State-of-the-Art

Warum Telemedizin im Bereich Epileptologie?

Epilepsien und andere anfallsartige Erkrankungen machen einen relevanten Anteil von Patientenvorstellungen sowohl im ambulanten als auch im stationären Sektor aus. Die Lebenszeitprävalenz von Epilepsien wird mit 0,5–1,2 % angegeben [20], die der häufigsten Differenzialdiagnosen mit 15–23 % für Synkopen [9] bzw. 0,002–0,05 % für psychogene nichtepileptische Anfälle (PNEA) [3, 11]. Trotz dieser Häufigkeit ergeben sich hinsichtlich der Diagnose oder Therapie anfallsartig verlaufender Erkrankungen immer wieder Schwierigkeiten. Angesichts überlappender Symptome von epileptischen Anfällen, PNEA und Synkopen sind Fehldiagnosen häufig [22]. Sowohl falsch positive als auch falsch negative Diagnosen haben weitreichende individuelle, aber auch gesundheitsökonomische Folgen (z. B. inadäquate Therapie, Mobilitätseinschränkungen, Verlust des Arbeitsplatzes) [10]. Die wichtigsten apparativen Zusatzuntersuchungen Magnetresonanztomographie (MRT) und Elektroenzephalographie (EEG) liefern mitunter Befunde, die die differenzialdiagnostische Frage nicht beantworten [2, 16].

Um den dargestellten Herausforderungen zu begegnen, bedarf es der Kompetenz von neurologischen oder pädiatrischen FachärztInnen mit Expertise in der Epilepsiebehandlung. Diese Expertise besteht in Epilepsiezentren, Epilepsieambulanzen und Epilepsieschwerpunktpraxen, welche von der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie (DGfE) zertifiziert sind und über Erfahrung und eine besondere Ausstattung zur ambulanten und stationären Versorgung von Menschen mit Epilepsien und verwandten Erkrankungen verfügen [7]. Die Zahl solch spezialisierter Zentren ist jedoch zu gering für eine flächendeckende, heimatnahe Versorgung. Die Telemedizin bietet eine große Chance, die Versorgung von Menschen mit Epilepsie zu verbessern, da sie ermöglicht, medizinische Leistung über Distanzen hinweg zu erbringen [1].

Telemedizinische „Arzt-zu-Arzt“-Anwendungen können zum einen räumliche Distanz zwischen nicht spezialisierten niedergelassenen oder im Krankenhaus tätigen NeurologInnen und einem Epilepsiezentrum im Rahmen telemedizinischer Konsile überwinden, zum anderen können sie einen zeitlichen Versatz überbrücken, bis eine persönliche Vorstellung in einem Epilepsiezentrum möglich ist. Darüber hinaus können sie den fachlichen Austausch von Epilepsiezentren vereinfachen, z. B. bei der Bearbeitung hochspezifischer Fragestellungen wie der genetischen Diagnostik.

Aktuelle Lösungsansätze

National haben sich mehrere Lösungsansätze herausgebildet. In allen Projekten geht es um einen fachlichen Austausch zwischen Ärzten hinsichtlich Epilepsien und anderen anfallsartigen Erkrankungen. Folgende Modalitäten von Arzt-zu-Arzt-Anwendungen werden in den Projekten abgebildet:

  • nichtneurologische Klinik ↔ Epilepsiezentrum,

  • nicht auf Epilepsie spezialisierte neurologische Klinik ↔ Epilepsiezentrum,

  • niedergelassener Neurologe ↔ Epilepsiezentrum,

  • Austausch zwischen Epilepsiezentren national bzw. international insbesondere hinsichtlich prächirurgischer Epilepsiediagnostik und Epilepsiechirurgie.

Mehr dazu im Folgeartikel „Telemedizin in der Epilepsieversorgung: Arzt-zu-Arzt-Anwendungen, Teil II: Aktuelle Projekte in Deutschland“ im gleichen Heft [17].

In der Literatur finden sich vereinzelt internationale telemedizinische Projekte zu Arzt-zu-Arzt-Anwendungen in der Epileptologie. Ein früher Projektversuch eines EEG-Telekonsilsystems erfolgte bereits in den 1990er-Jahren in Finnland [15]. Weitere Projekte existier(t)en z. B. in La Rioja, Spanien, wo zwischen nicht spezialisierten und spezialisierten Zentren EEG-Daten ausgetauscht wurden [5], sowie im Rahmen eines vorübergehendes Projektes in Irland [4] und, bedingt durch einen lokalen Fachkräftemangel, im Vereinigten Königreich (UK) [6]. Eine 2016 veröffentlichte Studie fand in Frankreich diverse aus lokalem Engagement hervorgegangene Tele-EEG-Netzwerke v. a. in der Neuropädiatrie, die jedoch überwiegend unterfinanziert und ohne zentrale Unterstützung arbeiteten [14]. Insgesamt entspricht der internationale State-of-the-Art somit im Wesentlichen dem Entwicklungsstand deutscher Teleepileptologieprojekte.

Herausforderungen in der praktischen Umsetzung

In der klinischen Praxis stehen telemedizinische Anwendungen vor einigen Hürden, die sich teils durch ihre Neuartigkeit, teils durch ihre inhaltliche Bandbreite ergeben. Herausforderungen finden sich auf organisatorischer, technischer, rechtlicher und ökonomischer Ebene [19]. Nicht zuletzt spielt die notwendige Akzeptanz des distanzierten Ablaufes einer telemedizinischen Beratung eine wichtige Rolle.

Welche Daten müssen im Bereich Epileptologie transferiert werden?

Auf der Ebene der Arzt-zu-Arzt-Anwendungen kann der Umfang der notwendigen Daten stark differieren. Im einfachsten Fall genügt eine reine, nicht speziell adaptierte (Video‑)Telefonie, z. B. bei einer anlassbezogenen kurzen Beratung. Im Falle einer umfangreicheren, asynchronen Konsilberatung müssen alle relevanten Daten des Konsilpatienten übertragen werden können. Dazu gehören neben schriftlichen Befunden auch neurophysiologische Daten (EEG, EEG-Video), bildgebende Daten (zerebrales Computertomogramm [CT], zerebrales MRT, zerebrale Postionenemissionstomographie[PET]-CT) und ggf. weitere Modalitäten wie Anfallsvideos von Patienten. Diese Daten müssen vom Konsilbeantwortenden in einem geeigneten Rahmen (Bildbefundungskonsole, EEG-Lesesoftware und Telemedizinsystem nach den Vorgaben der DGKN [8, 18]) befundet werden können, was die Komplexität der Systeme gegenüber einer Videotelefonielösung deutlich erhöht. In jedem Fall muss für die Speicherung und Sicherung der übertragenen Daten u. a. nach der EU-Datenschutzgrundverordnung, aber auch nach medizinrechtlichen Grundlagen Sorge getragen werden.

Finanzierung/Erstattung der Telemedizin

Kosten für Telemedizin entstehen durch die Anschaffung bzw. Programmierung von Soft- und ggf. Hardware, für Serverkapazitäten und Datentransfer und nicht zuletzt durch die Erstattung ärztlicher Leistungen. Aktuell befinden sich nahezu alle in Deutschland laufenden Arzt-zu-Arzt-Anwendungen im Bereich der Epileptologie noch in der Projektphase (Übersicht im Folgeartikel „Telemedizin in der Epilepsieversorgung: Arzt-zu-Arzt-Anwendungen, Teil II: Aktuelle Projekte in Deutschland“ im gleichen Heft [17]). Für die Anschaffung bzw. Programmierung von Soft- und ggf. Hardware werden im Rahmen von Projekten meist Drittmittel (Zuwendungen von Ministerien oder Stiftungen) verwendet. Die Kosten für Serverkapazitäten und Datentransfer werden im Rahmen der Projektphase von den IT-Abteilungen der Krankenhäuser übernommen. Noch unklar ist für die meisten Projekte die Übernahme in die Regelversorgung nach Abschluss der extern geförderten Phase.

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat für die Vergütung von intrasektoral vertragsärztlichen und sektorenübergreifenden (Vertragsärzte mit Krankenhäusern) Telekonsilien seit dem 01.10.20 neue Regelungen getroffen [12]. Hier werden sowohl die Einholung eines Telekonsils als auch die Beantwortung des Telekonsils vergütet. Für die intrasektorale Vergütung von Telekonsilen zwischen Krankenhäusern gibt es bisher keine generelle Regelung innerhalb der Regelversorgung. Perspektivisch soll dies aber ermöglicht werden, beispielhaft sei hier das „Virtuelle Krankenhaus“ des Landes Nordrhein-Westfalen genannt, welches ein sektorenübergreifendes telemedizinisches Netzwerk als Bestandteil der Regelversorgung schaffen soll [21]. Als Zwischenlösung könnten Individualvereinbarungen zwischen Krankenhäusern fungieren, wie sie bereits für die Vergütung externer Konsile vorliegen.

Perspektiven

Für telemedizinische Arzt-zu-Arzt-Anwendungen in der Epilepsieversorgung konnten mehrere Projekte zeigen, dass technische Lösungen möglich sind und damit die Herausforderung auf technischer Ebene zu stemmen ist. Die bisherigen Ergebnisse zeigen eine hohe Anwender- und Patientenzufriedenheit (siehe Folgeartikel „Telemedizin in der Epilepsieversorgung: Arzt-zu-Arzt-Anwendungen, Teil II: Aktuelle Projekte in Deutschland“ im gleichen Heft [17]). Daher spricht inhaltlich vieles dafür, die geschaffenen neuen Netzwerkstrukturen weiter zu pflegen und die Projekte in die Regelversorgung zu übernehmen. Allerdings liegen bisher noch keine abschließenden Evaluationen zur Auswirkung auf die Versorgung von Epilepsiepatienten vor, sodass es aktuell noch schwierig sein wird, eine generelle Übernahme in die Regelversorgung zu begründen. Der gesetzliche Rahmen deutet aber klar in Richtung weiterer Digitalisierung im Gesundheitswesen. So ist das Krankenhauszukunftsgesetz, welches am 29.10.2020 in Kraft getreten ist, die treibende Kraft für eine weitere Digitalisierung der Krankenhäuser und stellt hierfür auch weitere Fördermittel unter anderem für die Einführung oder Verbesserung der Telemedizin bereit [13]. Entsprechende Kommissionen der zuständigen Fachgesellschaften (Kommission Digitale Neurologie und Telemedizin der Deutschen Gesellschaft für Neurologie [DGN], Teleneurologie-Kommission der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung [DGKN]) können mit klaren Positionen die Telemedizin ebenfalls voranbringen. Letztendlich bedarf es der Entwicklung eines Betriebsmodelles, bei dem alle Akteure (Konsilgeber, Konsilanforderer, Patient, Krankenkasse, Betreiber der telemedizinischen Plattform und ggf. auch die jeweilige Fachgesellschaft) die jeweils spezifischen Nutzen und Risiken abwägen.

Fazit für die Praxis

  • Telemedizinische „Arzt-zu-Arzt“-Anwendungen können einen flächendeckenden Zugang zu epileptologischem Fachwissen ermöglichen.

  • Für die Beantwortung epileptologischer Fragestellungen bedarf es neben der Übermittlung von klinischen Befunden auch der Übermittlung neurophysiologischer und bildgebender Daten sowie ggf. weiterer Modalitäten wie Anfallsvideos.

  • Für die intrasektorale Vergütung von Telekonsilen zwischen Krankenhäusern gibt es bisher keine generelle Regelung innerhalb der Regelversorgung. Diese sollten zeitnah geschaffen werden.

  • Klare Positionen der Fachgesellschaften und die Entwicklung refinanzierbarer Betriebsmodelle können telemedizinische Anwendungen in der Epilepsieversorgung voranbringen.