makrosoziale Gefüge, also die konkrete Form von digitaler Ordnung, die sich global durchsetzen kann und damit auch die Weltgesellschaft formiert.

Der Netzwerktheorie lässt sich ein spezifischer Blick auf Machtverhältnisse entnehmen (Castells 2016, S. 10 ff.; Kahler 2009).Footnote 5 Dies betrifft zunächst die Macht innerhalb von Netzwerken, für die insbesondere die Zentralität der Position von Akteuren in Netzwerken entscheidend ist. Eine zentrale Stellung in Netzwerken zeichnet sich durch eine hohe Anzahl und spezifische Qualität von Verbindungen zu anderen Entitäten des Netzes aus. Im Vergleich zu Entitäten an der Peripherie des Netzwerkes haben zentrale Akteure mehr Handlungsmöglichkeiten und dadurch letztlich mehr Macht. Dies kann sich etwa darin ausdrücken, dass zentrale Akteure als „Gatekeeper“ über den Zugang zu Netzwerken verfügen (Goddard 2009, S. 257). Zugleich haben diese Akteure weder die Fähigkeit noch den Anspruch, die Funktionsweise des Netzes grundlegend zu verändern. Eine zweite Form stellt daher die Macht über Netzwerke dar, verstanden als die Fähigkeit, Strukturen von Netzwerken auf der Meso- und Mikroebene zu verändern und damit die Logiken zu beeinflussen, nach denen Macht in diesen Netzwerken verteilt wird (Zajácz 2019, S. 27). Diese Art der Macht schließt auch die Möglichkeit ein zu entscheiden, ob und unter welchen Bedingungen Verbindungen zu anderen Teilnetzen hergestellt werden. So lassen sich Netzwerke bewusst derart dezentral gestalten, dass in ihnen keine Entität eine zentrale Stellung einnehmen kann, die es ihr erlauben würde, Macht über andere Entitäten auszuüben. Umgekehrt können Netzwerke auch so gestaltet werden, dass sie eben solche zentralen Positionen und Möglichkeiten der Machtausübung ermöglichen. Diese Art von Macht über Netzwerke, die sich als eine Spielart struktureller Macht verstehen lässt (Lukes 2005), kann im Prinzip sowohl auf der Ebene des globalen Netzes als auch auf der Ebene der Teilnetze ausgeübt werden. Eine Entität, die Macht über ein Netzwerk ausübt, kann diese zudem nutzen, um sich eine zentrale Machtposition innerhalb dieses Netzwerkes zu verschaffen. Die Macht über ein Netzwerk geht also häufig mit der Macht innerhalb desselben einher.

3 Die Netzwerkstruktur des Internets: eine historische Betrachtung

Die Geschichte des Internets ist vielfach beschrieben worden.Footnote 6 Diese historischen Aufarbeitungen nutzen wir im Folgenden dazu, die Konflikte um die Konfiguration des Internets als technisches wie politisches Netzwerk zu rekonstruieren. Seit jeher steht dabei dem Ideal einer dezentralen Struktur das Streben verschiedener Akteure entgegen, zentrale Stellungen innerhalb des Netzwerkes einzunehmen und über diese Macht auszuüben.

Die historische Entwicklung unterteilen wir in drei Phasen, in denen wir je die dominanten Netzwerkkonfigurationen in vier Bereichen beleuchten: Internetinfrastruktur, Digitalwirtschaft, digitale Öffentlichkeit und Internet Governance.

3.1 Phase 1: Ein offenes Netzwerk unter Führung der USA

Schon seit den 1960er-Jahren gab es in unterschiedlichen Ländern und Regionen Ansätze dazu, die Computersysteme von Forschungseinrichtungen miteinander zu vernetzen. Das umfassendste Netzwerk dieser Art war das ARPANET, ein vom US-Verteidigungsministerium gefördertes System zur Vernetzung von Einrichtungen, die Forschung für das Ministerium betrieben. Das Internet, wie wir es heute kennen, entstand zwar erst Anfang der 1990er-Jahre und setzte sich auch erst dann als weltweit dominantes Netzwerk zum Datenaustausch durch. Ein Großteil der technischen Standards und Protokolle, die für den Austausch von Daten im Internet sowie für seine gesellschaftliche Wahrnehmung und die Nutzung seiner Anwendungen grundlegend waren, wurden jedoch bereits in dieser Frühphase entwickelt.Footnote 7

Die grundlegenden Web- und E‑Mail-Protokolle sind dabei bis heute Beispiele für eine bewusst offen und dezentral angelegte Netzwerkkonfiguration. Eine Website lässt sich von verschiedenen Endgeräten aus lesen, auch werden die Protokolle von verschiedenen Softwarelösungen genutzt, vor allem von den bis heute geläufigen Internetbrowsern. Zudem ermöglicht die gemeinsame Protokollbasis, dass verschiedene Dienstanbieter miteinander kompatibel sind. Die Nutzer können somit unter einer Vielzahl von Anbietern für das Hosting von Webseiten und die Verwendung von E‑Mails wählen, ohne den Anschluss an das weitere Netzwerk zu verlieren (Arkko 2020; Masnick 2019). Zugleich war die frühe Internetinfrastruktur in gewisser Hinsicht durchaus zentral organisiert. So wurde das Domain-Name-System (DNS) – auch bekannt als das „Adressbuch des Internets“, da es von Menschen lesbare Webadressen computerlesbaren IP-Adressen zuordnet – anfangs von einer Person verwaltet, dem amerikanischen Informatiker Jon Postel. Offiziell kam diese Aufgabe der Internet Assigned Numbers Authority (IANA) zu, die ursprünglich von einer dem US-Verteidigungsministerium zugeordneten Behörde verantwortet und finanziert wurde.Footnote 8 Da die Anzahl der mit dem Internet verbundenen Entitäten anfangs noch sehr beschränkt war, konnte Postel das System händisch verwalten. Es lag also an ihm, neuen Teilnehmern Adressen zuzuweisen und sie somit in das Netzwerk aufzunehmen. Postel – sowie der von ihm geführten IANA – kam so eine zentrale Machtposition innerhalb des damals noch sehr überschaubaren Netzwerkes zu (Ahlert 2001, S. 70; Weinberg 2011, S. 199). De facto nahm er die Rolle eines „Gatekeepers“ ein, wobei nichts darauf hindeutet, dass er diese Position in problematischer Weise ausgenutzt hätte.

Auch mit Blick auf die Internetanwendungen bzw. die Digitalwirtschaft lässt sich bereits in dieser Frühphase das Spannungsverhältnis von Zentralisierung und Dezentralisierung beobachten. So wurde die Entwicklung des Internets in den USA anfangs durch massive öffentliche Investitionen gefördert; die Nutzung der Netze für wirtschaftliche Transaktionen war nicht erlaubt. Ursprünglich bewusst für eine nichtkommerzielle Nutzung entwickelt, wurde das Internet jedoch zu Beginn der 1990er-Jahre für wirtschaftliche Transaktionen freigegeben (Foster und McChesney 2014). Seine Privatisierung und Kommerzialisierung verlief seitdem in mehreren Schüben und veränderte über die letzten Jahrzehnte nicht nur die Form des Wirtschaftens, sondern auch soziale und technologische Konfigurationen. Im Rahmen der allgemeinen Liberalisierungswelle privatisierte die Clinton-Administration zunächst nicht nur die Internetinfrastruktur, sondern erlaubte privatwirtschaftlichen Anbietern auch, den Zugang zum Internet als Dienstleistung zu verkaufen und kommerzielle Internetanwendungen zu entwickeln (Radu 2019, S. 75 ff.).Footnote 9 Mit der bewussten Intention, privatwirtschaftliche Investitionen anzuregen, stellte sie das Internet mit dem „Telecommunications Act“ von 1996 zudem von den für klassische Telekommunikationsanbieter üblichen Regulierungen frei.

Als Konsequenz liegt ein Großteil der Internetinfrastruktur in den USA und in vielen weiteren Staaten, die deren Vorbild folgten, bis heute in den Händen privater Unternehmen. In diesem Sinne war das globale Internet ein Kind seiner Zeit, die geprägt war von neoliberalen Vorstellungen der Überlegenheit der Märkte gegenüber öffentlichen Institutionen (Chenou 2014). Doch während die Kommerzialisierung dazu führte, dass sich das Internet global ausbreiten konnte, und den Weg für Innovationen ebnete, die bis heute seine Nutzung bestimmen, führte sie gleichzeitig zu einer Machtkonzentration in den Händen weniger US-amerikanischer Anbieter und damit zu einer bis dahin unbekannten Zentralisierung innerhalb des globalen Netzes. Die kommerziellen Browser Netscape Navigator und Microsoft Internet Explorer waren für die meisten Nutzer lange das einzige Tor zum World Wide Web, sodass die dahinterstehenden Firmen eine eminente Machtposition innerhalb des Netzwerkes besetzten. Neben dem Geschäft mit Internetzugängen hatte die Einführung von E‑Commerce früh zur Folge, dass die Bedeutung von Onlinewerbung und, eng damit verbunden, der Auswertung von personenbezogenen Daten zunahm. So wurden in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre Unternehmen wie Amazon gegründet, das als Online-Buchhändler begann und heute ein globaler Megakonzern ist.

Gleichzeitig führte das Internet eine neue, stärker dezentrale Form von Öffentlichkeit ein. Traditionelle Medien wie Zeitung, Radio und Fernsehen sind vergleichsweise stark konzentriert: Wenige verfassen Inhalte, die von Vielen rezipiert werden (Shoemaker und Reese 1996). Diese medialen Gatekeeper erfuhren nun zunehmend Konkurrenz durch digital zugängliche Dienste, in denen jeder Nutzer im Prinzip als Empfänger und Sender agieren kann (Pfister 2011, S. 218). In den 1990er-Jahren war das Angebot an Internetanwendungen, die das auch praktisch ermöglichten, jedoch noch sehr beschränkt. Zwar gab es neben E‑Mail schon Chat-Systeme und Newsgroups, doch war deren Bedeutung im Vergleich zu klassischen Medien äußerst gering. Für die Entstehung einer digitalen politischen Öffentlichkeit reichten damals schlicht die Verbreitung von Internetzugängen und die Möglichkeiten des interaktiven Austauschs noch nicht aus. Entsprechend gab es weder von staatlicher noch privatwirtschaftlicher Seite feste Regeln oder Vorgaben, die als Grundlage für öffentliche Onlinekommunikationen und -interaktionen hätten gelten können (Hofmann 1996, S. 20). Vielmehr galt die sogenannte „Nettiquette“, die aus einer Reihe ungeschriebener Verhaltensnormen bestand und deren Nichtbeachtung zu öffentlicher Kritik durch andere Internetnutzer bis hin zum Ausschluss aus bestimmten Foren führen konnte (Ahlert 2001, S. 69). Dies trug ebenfalls zur dezentralen Gestaltung der digitalen Öffentlichkeit bei, da somit nicht nur die Kommunikationsmöglichkeiten, sondern auch Eingriffs- und Kontrollmöglichkeiten auf die verschiedenen Gemeinschaften von Nutzern verteilt waren.

Die Internetpolitik der USA in den 1990er-Jahren wirkte sich nicht nur auf die frühe Digitalwirtschaft, sondern auch auf die frühen Strukturen der Internet Governance aus, die in dieser Zeit entstanden. Trotz aller Bekenntnisse der US-Regierung zum Welthandel diente die privatwirtschaftliche Öffnung primär dazu, einheimische Unternehmen zu fördern. So wurde die zentrale Stellung der USA im globalen Internet gefestigt und die Entwicklung des Internets insgesamt stark liberal geprägt. Nahezu emblematisch zeigte sich die US-amerikanische Vormachtstellung im Kontext der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN), der neben der bereits erwähnten IETF auch international besondere Aufmerksamkeit zukam. ICANN wurde 1998 mit dem Ziel gegründet, der bis dahin von Postel bzw. IANA betreuten Verwaltung des DNS einen verlässlichen institutionellen Rahmen zu geben. Umstritten war jedoch, wie dieser aussehen sollte. Gemessen an der gewachsenen Bedeutung des Internets hatten einige Staaten gefordert, diese Aufgabe fortan der Internationalen Telekommunikationsunion (ITU) zu übertragen. Mit der Gründung von ICANN setzte die US-Regierung stattdessen eine nichtstaatliche Lösung durch (Hills 2007, S. 140 ff.). Gleichzeitig sicherten sich die USA selbst eine privilegierte Stellung, indem die IANA-Funktion operativ an ICANN übertragen wurde, das US-Handelsministerium aber zunächst weiterhin eine politische Aufsicht ausübte. Auf technisch grundlegender Ebene konnte die US-Administration somit ihre Macht über das Internet behaupten.

Die neu geschaffenen Arbeits- und Entscheidungsstrukturen der ICANN orientierten sich an der Idee der Multi-Stakeholder-Governance, in der staatliche Entscheidungsträger und andere Interessengruppen aus Wirtschaft, Technik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft in einem nichthierarchischen und damit vermeintlich dezentral organisierten Aushandlungsprozess Regeln und Normen entwickelten. Um die Dynamik der technischen Entwicklung nicht zu gefährden, sollte der Selbstregulierung Vorrang gewährt werden. Die Einbeziehung aller am Internet beteiligten Stakeholder sollte dabei einen vielfältigen Input sicherstellen und zugleich dem Zugriff von Regierungen – mit Ausnahme der US-Regierung selbst – auf die zukünftige Konfiguration des globalen Netzwerkes vorbeugen (Hofmann 2016, S. 35 ff.).Footnote 10 Damit kann die ICANN als Institutionalisierung des von der US-Regierung angestrebten Internet-Governance-Konzepts gelten. Liberale Ordnungsvorstellungen und ein emphatisches Bekenntnis zur Idee einer dezentral angelegten Multi-Stakeholder-Governance wurden verbunden mit dem Versuch, die zentrale Stellung der US-Regierung und amerikanischer Unternehmen zu wahren. Aus Sicht der US-Regierung stellte dies keinen Widerspruch dar: Vielmehr galt ihr (und gilt vielen bis heute) die starke Stellung der USA als Garant für eine liberale digitale Ordnung. Nicht überraschend stößt die ICANN dementsprechend aber auch seit ihrer Gründung auf anhaltenden Widerstand bei all jenen Regierungen, die gegen diesen Ordnungsentwurf opponieren.

Der Konflikt zwischen liberalen Prinzipien und staatlichen Souveränitätsansprüchen wurde jedoch nicht nur auf globaler Ebene ausgetragen, sondern bestimmte auch schon in den 1990er-Jahren die nationale Internetpolitik vieler Länder, inklusive der USA selbst. Ein prägnantes Beispiel dafür sind die als „Crypto Wars“ bezeichneten hitzigen Auseinandersetzungen um eine mögliche Regulierung von Verschlüsselungstechnologien für Onlinekommunikation, die in mehreren Phasen zwischen westlichen Regierungen und ihren Sicherheitsbehörden einerseits und Vertretern von Digitalwirtschaft und Internetnutzern andererseits ausgetragen wurden (Schulze 2017). Der Protest gegen solche frühen politischen Interventionen speiste sich auch aus dem damals unter internetpolitischen Aktivisten quasi unangefochtenen Mantra, dass sich das Internet letztlich jeglichen – und insbesondere staatlichen – Regulierungsversuchen widersetzen müsse. Die Überzeugung, dass gerade in dieser Unabhängigkeit des Internets von staatlicher Macht die „Freiheit“ des Cyberspace bestehe, stand im Zentrum des sogenannten Cyber-Exzeptionalismus bzw. Cyber-Libertarismus, wie er 1996 von John Parry Barlow in der berühmten „Declaration of the independence of cyberspace“ ausgerufen wurde (Pohle und Thiel 2019, S. 59 ff.).

Führt man sich die verschiedenen Netzwerkkonfigurationen in der Frühzeit der globalen Verbreitung des Internets und seiner beginnenden Kommerzialisierung summarisch vor Augen, so sticht die zentrale Stellung der US-Regierung sowie US-amerikanischer Unternehmen klar hervor. US-Akteure kontrollierten nicht nur die wenigen zentralen Punkte im Netzwerk, sondern hielten auch entscheidende Gatekeeper-Positionen inne und nutzten die daraus resultierende Macht, um sich eine gute wirtschaftliche Startposition zu sichern und neue Märkte zu erschließen bzw. geopolitische Abhängigkeiten zu etablieren. Zwar gab es bis weit in die 1990er-Jahre hinein parallele Ansätze zum Aufbau von Computernetzwerken auch in anderen Ländern, doch konnte sich keines dieser alternativen Systeme lokal oder gar weltweit durchsetzen. Russland befand sich in einer Phase des radikalen Umbruchs, und China war noch weit entfernt davon, wirtschaftlich und technologisch mit den USA konkurrieren zu können. Ebenso wenig konnten sich die staatlich forcierten und zentralistischer ausgerichteten Systeme in Europa, wie das französische Minitel-Netz (Gonzalez und Jouve 2002) oder das deutsche BTX-System (Schneider 1989), gegenüber dem US-amerikanischen Internet behaupten.

Das Ausbleiben größerer Konflikte um das Internet in dessen Frühphase lässt sich wohl vor allem durch dessen noch vergleichsweise geringe wirtschaftliche wie politische Bedeutung erklären. Den Regierungen vieler Staaten war das gesellschaftsverändernde Potenzial dieser neuen Technologie noch kaum bewusst. Zugleich hatte sowohl die cyberlibertäre Vision eines von staatlichen Herrschaftsansprüchen losgelösten Cyberraums, in dem jeder Nutzer gleichermaßen willkommen ist, als auch die Idee einer selbstverwalteten Infrastruktur eine sehr hohe Überzeugungskraft. Dass die USA sich eine zentrale Stellung innerhalb des Netzwerkes des Internets sicherten und in uneinholbarer Weise Macht über das globale Internet ausübten, wurde so weder von den frühen Internetnutzern und jungen Unternehmen der Internetwirtschaft noch von den meisten liberalen Staaten als Problem wahrgenommen. Bis heute hält sich hartnäckig das Narrativ, dass diese Konstellation historisch begründet und damit gerechtfertigt sei sowie de facto keine nennenswerten Einschränkungen des Internets als offenem Netzwerk mit globaler Reichweite mit sich bringe. Die Vorstellung, das Internet komme ohne zentrale Akteure oder Kontrollpunkte aus, ist noch immer weit verbreitet.

3.2 Phase 2: Globale Ausweitung des Internets und Pluralisierung

Spätestens ab der Jahrtausendwende begünstigten sinkende Preise für den Onlinezugang sowie für die entsprechenden Endgeräte die Ausweitung des Internets auf weitere gesellschaftliche Bereiche. Auch immer mehr Wirtschaftszweige wurden erfasst und durch neue technische Netzkonfigurationen – beispielsweise Peer-to-Peer-Netzwerke – nachhaltig beeinflusst. So leitete etwa die massive Nutzung des Peer-to-Peer-Dienstes Napster, über den Nutzer Musikdateien weltweit kostenlos austauschen konnten, den bis heute anhaltenden Wandel der Musikbranche ein. Zudem erweiterten sich die Zugangsmöglichkeiten zum Internet. War in den Anfangsjahren ein meist recht klobiger Computer nötig, um Internet-Anwendungen zu nutzen, so läutete das erste iPhone von 2007 die Zeit des mobilen Internets ein. Neu war daran auch, dass diese Geräte per Mobilfunk permanent mit dem Internet verbunden waren. Damit multiplizierten sich nicht nur die Verbindungspunkte, sondern das virtuelle Netzwerk wurde auch immer mehr Teil der physischen Welt. Spätestens ab diesem Moment wurde die Unterscheidung zwischen online und offline immer schwieriger.

Die Internetinfrastruktur wurde aber nicht nur anders, sondern auch von immer mehr Menschen in immer weiteren Teilen der Welt genutzt. Bis 2010 stieg der Anteil der Internetnutzer auf etwa ein Drittel der Weltbevölkerung. Entsprechend wuchs das Bewusstsein, dass die zunehmende globale Vernetzung eben nicht alle Teile der Welt bzw. der Weltbevölkerung gleichermaßen erreicht. Denn das Netzwerk der Internetinfrastruktur und ihrer Anwendungen dehnte sich nicht lückenlos aus; zugleich waren die nicht oder schlecht integrierten Bevölkerungsgruppen durchaus von den Veränderungen, die die digitale Vernetzung mit sich brachte, betroffen.Footnote 11 In Reaktion auf diese Entwicklung – bis heute als „digital divide“ diskutiert – entstanden in den 2000er-Jahren etliche Technologietransfer- und Infrastrukturprojekte mit dem Ziel, den Entwicklungsländern durch die digitale Einbindung zu wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Aufschwung zu verhelfen und sie – nicht zuletzt als Konsumenten und Wirtschaftspartner – in das globale Netzwerk des Internets einzubinden. Die Konzentration dieser Projekte auf die technische und kommerzielle Dimension des Internets wurde aber gleichzeitig dafür kritisiert, die geopolitischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Hintergründe struktureller globaler Ungleichheit, die sich bis heute in den Machtkonfigurationen des globalen Internets widerspiegeln, auszublenden (Stevenson 2009).

Die globale Ausbreitung des Internets zeigte sich auch in den Strukturen der Digitalwirtschaft. Zwar erfuhr die Euphorie für internetbasierte Geschäftsmodelle mit dem Platzen der „Dotcom Bubble“ im Jahr 2000 einen kurzzeitigen Dämpfer. Zugleich gelang es jedoch US-Technologieunternehmen, gewissermaßen im Fahrwasser des Internets neue Märkte zu erschließen und dabei zentrale Machtpositionen im globalen Internet bzw. in neuen Teilnetzen einzunehmen. Alleine der weltweite Markt für Endgeräte bescherte Hardwareherstellern wie Intel oder Softwareanbietern wie Microsoft immense Verkaufszahlen. Eine Erweiterung der Digitalwirtschaft fand hingegen auf der Ebene der Internetinfrastruktur statt: Ein Großteil der Internet-Service-Provider dieser Zeit waren lokale Unternehmen, nicht selten frühere Telefonmonopolisten wie die Deutsche Telekom, die ihre Vormachtstellung innerhalb nationaler Teilnetzwerke sicherten und so zu einer Diversifizierung der Internetzugangsmöglichkeiten beitrugen. Zugleich entstanden auf der ganzen Welt, und damit auch außerhalb der USA, Internetknotenpunkte, was ebenfalls zu einer Pluralisierung und Dezentralisierung der globalen Internetinfrastruktur beisteuerte.

Die 2000er-Jahre waren auch die Zeit, in der genuin neue Geschäftsfelder entstanden, die sich mit Produktion und Vertrieb digitaler Dienstleistungen und Güter befassen, wie etwa IT-Sicherheitsdienstleistungen für Unternehmen oder Musikstreamingdienste für Endverbraucher. So begann zu dieser Zeit auch der Aufstieg von Firmen wie Facebook und Google, die sich explizit auf Internetanwendungen spezialisierten. Im Westen oft übersehen wurde zu dieser Zeit ebenso das Fundament der chinesischen Digitalwirtschaft gelegt: Baidu, Alibaba und Tencent, unter dem Akronym BAT oft als Gegenpart der US-amerikanischen GAFAM (Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft) bezeichnet, wurden alle um die Jahrtausendwende gegründet. Trotz der anhaltenden Dominanz einiger US-Unternehmen entwickelte sich die Digitalwirtschaft somit in dieser Phase vielfältiger und internationaler; auch hier kam es also zu einer Form von Dezentralisierung.

Das Aufkommen einer Reihe von neuartigen Internetanwendungen und Plattformen hatte direkte Auswirkungen auf die politischen Öffentlichkeiten im Internet. So erlaubten Anwendungen wie Blogs oder Videoportale den Nutzern, eigene Inhalte zu erstellen und in Echtzeit interaktiv und kollaborativ zu bearbeiten. Was heute selbstverständlich erscheint, galt damals als Umbruch und wurde in der Logik technischer Versionierungssysteme als Schritt hin zum „Web 2.0“ beschrieben. Zu den bis heute bekanntesten Beispielen gehört das kollaborative Projekt Wikipedia, das 2001 gestartet wurde. 2004 ging eine frühe Version von Facebook in Betrieb und leitete – vorerst in den USA, später weltweit – das Zeitalter der „Sozialen Netzwerke“ ein, die dezentrale Nutzerkommunikationen mit zentraler Gestaltungsmacht durch die dahinterstehenden privatwirtschaftlichen Anbieter kombinieren. Zugleich stand die Konzentration dieser Öffentlichkeiten in den Händen weniger Unternehmen noch aus, sodass die neuen Möglichkeiten zur Interaktion und Kollaboration auch die Hoffnung auf eine so dichte wie dezentrale digitale Öffentlichkeit katalysierten. Vor allem westliche Beobachter antizipierten einen per se demokratisierenden sozialen Impuls durch digitale Vernetzung und sahen sich durch die oft als „Facebook-“ und „Twitter-Revolutionen“ bezeichneten Proteste des „arabischen Frühlings“ ab 2010 bestätigt. Auch wenn die Rolle der sozialen Medien in diesen Konflikten Gegenstand bis heute anhaltender Kontroversen ist (Morozov 2011; Transfeld und Werenfels 2016), führten die neuen dezentralen Vernetzungstechniken hier ohne Zweifel zu einer neuartigen digitalen Öffentlichkeit.

Mit seiner zunehmenden wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Bedeutung wurde das Internet in den 2000er-Jahren zudem erstmals explizit zum Gegenstand internationaler Politik. Im Versuch, eine Lösung für das Problem der „digital divide“ zu finden, organisierten die Vereinten Nationen in den Jahren 2003 bis 2005 den Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (World Summit on the Information Society, kurz WSIS), der auch mit Elementen von Multi-Stakeholder-Governance verbunden wurde. Während des WSIS kam es zu einem ersten offen ausgetragenen Konflikt zwischen Befürwortern des damaligen Status Quo der Internet Governance unter US-amerikanischer Führung und Verfechtern einer Verwaltung des Internets durch eine zwischenstaatliche Organisation, wie etwa der ITU (Kleinwächter 2004; Raboy 2004). Doch erneut konnten sich die USA und ihre westlichen Verbündeten durchsetzen. So ging aus dem WSIS das Internet Governance Forum (IGF) hervor, das seit 2006 jährlich unter Schirmherrschaft der UN stattfindet. Die Hoffnung dabei war, durch ein globales, inklusives Forum die strittigen Fragen über die Zukunft der globalen digitalen Ordnung auf dem Wege freiwilliger Koordination und Kooperation lösen zu können. Der für die UN damals noch sehr ungewohnte Beschluss, das IGF als Multi-Stakeholder-Prozess zu gestalten, sollte dafür Sorge tragen, dass die Zukunft des Internets nicht einseitig von den Staaten vorgegeben werden würde (Hofmann 2016, S. 37 ff.).

Schon damals war diese Vorstellung jedoch höchst umstritten. Zumindest einige Staaten erkannten die politische Bedeutung des Internets und versuchten, ihren Herrschaftsanspruch nun auch hier zur Geltung zu bringen (Deibert et al. 2010). Ein extremes Beispiel hierfür ist der Aufbau der „Great Chinese Firewall“: Ab 2003 bemühte sich die chinesische Regierung durch ein umfangreiches technisches Programm feingliedrig zu steuern, welche Informationen in das chinesische Teilnetzwerk des Internets gelangen und dieses verlassen können. Das Ziel war und ist bis heute, das wirtschaftliche Potenzial des Internets zu nutzen, ohne die Kontrolle über die politische Öffentlichkeit in China zu verlieren. Seit 2010 nutzt die chinesische Regierung prominent den Begriff der „Cybersouveränität“, verstanden als Übertragung des klassisch-westfälischen Verständnisses von Staatlichkeit auf den digitalen Raum und gerichtet gegen die von den USA dominierte globale digitale Ordnung (Arsène 2016). Zu dieser Zeit war die chinesische Politik indes vor allem defensiv ausgerichtet und zielte nicht darauf, die globale Ordnung strukturell zu transformieren. Vielmehr bezweckte sie primär, die chinesische Regierung als Gatekeeper und ultimative Machtinstanz innerhalb des inländischen Teilnetzwerkes zu etablieren. Prominente Unterstützung auf der internationalen Ebene erhielt Peking dabei aus Russland, dessen Führung ebenso frühzeitig den machtpolitischen Aspekt digitaler Vernetzung erkannte und sich dafür einsetzte, Nationalstaaten eine zentrale Verfügungsgewalt über das globale Internet einzuräumen (Nocetti 2015).Footnote 12

Doch auch im Verhältnis zwischen den USA und der Europäischen Union zeichneten sich zu dieser Zeit erste Konfliktlinien ab. Die verschiedenen neuen Ermächtigungen zur digitalen Datensammlung und -auswertung von Internetnutzern infolge der Terroranschläge des 11. September 2001 betrachteten zivilgesellschaftliche Akteure und Datenschutzbehörden in Europa von Beginn an kritisch. Seit dieser Zeit schwelt an dieser Stelle eine transatlantische Auseinandersetzung, die sich letztlich an der zentralen Stellung der USA und damit der US-amerikanischen Nachrichtendienste entzündet: Aufgrund der Dominanz US-amerikanischer IT-Anwendungen in Europa werden digitale Datenströme oftmals über zentrale Knotenpunkte in den USA geleitet. Da man seit langem davon ausgehen musste, dass dort US-Behörden und -Nachrichtendienste auf die Daten zugreifen, erhielt die Frage, unter welchen Bedingungen Daten von EU-Bürgern in die USA übertragen werden dürfen, für staatliche wie nichtstaatliche Akteure dauerhafte Brisanz (Farrell und Newman 2019a).

Netzwerktheoretisch gesprochen kam es mit der globalen Ausbreitung des Internets also zu ersten Anzeichen einer möglichen Machtverschiebung. Zwar konnten die USA ihre zentrale Stellung und damit ihre Macht über das Internet behaupten – allein weil mit dessen weltweiter Ausbreitung ihre ohnedies einflussreiche liberale Wirtschafts- und Technologiepolitik zusätzlich an Einfluss gewann. Dies manifestierte sich etwa in dem um die Jahrtausendwende – nicht nur im nordatlantischen Raum – virulenten Diskurs über die „Informationsgesellschaft“ und den damit vermeintlich assoziierten Fortschritt durch Technologie und Deregulierung (van Audenhove et al. 2003). Auch die bis heute mit dem Silicon Valley verbundene Vorstellung, dass das freie und offene Internet automatisch zu mehr Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheitsrechten führen werde, übte auf Internetnutzer und Entscheidungsträger in vielen Ländern der Welt eine kaum hinterfragte Attraktivität aus (Khiabany 2003). So war anfangs der Wunsch, Teil des Netzwerkes zu sein, stärker als der Wunsch nach seiner Rekonfiguration. Zugleich etablierten China und andere Staaten bereits zu Beginn des neuen Jahrtausends alternative digitale Ordnungen und eigene technologisch-ökonomische Strukturen, die sich der US-amerikanischen Hegemonie entzogen. Aber auch in der Digitalwirtschaft entstanden neue Knotenpunkte im globalen Netzwerk in Form von international oder national operierenden Firmen außerhalb der USA, die wachsenden Einfluss auf das Nutzungs- und Kommunikationsverhalten ausübten. Dies führte zu einer Pluralisierung des Internets und in gewissem Maße auch bereits zu einer Dezentralisierung auf der Anwendungsebene.

3.3 Phase 3: Dezentralisierung sowie wirtschaftliche und politische Machtkonsolidierung

Auch in den 2010er-Jahren setzte sich die globale Ausbreitung des Internets fort.Footnote 13 Der Anteil derjenigen, die über mobile Geräte auf das Internet zugreifen, stieg insbesondere in den Entwicklungsländern rasant, wo der Mobilfunk bis heute das gängige Tor zum Internet darstellt. Neben der verstärkten mobilen Internetnutzung war die Entwicklung in den 2010er-Jahren von einem weiteren Megatrend geprägt: dem Wandel hin zum „Internet der Dinge“. Das Internet ermöglicht nun nicht mehr nur menschliche Interaktionen über maschinelle Infrastrukturen, sondern lässt Letztere auch autonom interagieren. Es wird erwartet, dass sich dieser Trend der immer stärkeren Vernetzung unserer menschlichen Umwelt weiter intensivieren und eine noch stärkere Pluralisierung und Dezentralisierung mit sich bringen wird.

Mit der Zunahme und Diversifizierung der Internetnutzung wuchs auch das Bewusstsein vieler Staaten, von den digitalen Infrastrukturen und ihren Anwendungen zunehmend abhängig zu sein. Nicht zuletzt aus diesem Grund nahmen seit den 2010er-Jahren die Konflikte um die zukünftige Gestalt des Internets an Schärfe zu. So spitzte sich 2012 der Streit um die Position von staatlicher Entscheidungs- und Handlungsmacht in der globalen Internet Governance im Rahmen der World Conference on International Telecommunications derart zu, dass Beobachter bereits von einem „digital cold war“ sprachen: Eine Reihe von Staaten, maßgeblich angeführt von Russland, versuchten ein weiteres Mal darauf hinzuwirken, der ITU die Verantwortung für die Verwaltung des Adresssystems des Internets zu übertragen (Kennedy 2013, S. 16; Musiani und Pohle 2014). Wie in der Vergangenheit gelang es den USA, diesen Vorstoß zu blockieren. Der Konflikt ist damit jedoch nicht beendet. So erklärten Putin und Xi am Rande der Eröffnung der olympischen Winterspiele 2022 ihre Absicht, die Zusammenarbeit bei Fragen der Digitalpolitik zu intensivieren, und forderten erneut eine „Internationalisierung“ der Internet Governance (TASS 2022) – zu verstehen im Sinne einer Stärkung staatlicher bzw. zwischenstaatlicher Kompetenzen.

Eine deutliche Verschärfung und Ausweitung erfuhr dieser Konflikt, als Edward Snowden im Sommer 2013 interne Dokumente der US-amerikanischen National Security Agency (NSA) öffentlich machte, aus denen hervorging, wie umfassend US-Behörden und Geheimdienste digitale Datenströme auswerten, um politische Gegner und Verbündete zu überwachen. Es zeigte sich, dass die US-Regierung die „Big Tech“-Konzerne dazu verpflichtete, ihre Gatekeeper-Funktion in bestimmten Teilnetzen auszunutzen, um Informationen über ihre Nutzer zur Verfügung zu stellen (Bauman et al. 2014).Footnote 14 So wurde erstmals für alle Welt sichtbar, dass die USA von ihrer digitalen Machtposition auch tatsächlich Gebrauch machenFootnote 15 – was jene Stimmen bestätigte, die schon zuvor die Kontrolle der USA über die globale Internetinfrastruktur problematisiert hatten. Es folgte ein Bewusstseinswandel: Selbst Staaten, die sich bis heute als Anhänger eines liberalen Multi-Stakeholder-Modells für die globale Internet Governance verstehen, kritisierten nun die US-Hegemonie und forderten alternative Ordnungen (Ni Loideain 2015).

Ein Zugeständnis der USA war in der Folge ein gewisser Rückzug bei der nominalen Kontrolle über die IANA und deren Aufgaben bezüglich des Internet-Adresssystems. In einem mehrjährigen Prozess wurde die Aufsicht über die IANA-Funktionen an eine neugeschaffene Multi-Stakeholder-Struktur innerhalb der ICANN übergeben (Hofmann 2016, S. 39). Damit wurde die von der US-Regierung bereits 1998 bei der Gründung von ICANN in Aussicht gestellte Übergabe der DNS-Verwaltung an den Privatsektor vollzogen und die Möglichkeiten der direkten Einflussnahmen durch die US-Regierung auf dem Papier verringert. Als kalifornisches Unternehmen untersteht ICANN jedoch der US-Jurisdiktion, sodass die USA auch weiterhin über eine außergewöhnliche Machtposition hinsichtlich des Adresssystems und damit des Internets insgesamt verfügen. Zugespitzt wurde dies deutlich, als die Trump-Administration 2018 öffentlich mit der Idee liebäugelte, die IANA wieder direkt der Kontrolle durch die Regierung zu unterstellen (McCarthy 2018): Zwar kam es nicht dazu, aber allein die reale Möglichkeit machte die latente Macht der US-Regierung für alle sichtbar. Wenig überraschend mehrte sich folglich in den letzten Jahren auch die Kritik unter Vertretern der Zivilgesellschaft und Wissenschaft, die im Multi-Stakeholder-Verfahren von ICANN eine Verfestigung bestehender Machtstrukturen zugunsten der Vereinigten Staaten und eine unzureichende Inklusion weiterer Perspektiven ausmachen (Carr 2015, S. 650 ff.; Milan und Hintz 2014).

Selbst angesichts des durch die Snowden-Enthüllungen ausgelösten Vertrauensverlusts gelang es den USA also, den Status Quo mit Blick auf die technische Verwaltung der globalen Internetinfrastruktur weitgehend zu verteidigen. Zugleich verlagerten sich in den letzten zehn Jahren eine Reihe von Staaten auf neue Strategien, um ihren digitalen Hoheitsanspruch mit verstärkter Vehemenz durchzusetzen. Sie wählten dabei einen Weg, der keine internationale Abstimmung voraussetzt, indem sie versuchten, die Kontrolle über „ihren“ Teil des Internets auszuweiten und diesen somit der staatlich-territorialen Logik unterzuordnen. Besonders umfassend sind hierbei die Bemühungen der Russischen Föderation. So machte die russische Regierung Ende 2019 ein Maßnahmenpaket öffentlich, das auf die Herstellung eines „souveränen Internets“ zielt. Im Rahmen der angekündigten Maßnahmen soll dabei die Kontrolle über die Internetinfrastruktur innerhalb des Landes so ausgebaut werden, dass sie im Krisenfall vom globalen Netz abgekoppelt werden könnte. Bis hinunter zum DNS, also der grundlegendsten Ebene der Internetinfrastruktur, versucht Russland so eine zentrale und souveräne Kontrollinstanz in „seinem“ Internet zu schaffen (Epifanova 2020; Soldatov 2019). Mit dem Angriff auf die Ukraine im Frühjahr 2022 hat die Regierung diese Aktivitäten noch einmal verstärkt, zumal die Sanktionen des Westens die Verletzlichkeit Russlands und die Abhängigkeit von US-Technologie in Schlüsselbereichen der digitalen Infrastruktur offenkundig gemacht haben. Das Putin-Regime nutzt diese Schwäche nun als Vorwand, sich weiter gegenüber Technologie aus dem Westen abzuschotten (Lakshmanan 2022).

Die chinesische Regierung hat das Ziel einer umfassenden Kontrolle des „eigenen“ Teilnetzes des Internets hingegen bereits erreicht. Ihre Ambitionen gehen jedoch mittlerweile darüber hinaus und zielen darauf ab, auch die globale Ordnung auf proaktive Weise neu zu gestalten. Digitale Technologien werden von der chinesischen Führung auch über die Landesgrenzen hinaus als Mittel gesehen, die eigene Macht nicht nur innerhalb von Teilnetzen, sondern über das globale Netz auszubauen. Der erklärte Anspruch ist es, zu einer „Cyber-Supermacht“ im globalen Maßstab aufzusteigen. Ähnlich wie in den USA besteht die dahinterliegende strategische Überlegung darin, die eigene politische und wirtschaftliche Vormachtstellung durch technologischen Vorsprung auszubauen (Schulze und Voelsen 2020).Footnote 16 Praktisch wirksam wird dies etwa in dem umfangreichen Bemühen um die Entwicklung und Verbreitung technischer Standards (Godehardt und Voelsen 2020; Rühlig 2020) sowie der Vielzahl von digitalen Infrastrukturprojekten in asiatischen und afrikanischen Ländern im Rahmen der „One Belt One Road“-Initiative (Eder et al. 2019). Auch an den Diskussionen über Fragen der digitalen Ordnung im Rahmen der UN ist China aktiv beteiligt. Zudem stellt das Land seit 2015 den Direktor der ITU. Bei den nächsten Wahlen für diesen Posten im Herbst 2022 stehen sich eine US-amerikanische Kandidatin und ein russischer Kandidat gegenüber.

Doch das Streben nach mehr Souveränität im Digitalen ist nicht auf autoritäre Staaten beschränkt. Unter dem Eindruck der Snowden-Enthüllungen versuchen auch liberale bzw. demokratische Staaten seit einigen Jahren, ihrem Anspruch auf digitaltechnologische Selbstbestimmung Geltung zu verschaffen. Auch dies sollte nicht überraschen, liegt es doch im Selbstverständnis liberaldemokratischer Staaten, nach selbst gesetzten Normen zu leben. Insbesondere in Brasilien, Indien und Europa – hier allen voran in Frankreich, Deutschland und auf Ebene der EU-Kommission – mehren sich seit 2013 die politischen Forderungen nach einer Stärkung der eigenen digitalen bzw. technologischen Souveränität, beispielsweise durch Wettbewerbsförderung und Kompetenzaufbau (Pohle und Thiel 2019, S. 73). Neben der Anwendungsebene betrifft das Streben nach digitaler Souveränität dabei auch in liberal geprägten Ländern die Ebene der Internetinfrastruktur, wenn auch in anderer Weise rechtsstaatlich eingehegt als in Russland oder China. So sehen Regelungen zur Datenlokalisierung in verschiedenen Ländern vor, dass bestimmte sensible Daten, die beispielsweise Gesundheit oder Finanzen betreffen, über nationale bzw. regionale Netzwerkverbindungen geleitet und nur in Datenzentren innerhalb der eigenen Grenzen gespeichert werden dürfen (Hill 2014; Panday und Malcolm 2018). Von US-Entscheidungsträgern oft als eine Form des „digitalen Protektionismus“ kritisiert (Hill 2014, S. 23), zielen viele dieser Initiativen und Regeln darauf ab, die Daten vor ungewolltem Zugriff aus dem Ausland zu schützen. Datenlokalisierung ist jedoch bei weitem nicht der einzige Bereich, in dem Regierungen durch gesetzliche Vorgaben versuchen, klare Regeln zu setzen und somit ihre digitale Selbstbestimmungs- und Handlungsfähigkeit zu stärken. Insbesondere die EU setzt in den letzten Jahren verstärkt auf Regulierung, um in Europa, aber auch weltweit, Standards zu etablieren und einheimischen sowie ausländischen Behörden und Unternehmen Grenzen zu setzen (Bradford 2020, S. 131 ff.). Weltweite Aufmerksamkeit kam etwa der 2018 in Kraft getretenen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) zu (Bendiek und Römer 2018). Einen ebenso großen Effekt auf die Digitalwirtschaft, insbesondere die Plattformwirtschaft, könnten zwei europäische Regulierungsvorhaben haben, die derzeit noch verhandelt werden: der Digital Services Act und der Digital Markets Act.

Während sich genau an dieser Vielzahl von aktuellen Initiativen, die auf die Regulierung der Internetinfrastruktur und ihrer Anwendungen in bestimmten Teilbereichen des Internets abzielen, die Debatte um die Fragmentierung des Internets entzündet, waren die 2010er-Jahre mit Blick auf die Entwicklungen in der Wirtschaft und der politischen Öffentlichkeit von erheblichen Konzentrationsprozessen begleitet, die zu einer starken Zentralisierung etlicher Teilnetzwerke geführt haben. In der immer stärker integrierten globalen Digitalwirtschaft, die oft als Plattform- oder Überwachungskapitalismus beschrieben wird (Srnicek 2017; Foster und McChesney 2014; Zuboff 2019), gelang es einigen Technologieunternehmen in besonderer Weise, sich die enormen Skalen- und Netzwerkeffekte des Internets und der globalen Märkte zunutze zu machen. Dies erlaubt ihnen, Einfluss auf die Struktur der Märkte selbst zu nehmen und auch die hier wirkenden Netzwerklogiken zu ihren Gunsten zu verändern. Insbesondere die GAFAM-Unternehmen gelten mittlerweile im Westen als technologisch wie wirtschaftlich uneinholbar. Die einzige echte Konkurrenz im globalen Maßstab sind derzeit Baidu, Alibaba und Tencent. Die Auseinandersetzungen ab 2018 um die Beteiligung der Firma Huawei beim Aufbau von 5G-Netzen zeigten öffentlich, für wie bedeutsam sowohl die US-amerikanische als auch die chinesische Regierung die technologiepolitische Führerschaft in diesem Feld halten (Voelsen 2019b).

Die wirtschaftliche Konzentration hat dabei auch Rückwirkungen auf die Strukturen des globalen Internets. Die großen Techkonzerne bemühen sich kontinuierlich darum, ihre zentrale Stellung im Netzwerk abzusichern. Zugespitzt zeigt sich dies darin, dass Firmen wie Alphabet, Amazon, Facebook und Microsoft aus den USA sowie Huawei aus China in erheblichem Maße in die Entwicklung von Standards (ten Oever 2021, S. 346) und den Aufbau eigener physischer Infrastrukturen investieren – von Rechenzentren (Lehr et al. 2019) bis hin zu Unterseekabeln (Mauldin 2017). Insbesondere bei den physischen Infrastrukturen ist eine verstärkte Aktivität auch von Firmen aus Asien und den BRICS-Staaten zu beobachten, wodurch sich hier eine weitere Pluralisierung der Machtverhältnisse im globalen Maßstab feststellen lässt (Winseck 2017, S. 262). Das Äquivalent auf Anwendungsebene sind Bemühungen, innerhalb des Internets Subsysteme in Form von Plattformen zu schaffen, die unhintergehbar, in sich geschlossen und damit vor Konkurrenz geschützt sind – von Betriebssystemen über soziale Netzwerke bis hin zu Handelsplätzen und App-Stores.

Die „Plattformisierung“ hat nicht nur Auswirkungen auf die Netzwerkkonfiguration der Digitalwirtschaft, sondern beeinflusst auch das Kommunikations- und Nutzungsverhalten sowie das Informationsangebot im Internet. Zwar haben die interaktiven Internetanwendungen des Web 2.0 der Hoffnung auf einen egalitären Zugang zur Öffentlichkeit neuen Aufschwung verliehen. Zugleich zeigt sich in den letzten Jahren aber immer stärker, dass es auch in diesen digitalen Öffentlichkeiten zu einer neuerlichen Machtkonzentration kommt. Denn auch die Bereitstellung der meisten medialen Angebote erfolgt über zentrale Plattformen wie Google, Facebook, Twitter etc. (Couldry und Turow 2014, S. 1716). Dies führt zu einer Konzentration der Kontrolle über die digitale Öffentlichkeit in der Hand weniger Konzerne, deren nahezu hegemoniale Position es ihnen erlaubt, Nutzerdaten umfassend zu sammeln und auszuwerten. Schon dies verleiht ihnen entscheidenden Einfluss auf die Strukturierung politischer Öffentlichkeiten (Habermas 2021; Staab und Thiel 2021). Neben großen US-Unternehmen wie Facebook und Alphabet haben in anderen Teilen der Welt chinesische Plattformen wie WeChat oder das ursprünglich in Russland entstandene und nun von Dubai aus betriebene Telegram eine zentrale Stellung eingenommen. Sie agieren als Intermediäre, die als Gatekeeper durch ihre Algorithmen und Terms of Services bestimmen, welche Inhalte für welche Nutzer auffindbar, sichtbar und wahrnehmbar sind. Die Regeln, wie und unter welchen Bedingungen Nutzer sich über diese zentralen Plattformen austauschen können, werden also durch die Betreiber selbst gesetzt. Wünsche der Nutzer oder Vorgaben bestimmter Staaten werden meist nur infolge großen öffentlichen Drucks berücksichtigt (Katzenbach 2021).

Auch in westlich-liberalen Ländern wird der Journalismus davon massiv gefährdet, denn die Regeln der Intermediäre definieren die Priorisierung und Sichtbarkeit medialer Inhalte. Werbetreibende müssen hier nicht länger darauf hoffen, dass ihre Zielgruppen die Werbung während des Nachrichtenkonsums wahrnehmen, sondern können sie unabhängig davon zu jeder Zeit an jedem Ort gezielt anvisieren (Foster und McChesney 2014, S. 20). Zudem wird oft kritisiert, dass die Konzentration des Informations- und Kommunikationsflusses auf marktdominierenden Plattformen zunehmend zu einer Polarisierung der digitalen Öffentlichkeit führt. Der Grund dafür wird in den ihnen zugrundeliegenden Geschäftsmodellen gesehen (Christl und Spiekermann 2016), die der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie folgen: Inhalte, die impulsive Reaktionen provozieren, werden gegenüber solchen privilegiert, die intentionale, reflektierte Reaktionen hervorrufen (Williams 2018, S. 17 ff.). Spätestens seit den Polarisierungen im Vorfeld des Brexit-Referendums 2016 sowie der Wahlen der letzten Jahre in den USA, Indien und Brasilien ist ein gewisser Druck auf politische Entscheidungsträger entstanden, digitale Öffentlichkeiten – und damit vor allem die Plattformen, die diese ermöglichen – verstärkt zu regulieren. Während viele Länder dabei auf eine freiwillige Selbstregulierung der Plattformanbieter setzen, lässt sich gerade auch in demokratischen Ländern die Tendenz beobachten, dass Regierungen durch Gesetze stärker in das Kommunikationsverhalten der Internetnutzer in „ihrem“ Teilnetz eingreifen und damit auch ihre eigene Machtposition innerhalb dieser Netze ausbauen bzw. ausnutzen. Das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist dabei nur eines von vielen prominenten Beispielen.

Zusammenfassend lassen sich aus Sicht der Netzwerktheorie für die Phase ab 2010 zwei Tendenzen festhalten: Eine Pluralisierung des globalen Internets ermöglichte das Entstehen mehrerer Netzwerkteile, die jeweils von einzelnen Staaten oder Unternehmen dominiert werden. Gleichzeitig erlaubt gerade diese dezentrale Entwicklung auf globaler Ebene die stärkere Zentralisierung von Macht auf nationaler und regionaler Ebene. Diese Entwicklungen – Pluralisierung und Dezentralisierung des Netzwerkes auf der einen Seite und Zentralisierung auf der anderen – fanden dabei unter verschiedenen politischen Vorzeichen statt, die oftmals auf den „neuen Systemkonflikt“ zwischen den USA und China zugespitzt werden. Dass eine Vielzahl weiterer Länder, von liberalen Demokratien wie Frankreich und Deutschland bis hin zu autoritären Staaten wie Russland, Iran oder Kambodscha, nach mehr Souveränität im Digitalen streben und durch Regulierung zu einer immer stärkeren Diversität des Regelwerks für das globale Internet beitragen, wird bei der Fokussierung auf diesen Konflikt nicht selten ausgeblendet. Auch diese Länder versuchen, die Netzwerklogik ihrer Teilnetze zu ihren Gunsten und nach ihren politischen Zielen und Traditionen zu verändern und tragen damit bewusst oder unbewusst zur Rekonfiguration des globalen Internets bei. Denn während ihre Bemühungen die Entstehung neuer zentraler Kontrollpunkte innerhalb dieser Teilnetze zur Folge haben, führt die Diversifizierung der Macht auf globaler Ebene zu einer dezentraleren Netzstruktur des Internets als Ganzes.

4 Die Vielstimmigkeit der Fragmentierungsdebatte

Aufgrund der zunehmenden Pluralisierung der globalen digitalen Ordnung und der Zentralisierung von Teilnetzen warnen seit einigen Jahren verschiedene Akteure vor einer „Fragmentierung“ des globalen Internets. Obgleich stark variiert, was genau darunter verstanden wird, beschreibt der Begriff allgemein die Sorge vor einem Auseinanderbrechen des globalen Netzwerkes in distinkte Teilnetzwerke, die im schlimmsten Fall untereinander nicht mehr kompatibel sind und es somit nicht mehr erlauben, digitale Datenströme auszutauschen (Drake et al. 2016, S. 7). Die Sorge, dass das Internet in separate nationale Segmente zerfallen könnte, deren virtuelle Grenzen sich an geographischen Räumen orientieren, wird auch oft mit dem Begriff der „splinternets“ zugespitzt. Auffallend – wenn auch wenig überraschend – ist dabei, dass diese Sorgen besonders dringlich von Akteuren vorgebracht werden, die als Verteidiger der liberalen digitalen Ordnung unter US-amerikanischer Ägide gelten können. Die Brisanz der Debatte um deren Fragmentierung zeugt insofern auch davon, dass das wirkmächtige kosmopolitische Ideal eines weltweit geeinten Internets vorläufig gescheitert ist.

Ähnlich wie im Kontext der Multi-Stakeholder-Governance kommen in der Fragmentierungsdebatte unterschiedliche Stimmen aus Regierungen, Unternehmen, wie auch Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammen. Auch wenn nicht wenige liberale Regierungen im Rahmen ihrer Bemühungen um mehr digitale Souveränität selbst einen Beitrag zur Pluralisierung der globalen digitalen Ordnung leisten, scheint gerade bei ihnen die Sorge um digitale Fragmentierung zunehmend verbreitet. Diese Sorge wurde während der Trump-Administration akut, deren Passivität faktisch einem Ausfall des zentralen Akteurs der globalen Internet Governance gleichkam. Die Biden-Administration versucht nun, die US-Regierung erneut als Leitinstanz der liberalen digitalen Ordnung zu profilieren, insbesondere durch das proaktive Werben um Allianzen, wie zum Beispiel im Rahmen des transatlantischen Trade and Technology Council (TTC) oder der „Declaration for the Future of the Internet“ (European Commission 2022a, 2022c). Ein Leitmotiv des Handelns der US-Regierung und ihrer Verbündeten ist dabei stets, dass das globale und offene Internet erhalten werden soll – eine Haltung, die die zentrale Rolle weniger Akteure in einer solchen Netzwerkkonfiguration nach wie vor ausblendet. Ungelöst bleibt zudem die Spannung zwischen diesem Ziel einerseits und der ebenfalls von der USA bewusst forcierten Konfrontation mit China im High-Tech-Bereich wie auch dem Streben vieler westlicher Staaten nach mehr digitaler Souveränität andererseits.

Mit der Sorge um ein Auseinanderbrechen der digitalen Infrastruktur bzw. einer damit einhergehenden grundlegenden Neukonfiguration der globalen digitalen Ordnung stehen westliche Regierungen nicht alleine da: Auch einige der einflussreichsten Technologieunternehmen bringen sie zum Ausdruck. Hier zeigt sich, dass zumindest in einigen Fällen der libertäre Idealismus der 1990er-Jahre in den Chefetagen der Firmen nachwirkt, zumal dieser ihnen zu wirtschaftlichem Aufschwung und einer sehr zentralen Vormachtstellung innerhalb des globalen Internets verholfen hat. Daneben gibt es aber auch eine Vielzahl von Akteuren aus der Digitalwirtschaft, die sich pragmatisch mit den Veränderungen der globalen digitalen Ordnung arrangieren und nach Wegen suchen, ihr Handeln so zu gestalten, dass Friktionen mit den Souveränitätsansprüchen der Staaten minimiert werden können (Bremmer 2021). Indem sie sich an die politischen und regulativen Bedingungen in verschiedenen nationalen oder regionalen Märkten anpassen, leisten sie damit selbst einen Beitrag zu einer Diversifizierung der digitalen Ordnungen, die für einzelne Teilnetzwerke gelten. Die lautesten Warnungen kommen jedoch wohl von Stimmen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft (Drake et al. 2016; Hill 2012; Malcomson 2016; Mueller 2017; Epifanova 2020). Da der normative Rahmen auch hier durch das Ideal eines globalen und freien Internets gesetzt wird, wertet man dessen mögliche Fragmentierung zumeist explizit politisch als Verlust von Freiheitsräumen.

Es gehört zur Komplexität der Fragmentierungsdebatte, dass sich die Kritik nicht nur an autoritäre Regime richtet, sondern eben auch an liberale Regierungen sowie die US-Techkonzerne. Denn aus dieser Sicht sind auch die Souveränitätsbestrebungen demokratischer Staaten und die „walled gardens“ der großen Plattformunternehmen ein Teil des Problems, weil sie immer weiter von der Idee dezentraler und offener Netzwerkstrukturen wegführen. Zudem ist die von westlichen Wissenschaftlern und Akteuren der Zivilgesellschaft geäußerte Kritik anschlussfähig für Warnungen vor einem neuen „digitalen Kolonialismus“. Gemeint ist damit die Verfestigung und gar Verstärkung bestehender wirtschaftlicher Ungleichheiten in der digitalisierten Weltwirtschaft und die Dominanz westlicher Techunternehmen im Globalen Süden (Kwet 2019; Mann und Daly 2019). Gerade im Hinblick auf die Sorge vor Abhängigkeiten und vor dem Verlust der eigenen Souveränität, die sich in den Warnungen vor dieser neuen Form des Kolonialismus ausdrückt, entfaltet das US-geprägte Idealbild eines egalitären, global geeinten Internets, das es zu beschützen gilt, sehr wenig Überzeugungskraft.

Die Vielstimmigkeit und – in gewissem Maße – Widersprüchlichkeit der Debatte um Brüche und Ungleichheiten in der globalen digitalen Ordnung spiegelt sich nicht zuletzt in der ganz grundlegenden Frage wider, wie der Begriff „Fragmentierung“ zu verstehen ist. Einen vielbeachteten konzeptionellen Vorschlag dazu haben Drake et al. (2016) vorgelegt, die zwischen drei Formen differenzieren: einer technischen Fragmentierung auf der Ebene der Internetinfrastruktur (z. B. aufgrund der Nutzung unterschiedlicher Protokolle), einer staatlich getriebenen Fragmentierung durch gesetzliche Vorgaben und andere Eingriffe (z. B. das Blockieren oder Filtern bestimmter digitaler Inhalte oder Anwendungen) sowie einer kommerziellen Fragmentierung (z. B. aufgrund von Geoblocking oder „walled gardens“). Doch obgleich ein solch differenziertes Verständnis einen Großteil der unterschiedlichen Perspektiven der Debatte verbinden kann, stellt sich die Frage, wo genau die Grenze zwischen Pluralisierung und Fragmentierung zu ziehen ist. Denn das ursprüngliche Ideal des Internets als Netzwerk der Netze sieht ja gerade vor, dass sich auf Basis eines gemeinsamen Fundaments Teilsysteme sehr unterschiedlicher Art herausbilden können. Die Gegenposition hierzu lautet dementsprechend, dass die von Drake et al. (2016) beschriebenen Tendenzen zwar allesamt aus liberal-kosmopolitischer Sicht problematisch, die Warnungen vor einer Fragmentierung des Internets in technischer, regulativer oder wirtschaftlicher Hinsicht aber dennoch überzogen seien (Mueller 2017).

Ein Strang der Debatte um die Fragmentierung des Internets bzw. der globalen digitalen Ordnung hat sich vor diesem Hintergrund dahingehend entwickelt, Fragmentierung bewusst eng und allein bezogen auf die technischen Grundlagen des globalen Netzes zu definieren (Voelsen 2019a). Gemeint sind damit Kerninfrastrukturen wie das DNS und die physischen Verbindungswege. Die Sorge um diese Infrastrukturen drückt sich etwa prominent in den Diskussionen um den Schutz des „public core of the Internet“ aus (GCSC 2017). Brisanz hat dieser Blick auf die Debatte im Frühjahr 2022 erfahren, als in Reaktion auf Russlands Angriff auf die Ukraine Vertreter der ukrainischen Regierung ICANN aufforderten, Russlands Top-Level-Domain „.ru“ aus dem globalen DNS auszuschließen, also auf Ebene der grundlegenden Protokolle jenen Teil des Internets abzukoppeln, der über „.ru“-Domains läuft. ICANN kam dieser Forderung nicht nach – zumindest für einen Moment wurde aber sichtbar, dass eine Fragmentierung auch auf der fundamentalsten Ebene der Internetinfrastruktur möglich ist und von einigen Akteuren durchaus erwünscht sein kann.

5 Fazit und Ausblick

Die netzwerktheoretisch grundierte historische Rekonstruktion der Konflikte um die Konfiguration des Internet ermöglicht einen spezifischen Blick auf die Debatte um dessen Fragmentierung. Dieser Blick zeigt, dass die globale digitale Ordnung stets durch eine Dynamik aus Prozessen der Zentralisierung und Dezentralisierung geprägt war, an denen politische, ökonomische und zivilgesellschaftliche Akteure auf unterschiedliche Weise beteiligt waren. War die frühe Geschichte der Internet Governance nahezu exklusiv durch die US-Regierung geprägt, so stehen dieser heute weitere Staaten und ungleich einflussreichere Unternehmen als autonome Akteure gegenüber. Diese diverse und dezentralisierte Akteurslandschaft spiegelt sich auch darin wider, dass nunmehr unterschiedliche politische Vorstellungen von der Ausgestaltung der globalen digitalen Ordnung in Konfrontation geraten, die von den Akteuren in „ihren“ Teilnetzen zur Anwendung gebracht werden.

Gerade mit Blick auf diese Teilnetze lässt sich zugleich die Tendenz einer jeweils immer stärkeren Zentralisierung beobachten. Wenngleich unter unterschiedlichen politischen Vorzeichen, versuchen derzeit sowohl autoritäre Regierungen als auch liberale Staaten und „Big Tech“-Unternehmen, die Kontrolle über bestimmte Teilsysteme des Internets auszuweiten, indem sie in „ihren“ Teilnetzwerken zentrale Positionen strategisch besetzen. Diese Zentralisierung von Macht in Teilnetzen bringt die Gefahr des politischen Missbrauchs nicht nur mit sich, sondern wird etwa im Falle Chinas und Russlands von politischen Instrumentalisierungsabsichten ausschlaggebend motiviert. Doch auch das Streben der Europäischen Kommission nach „digital strategic autonomy“ ist unmissverständlich motiviert durch die kompetitive Verfolgung geopolitischer Eigeninteressen, die sich durchaus manifest etwa von jenen der US-Regierung unterscheiden.Footnote 17

Bereits heute ist somit zu beobachten, dass die Konzentration von Macht in Teilnetzen auch die Strukturen des globalen Internets verändert und zunehmend eine Rekonfiguration der globalen digitalen Ordnung bewirkt. Denn auch auf globaler Ebene nehmen Akteure, die bereits bestimmte Teilnetze infrastrukturell kontrollieren, eine immer zentralere Stellung ein. Ihre lokal privilegierte Position erlaubt es ihnen, die globalen Strukturen der digitalen Ordnung gewissermaßen „von unten“ zu verändern – was dazu führt, dass die Topologie des globalen Netzes immer stärker durch distinkte Teilnetze geprägt ist. Gleichzeitig hat die Rekonfiguration aber auch eine explizit politische Komponente: In einer Welt, in der die Mehrzahl von Staaten nicht nach demokratischen Prinzipien verfasst ist, geht die Ausweitung von Souveränitätsansprüchen mit der Ausbreitung autoritärer Ordnungspolitiken einher. Das oben skizzierte ursprüngliche Projekt eines liberalen bis libertären Internets wird dadurch herausgefordert. An die Stelle eines Ordnungsmodells tritt zunehmend die Konkurrenz mehrerer unterschiedlicher Ordnungsmodelle.

Wie die historische Rekonstruktion gezeigt hat, lässt die Entwicklung auf eine generell stärker autoritär geprägte Rekonfiguration schließen. Doch dafür sind nicht nur die Regierungen in Peking und Moskau verantwortlich: Indem liberale Staaten und Unternehmen versuchen, ihre Macht innerhalb von Netzwerken zu institutionalisieren, tragen sie gewissermaßen unbewusst und ungewollt auch dazu bei, zentralisierte Netzwerkstrukturen zu etablieren, die den Bedürfnissen autoritärer Regierungen besonders entsprechen. Diese Entwicklungen kulminieren derzeit in einem Trend zur Schaffung einer globalen digitalen Ordnung, die autoritärer ist als in der Vergangenenheit. Diese Rekonfiguration kann durchaus dazu führen, dass das Internet als gemeinsamer Bezugspunkt aller Nutzer sehr weitgehend verloren geht. Die Idee eines einheitlichen Netzes, auf das weltweit auf ähnliche Art und Weise zugegriffen werden kann, ist heute weniger haltbar denn je. Viele Nutzer nehmen „das Netz“ zunehmend nur noch aus der Binnenperspektive eines (nationalen) Teilnetzes, oder vielleicht einer Kombination von Teilnetzen, wahr. So sind in China viele westliche Internetanwendungen verboten, dafür aber nimmt die Plattform WeChat eine zentrale Rolle für das Wirtschafts- wie Privatleben von Chinesen auch jenseits der Volksrepublik ein. Die Tatsache, dass TCP/IP-Protokolle in beiden Fällen noch die gemeinsame Grundlage bilden, ändert nichts daran, dass sich die konkrete Wahrnehmung und Nutzung des Internets in China bereits heute stark von anderen Ländern oder Regionen unterscheidet.

Dass diese Entwicklungen von den Verfechtern des liberal-kosmopolitischen Ideals eines globalen Internets als „Fragmentierung“ wahrgenommen werden, ist nicht überraschend. Dieser Deutungshorizont erst erklärt, warum die Debatte besonders im Westen eine besondere Brisanz besitzt: Aus Sicht seiner Vertreter war das Internet seit jeher eine zwar US-amerikanisch geprägte, doch gleichwohl offen-horizontal organisierte globale Einheit, die nun aufbricht. Indizien der Fragmentierung werden daher zugleich als solche des Scheiterns des Idealbildes des Internets und der damit verknüpften liberal-kosmopolitischen Werteordnung gedeutet. Bewusst oder unbewusst blenden Nostalgiker der „alten Ordnung“ dabei aus, dass das globale „Netz der Netze“ niemals ein homogenes großes Ganzes war. Was als Fragmentierung gedeutet wird, stellt sich aus Perspektive der Netzwerktheorie zumindest teilweise als weit weniger disruptive Rekonfiguration eines auf Anwendungsebene ohnedies kulturell stark differenzierten Netzwerkes dar. Umgekehrt ist die seit den 1990er-Jahren bestehende technisch-infrastrukturelle Einheit der Codes und Standards zumindest bisher kaum effektiv infrage gestellt worden, aller beschriebenen Autarkiebestrebungen zum Trotz. Eine Fragmentierung in dieser Hinsicht ist wohl auch vorerst kaum im Sinne derjenigen, die zentrale Machtpositionen in Teilnetzen besetzen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass fast alle beteiligten Akteure auch weiterhin ein Interesse daran haben, technische Fundamente und Standards des globalen Internets bis zu einem gewissen Grad zu erhalten. Praktisch gesprochen ist es für Staaten und Unternehmen attraktiver, das wirtschaftliche Potenzial globaler Vernetzung zu nutzen, insofern sie zugleich kontrollieren können, wie und zu welchen Bedingungen sich „ihre“ Teilsysteme des Internets mit dem Rest des Netzwerkes verbinden.

Eine zukünftige Fragmentierung auch auf dieser Ebene ist damit jedoch keineswegs völlig ausgeschlossen: Gerade angesichts der aktuellen geopolitischen Entwicklungen besteht durchaus die Gefahr, dass das gemeinsame technische Fundament des Internets auf Dauer erodiert. Viele der technischen Standards und Protokolle wurden in der Frühzeit des Internets entwickelt, sind somit mittlerweile Jahrzehnte alt und in Ermangelung einer zentralen Autorität kaum adaptierbar. Versteht man sie als öffentliches globales Gut (Voelsen 2019a; Menzel 2021), so braucht es Akteure, die bereit sind, die Kosten und den Aufwand für die Bereitstellung auf sich zu nehmen. Die Amtszeit Trumps hat deutlich vor Augen geführt, dass die Bereitschaft der USA in dieser Hinsicht keineswegs als gesichert gelten kann. Viele andere westliche Staaten scheinen sich jedoch daran gewöhnt zu haben, hier keine eigenen Leistungen erbringen zu müssen. In Teilen schickt sich China an, diese Lücke zu füllen, indem es proaktiv neue technische Standards entwickelt (Hoffmann et al. 2020). Und in dem Maße, in dem China sich hier engagiert, wird auch andernorts erneut deutlich, welch eminent politische Bedeutung sich in „bloß“ technischen Standards verbirgt. Selbst wenn die USA und China die entsprechenden globalen Güter in Zukunft weiter anbieten, ist nicht gesichert, welche Staaten und Unternehmen sie nutzen werden. Die Zentralisierung der Macht in den Teilnetzen kann dann zur Gefahr werden, wenn deren „Provider“ ihre Macht als Gatekeeper nutzen, um die Fortentwicklung des globalen Netzes zu blockieren. So zeigt sich die Gefahr einer Fragmentierung nicht in der Form eines schockartigen Bruchs, sondern vielmehr als schleichende Erosion.

Das Internet, wie wir es in den letzten Jahrzehnten kannten, war immer kontingent: Es wurde geprägt von den Entscheidungen derer, die es entwickelten, nutzten, koordinierten und regulierten. Für die Zukunft der globalen digitalen Ordnung wird entscheidend sein, welche Anziehungskraft das kosmopolitische Ideal behält, wenn es sich nicht mehr auf die hegemoniale Machtposition der USA stützen kann. Auch ohne die Annahme einer fundamentalen Fragmentierung ist der Wandel der globalen digitalen Ordnung somit wohl Bestandteil eines weiterreichenden Prozesses der Deglobalisierung.