Hintergrund und Fragestellung

Der Massenanfall (MAN)Footnote 1 stellt die Leistungserbringer des Rettungsdiensts vor Herausforderungen. Definiert als ein „Notfall, mit einer großen Anzahl von Verletzten oder Erkrankten sowie anderen Geschädigten oder Betroffenen“ [21] folgen aus der Feststellung eines MAN mehrere einsatztaktische Entscheidungen. Dabei stellt der Massenanfall von Verletzten (MANV) keinen häufigen [7, 45, 52], aber einen für die Öffentlichkeit beispielweise bei Terroranschlägen [30, 39, 50, 59, 60, 63] und die Patienten und Betroffenen [51] sehr relevanten Einsatzfall dar.

Zur Beurteilung der Qualität des MANV-Einsatzes ist grundsätzlich die Konzeptebene von der Patientenebene zu unterscheiden [11]. Dabei gilt es, „den richtigen [Patienten] nach den richtigen Erstmaßnahmen zur richtigen Zeit mit dem richtigen Transportmittel in die richtige Zielklinik zu bringen“ [38]. Die schnelle Versorgung des einzelnen Patienten wird für die Versorgung von kritisch Verletzten oder Erkrankten als Qualitätsindikator in der Notfallmedizin herangezogen [19]. Im Bereich von MANV-Lagen und Großschadensereignissen liegt jedoch das Ziel in der Rettung des Kollektivs und nicht des Individuums [37]. Der Faktor Zeit bleibt dennoch weiter als kritisches Element bestehen.

Eine Publikation aus den USA legt den Schluss nahe, dass die Erfahrungen und das Training des medizinischen Fachpersonals im Bereich Katastrophenmanagement beispielsweise aufgrund fehlender Erfahrung im Umgang mit Ressourcenmangel limitiert sind [10]. Dazu kommt, dass nach der Ausbildung von Einsatzkräften Übungen die wenigen Gelegenheiten darstellen, die organisatorischen und speziellen medizinischen Einsatzmaßnahmen zu trainieren [37]. Es stellen sich daher die Fragen, worin die kritischsten Elemente des MANV-Prozesses bestehen (Forschungsfrage 1) und inwieweit diese Elemente in den einschlägigen Curricula für die Aus- und Weiterbildung von medizinischem Fachpersonal ausreichend gewürdigt werden (Forschungsfrage 2).

Methode

Die methodische Vorgehensweise gliedert sich in zwei Phasen entlang der Forschungsfragen: erstens die Anwendung einer Fehlermöglichkeits- und Einflussanalyse (FMEA), um die kritischen Prozesse des MANV zu identifizieren (Beantwortung der ersten Forschungsfrage). Die FMEA ist ein Werkzeug des modernen Qualitätsmanagements und dient der präventiven Fehlervermeidung, vor allem in der Produktentwicklung [18]. Sie ist jedoch auch für Prozesse und Dienstleistungen anwendbar [47]. Als Mittel zur Beurteilung von Prozessrisiken kann die FMEA im klinischen [5, 58] und im präklinischen [34] Risikomanagement eingesetzt werden. Insbesondere in der notfallmedizinischen Versorgung ist von einem hohen Prozessrisiko auszugehen. Die FMEA kann in dieser Hochrisikoumgebung einen signifikanten Beitrag zur Identifikation und Steuerung von Risiken bieten [31]. Sie findet vielfältige Anwendung beispielsweise für die Kommunikation in Notaufnahmen [49], die Optimierung der Versorgung [2] oder die Identifikation von Fehlern und Auswirkungen von Übertriage in der Luftrettung [28].

Eine Übersicht über die Schritte einer FMEA sind in Abb. 1, eine Kurzbeschreibung in Infobox 1 enthalten.

Abb. 1
figure 1

Struktur der Fehlermöglichkeits- und -einflussanalyse. (Quellen: [11, 20])

Infobox 1 Kurzvorstellung der FMEA

Ursprünglich wurde die FMEA im Laufe der 1960er-Jahre im Rahmen der Apollo-Mission von der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA entwickelt. Die ursprünglich rein produktbezogene Methodik fand vor allem in der Automobilindustrie schnell Verbreitung. Mittlerweile findet die FMEA weiträumige Anwendung und wird im Rahmen des Total Quality Managements (TQM) zunehmend gefordert. Die Durchführung der FMEA erfolgt in fünf Schritten, (1) dem Vorlauf, (2) der System- und Funktionsanalyse, (3) der Fehleranalyse, (4) der Risikobewertung sowie (5) der Optimierung.

In den einzelnen Phasen wird von einem gebildeten Team ein Produkt oder Prozess analysiert (Phase Vorlauf). Die Komplexität von Produkten oder Dienstleistungen erfordert die Zerlegung in analysierbare und in Verbindung gebrachte Teilstücke, die dann jeweils detailliert analysiert und bewertet werden können (Phase System- und Funktionsanalyse). Diesen Teilstücken werden in der Phase Fehleranalyse mögliche Fehler, deren Auswirkung und mögliche Ursachen zugeordnet. Diese werden in Form von Tabellen dokumentiert. Auf Basis der erkannten Prozessfehler können Handlungsableitungen für die nächst höheren Ebenen abgeleitet werden. So kann ein präventiv erkannter Prozessfehler durch eine alternative Entscheidung gänzlich vermieden werden. Die Zuordnung von Risiken erfolgt mithilfe der aus dem Risikomanagement bekannten Formel Auftretenswahrscheinlichkeit (A) und Bedeutung/Auswirkung (B). Diese Beurteilung wird durch die Entdeckungswahrscheinlichkeit (E) ergänzt. Jeder Teilwert kann den Wert 1–10 annehmen. Die Risikoprioritätszahl (RPZ) wird durch Multiplikation der Teilwerte ermittelt (RPZ = A × B × E). Die RPZ dient als Maß für das Gesamtrisiko eines potenziellen Fehlers. Je höher die RPZ desto dringlicher sind Verbesserungsmaßnahmen, um das Risiko zu senken und die Qualität des Prozesses zu erhöhen. Für die Zukunft werden Konzepte zur künftigen Fehlervermeidung erarbeitet (Optimierungsphase). Genormt ist die FMEA unter dem Titel „Fehlzustandsart- und -auswirkungsanalyse“ in DIN EN 60812 [22]

Zur Beantwortung der zweiten Forschungsfrage standen die Curricula für die notfallmedizinische Aus- und Weiterbildung des ärztlichen und nichtärztlichen Personals im Fokus. In dieser Phase wurden sowohl die Vorschriften der grundlegenden Ausbildung (z. B. NotSan, Zusatz-Weiterbildung Notfallmedizin) als auch die taktische Weiterbildung (wie OrgL und LNA) analysiert.

Forschungsfrage 1: Anwendung der FMEA

Die FMEA des MANV erfolgte in zwei getrennten Schritten: (a) die Struktur- und Funktionsanalyse des MANV-Prozesses im Rahmen eines Workshops (nW = 21 Teilnehmende) am Fraunhofer IAO im Februar 2018 und (b) die Fehleranalyse und die Risikobewertung [46] im Rahmen von telefonisch geführten leitfadengestützten Experteninterviews ([9]; nI = 5 Teilnehmende) auf Basis der Workshopergebnisse. Als Expert:in gilt, wer aufgrund seiner beruflichen Position bzw. Funktion innerhalb des Bevölkerungsschutzsystems exklusives Wissen über die Abläufe und Inhalte des Forschungsgegenstands besitzt (s. Infobox 2). Die Aufteilung der Bearbeitung der FMEA ist primär organisatorisch begründet. So wurde die Prozessliste von einer großen, heterogenen Gruppe erstellt, während die potenziellen Fehler von wenigen, ausgesuchten Expert:innen eingeschätzt wurden. Dies steuerte einer Risikobewertung der Teilprozesse ohne entsprechendes Fach- und Praxiswissen entgegen. Eine Überschneidung der beiden Gruppen bestand nicht.

Infobox 2 Sampling-Kriterien für die Interviews

  1. 1.

    Erfahrung im Rettungsdienst oder Katastrophenschutz auf taktischer Ebene

  2. 2.

    Führungskraft BOS (z. B. Zugführer)

  3. 3.

    Spezielle Kenntnisse zum MANV

Der Teilnehmendenkreis (nW = 21) der Struktur- und Funktionsanalyse [46] des MANV-Gesamtprozesses bestand aus Experten der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS; nB = 11), aus Angehörigen der Forschung (nF = 8) und aus sonstigen Teilnehmenden (nS = 2). Diese waren Teilnehmende des 8. Runden Tischs „Forschung im Bevölkerungsschutz“ am 28. Februar 2018, einer regelmäßig stattfindenden Veranstaltung am Fraunhofer IAO in Stuttgart. Die Experten selbst konnten aus zwei parallel stattfindenden Workshops mit unterschiedlichen Themen auswählen. Der Workshop zum MANV selbst gliederte sich in drei Phasen: (1) Einführung in das Thema und Bekanntgabe der Zielsetzung des Workshops, (2) Auflistung der verschiedenen Teilprozesse des MANV sowie der zeitlichen bzw. organisatorischen Abfolge im Rahmen der MANV-Bewältigung und (3) abschließende Diskussion. Die Dokumentation des Workshops erfolgte mithilfe von Moderationskarten auf Pinnwänden, die dann digital fotografiert wurden.

Zur Fehler- und Risikoanalyse wurde ein telefonisches Interview mit fünf MANV-Experten (nI = 5, s. Tab. 1) durchgeführt. Die MANV-Teilprozessliste (Tab. 2) wurde den Experten vorab zur Verfügung gestellt. Aus dieser Liste sollten die Experten die aus ihrer Sicht kritischsten Prozesse bereits im Vorfeld des Interviews auswählen. Die Inhalte des Interviews bezogen sich dann auf potenzielle Fehler, Fehlerursachen, Fehlerauswirkungen sowie als Ergebnis aus den vorgenannten Punkten auf die Kritikalitätswerte der MANV-Teilprozesse (Abb. 2). Die Experten sollten dabei zu jedem genannten Fehler im jeweiligen MANV-Teilprozess die in der FMEA üblichen Kritikalitätswerte (1 = nicht kritisch bis 10 = extrem kritisch) zuordnen. Diese wurden durch Bildung des arithmetischen Mittels zu einem Risikowert (rEn) für den jeweiligen Teilprozess zusammengefasst. Die Berechnung des Summenrisikowerts (rT) für den Teilprozess erfolgte dabei durch das Produkt aus der Anzahl der Expertennennungen und dem Mittelwert der Risikobeurteilung.

Tab. 1 Übersicht über die Experten der Interviews
Tab. 2 Ergebnis des Workshops: Ermittelte MANV-Teilprozesse
Abb. 2
figure 2

Ablauf und Inhalte der Experteninterviews (eig. Darstellung)

Forschungsfrage 2: Analyse der Curricula für Fachkräfte in der Notfallmedizin

Die Suche nach den Ausbildungsvorschriften erfolgte mit dem Titel der jeweiligen Aus- bzw. Weiterbildung (s. Überschriften der Tab. 3) als Suchbegriff im Juni 2019. Der Titel diente damit auch gleichzeitig als Inklusionskriterium. Die Analyse der Curricula erfolgte nach den aus der ersten Fragestellung resultierenden kritischen Teilprozessen als Kategorie. Es wurde geprüft, ob (1) ein Hinweis auf die Kategorie im jeweiligen Curriculum als Unterrichtsthema zu finden ist, (2) welche Ausbildungsinhalte den Teilnehmenden vermittelt werden sollen und (3) welcher zeitliche Umfang für das einzelne Thema vorgesehen ist.

Tab. 3 Berechnung der Kritikalität auf Basis der Anzahl der Nennungen und des Mittelwerts des eingeschätzten Risikos

Ergebnisse

Im Rahmen des Workshops konnte zunächst über die Struktur- und Funktionsanalyse eine Auflistung von 14 MANV-Teilprozessen erstellt und die Funktionen der Teilprozesse dargestellt werden. Dabei ist anzumerken, dass im Falle eines MANV nicht alle 14 Teilprozesse immer zu durchlaufen sind. Vielmehr ist die Durchführung abhängig von der konkreten Einsatzlage (z. B. Anzahl an Verletzten, räumliche Anordnung, verfügbare Kräfte). In Tab. 2 sind die 14 MANV-Teilprozesse mit ihren Funktionen aufgeführt.Footnote 2

Die o. g. 14 Teilprozesse bildeten die Basis für die Experteninterviews. Als Ergebnis der Fehler- und Risikoanalyse im Rahmen der Interviews lässt sich festhalten, dass insgesamt fünf Teilprozesse als kritische Punkte identifiziert wurden: (1) Lageerkundung (rT = 24), (2) Lagebeurteilung (rT = 23,47), (3) Transportorganisation (rT = 22,93), (4) Nachforderung (rT = 19) und (5) Vorsichtung (rT = 13,6). Zu erwähnen ist, dass die Etablierung einer Führungsstruktur (rT = 13,2) ebenfalls eine hohe Kritikalität besitzt. Die Begründung liegt in der eskalierenden Auswirkung, die Fehler während der Lageerkundung auf sämtliche nachfolgenden Teilprozesse hätten. So ist ein durch eine fehlerhafte oder ungenügende Lageerkundung resultierender zeitlicher Verzug (z. B. durch ein zu spätes Anfordern von ausreichenden Unterstützungskräften) an dieser Stelle im späteren Einsatzverlauf nicht mehr zu korrigieren. Dies impliziert verschlechternde Auswirkungen speziell auf den Gesundheitszustand von Patienten. Anzumerken ist, dass ein Experte den Teilprozess der Transportorganisation aufgrund mangelnder Anwendung im Regeldienst – und einer damit einhergehenden Gefahr des „Vergessens“ – als absolut kritisch ansah (Risikowert rE2 = 10). Tab. 3 zeigt die detaillierten Ergebnisse für die beiden Prozesse.

Im Folgenden sollen die Fehler, deren Auswirkungen und Ursachen näher betrachtet werden. Die gesamte Risikobewertung ist im elektronischen Supplement (s. Hinweisbox am Anfang des Artikels) zu diesem Artikel zu finden.

Lageerkundung

Mögliche Fehler beziehen sich auf die fehlende oder unvollständige Lageerkundung. Auswirkungen sind eine verzögerte bzw. fehlerhafte Nachalarmierung und ggf. damit verbundene Patientenschädigungen. Ursachen sind vor allem in einer mangelhaften Aus- und Fortbildung des Personals begründet.

Lagebeurteilung

Eine fehlerhafte Lageeinschätzung und -beurteilung, z. B. durch Unvollständigkeit, Missdeutungen oder fehlende Präzision, stellt einen möglichen Fehler dar. In einem Fall wurde die „Überschätzung“ der Lage als Fehler genannt. Hierunter fällt auch die unzureichende Kommunikation der Lage. Die Auswirkungen beziehen sich wiederum auf fehlerhafte Nachforderungen und zeitlichen Verzug. Als Ursachen wurden Entscheidungsmeidung, fehlerhafte Aus- und Fortbildung sowie die Konzentration auf nur einen Gefährdungspunkt in der Lage genannt.

Transportorganisation

Die Fehler im Teilprozess Transportorganisation bestehen in der fehlenden Etablierung dieses Einsatzabschnitts, der Nichtanwendung von Priorisierungs- oder Zuweisungskonzepten und der fehlenden Berücksichtigung von Klinikkapazitäten. Folgen sind eine fehlerhafte Klinikzuweisung und eine damit verbundene Überlastung einzelner Kliniken. Möglicherweise können Patienten geschädigt werden. Ursachen sind mangelhafte Aus- und Fortbildung oder das Fehlen einer Führungsstruktur. Auch der Nichtaustausch von Informationen an der Schnittstelle Klinik – Rettungsdienst ist als Ursache benannt worden.

Nachforderung

Die Nachforderung von Einsatzkräften ist stark von den Prozessen Lageerkundung und -beurteilung abhängig. Daher sind die genannten Fehler sog. „Folgefehler“, die sich in zu geringen oder zu hohen Nachforderungen äußern. Weitere Ursache ist eine fehlerhafte Aus- und Fortbildung.

Vorsichtung

In der Vorsichtung beziehen sich die Fehler auf die fehlerhafte oder Nichtanwendung bestehender Algorithmen. Diese führen zur „Über- oder Untersichtung“. Die Folgen auf die darauf aufbauenden Prozesse, wie Nachalarmierung und (Vor‑)Alarmierung von Kliniken, bestehen auch in diesem Fall. Die Nichtanwendung einer Sichtung führt insgesamt zur Gefährdung des Patientenkollektivs durch unklare Priorisierung und Ressourcenzuteilung. Ursachen bestehen in der fehlenden bzw. zu geringen Übung dieses Prozesses.

Führungsstruktur

Die fehlende Führungsstruktur, fehlerhafte Übergaben oder die Herausbildung von fehlerhaften bzw. doppelten Strukturen sind mögliche Fehler. Als Auswirkung wurde häufig „Chaos“ genannt. Die fehlende Struktur führt bspw. zu Verzögerungen im Behandlungsablauf, zu unkoordinierten Spontantransporten oder zu nicht eingesetzten Einsatzkräften in Bereitstellungsräumen. Als Ursache werden mangelhafte Aus- und Fortbildung sowie rechtliche Probleme genannt.

Losgelöst von der Betrachtung der Teilprozesse befanden die Experten einhellig, die frühzeitige Konzentration auf organisatorische Aufgaben stelle einen der Schlüsselfaktoren zur erfolgreichen Bewältigung eines MANV dar.

Vorhandene Curricula für notfallmedizinisches Fachpersonal

Die Auswertung von sechs Curricula, zwei für nichtärztliches Fachpersonal und vier für ärztliches Personal, ergab, dass in allen Aus- und Weiterbildungen die beiden Ausbildungsthemen mit unterschiedlichen inhaltlichen und zeitlichen Schwerpunkten vorhanden sind. Die Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Notfallsanitäter:innen (NotSan-APrV; [16]) und die Zusatz-Weiterbildung Notfallmedizin [15] beinhalten die Punkte „Übernahme der Einsatzleitung bis zum Eintreffen der Führungskräfte“ (Aufgabe des ersteintreffenden Rettungsmittels) und „Einsatztaktik beim MANV“. Während in der dreijährigen Ausbildung zum/zur Notfallsanitäter:in insgesamt elfeinhalb Wochen (100 h) für den Themenblock „Rettungsdienstorganisation“ reserviert werden, in dem auch die Aufgaben der ersteintreffenden Rettungsmittel inkludiert sind, sind es in der Weiterbildung Notfallmedizin rund 3,25 h. In Tab. 4 sind die detaillierten Ergebnisse enthalten.

Tab. 4 Übersicht über die geprüften Curricula

In der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Notfallsanitäter:innen wird in zwei Themenbereichen (1 und 5) explizit auf die Lageerkundung und -beurteilung sowie indirekt auf die Transportorganisation eingegangen. Hierbei steht die allgemeine Lageerkundung bei Einsätzen im Vordergrund und das Erkennen der eigenen Grenzen. Die Übernahme der provisorischen Einsatzführung und die Kenntnis der Krankenhausorganisation werden erwähnt.

Die Weiterbildung zum/zur organisatorischen Leiter:in (Rettungsdienst) ist nicht bundeseinheitlich geregelt. Dies zeigen auch die unterschiedlichen Bezeichnungen. Aufgrund dieser Vielfalt wurde exemplarisch die Ausbildung in NRW [3] betrachtet. Die Aufgaben der organisatorischen Leiterin Rettungsdienst bzw. des organisatorischen Leiters Rettungsdienst sieht die rettungsdienstlich-spezifische Lagebewältigung im Rahmen eines größeren Einsatzes unter der Leitung einer Einsatzleiterin bzw. eines Einsatzleiters der Feuerwehr vor. Die Ausbildungsinhalte beziehen sich daher auf dieses Tätigkeitsfeld sowie die Schwerpunkte Patientenablage, Behandlungsplatz und Transportorganisation.

Das (Muster‑)Kursbuch Zusatz-Weiterbildung Notfallmedizin enthält ebenso Angaben zur Lageerkundung. Im Bereich des MANV wird auf die Wichtigkeit einer umfassenden Lageerkundung eingegangen. Die medizinische Lagebeurteilung, die Festlegung des medizinischen Schwerpunkts und des Versorgungsumfangs sind relevante Aufgaben des (kommissarischen) LNA. In der dazugehörigen Übung liegt der Schwerpunkt auf der medizinischen Lagebeurteilung und -bewältigung. Die Festlegung von Transportprioritäten wird in diesem Zusammenhang ebenfalls behandelt.

Die Empfehlungen der Bundesärztekammer zur Fortbildung zum leitenden Notarzt [13] sehen als Ausbildungsinhalt allgemeine Führungslehre vor. Die im Text beschriebenen Aufgaben des LNA sind die Beurteilung der Lage und das Treffen medizinisch-organisatorischer Entscheidungen, wie bspw. die Festlegung des Einsatzschwerpunkts.

Die grundlegenden Papiere zum Medizinstudium [40, 56] enthalten keine Angaben zu den Untersuchungsschwerpunkten. Losgelöst hiervon sind Initiativen einzelner Universitäten in diesem Bereich bekannt, wie z. B. die Sommerakademie Katastrophenmedizin und Humanitäre Hilfe des Instituts für Katastrophenmedizin an der Universität Ulm.

Diskussion

Rettungsdienstfachpersonal ist bei Einsätzen regelmäßig vor den Führungskräften der Feuerwehr und des Rettungsdiensts vor Ort und muss daher Funktionen der Einsatz- bzw. Abschnittsleitung übernehmen können. Die vorliegende Pilotstudie identifizierte mithilfe einer FMEA die kritischen Elemente von MANV-Prozessen und stellte diese den Inhalten medizinischer Ausbildungscurricula gegenüber. Die Ergebnisse unterstreichen die Wichtigkeit von Kompetenzen in der taktischen Bewertung des Einsatzes, zeigen aber auch Verbesserungspotenziale bei den Ausbildungsinhalten und -vorgaben auf. Notwendig dafür ist eine Fokussierung auf kompetenzbasiertes und praxisorientiertes Lernen, möglichst in realitätsnahen Situationen und Interaktionen. Die Ergebnisse sowie die Methodik werden im Folgenden kritisch reflektiert.

FMEA als Instrument zur Bewertung von Risiken

In dieser Untersuchung hat sich gezeigt, dass die FMEA auch für die Risikobewertung von organisatorischen Prozessen in der Notfall- und Katastrophenmedizin möglich ist. Es empfiehlt sich, die FMEA jeweils im Rettungsdienstbereich durchzuführen, um regionale Spezifika wie beispielsweise Krankenhausstruktur oder vorhandene Rettungsmittel in die Betrachtung einfließen lassen zu können. Auf Basis der Ergebnisse können dann lokale Alarm- und Ausrückeordnungen oder Kompetenz- und Aufgabenzuweisungen bedarfsgerecht angepasst werden. In der vorliegenden Pilotstudie wurde der Forderung nach einer möglichst heterogenen Stichprobe der Experten im Rahmen der FMEA-Methodik aus organisatorischen Gründen nicht Rechnung getragen. Die fehlende Einbeziehung der ärztlichen Sichtweise stellt eine Verzerrung dar, die in zukünftigen Untersuchungen vermieden werden muss. Für diese Untersuchung wurde die FMEA-Methodik aufgrund der Fragestellung angepasst und die „Optimierung“ als letzter Schritt ausgelassen, da er für die Fragestellung nicht relevant war. Für eine Verbesserung der Prozesse, im Sinne eines Risiko- oder Qualitätsmanagementansatzes, sollte dieser aber unbedingt Beachtung finden. Vor allem für die Bewertung von lokalen (MAN-)Einsatzkonzepten kann die FMEA wertvolle Erkenntnisse liefern.

Initiale Einsatzführung

Der Blick auf die Zeitachse bei Einsätzen des Massenanfalls macht deutlich, dass ausbleibende oder fehlerhafte Entscheidungen in der Frühphase eines Einsatzes im späteren Verlauf nicht oder nur mit erheblichem Aufwand korrigiert werden können. Vier der fünf identifizierten kritischen Teilprozesse des MANV-Einsatzes beziehen sich auf die erste Phase des Einsatzes (Teilprozesse: Lageerkundung, -beurteilung, Nachforderung, Vorsichtung). Gerade in Bezug auf die Tatsache, dass die ersten Minuten des Einsatzes einen hohen Einfluss auf Erfolg oder Misserfolg haben und nur sehr schwer wieder korrigiert werden können [26], ist eine taktische Schulung der Rettungsdienstmitarbeiter:innen und der Notärztinnen und Notärzte daher sehr wichtig [61, 65]. Die Rolle des ersteintreffenden Rettungsmittels ist beispielsweise in Bayern in der MAN-Richtlinie von 2016 [6] festgeschrieben. Hierbei stellt sich die Frage, warum nicht alle Länder, die für den Rettungsdienst und Katastrophenschutz zuständig sind – und damit in beiden dem MAN angrenzenden Rechtsgebieten Kompetenzen besitzen –, eine landesweit einheitliche Regelung schaffen. Mit solchen einheitlichen Regelungen unter Berücksichtigung einschlägiger Führungsvorschriften [4] würden bspw. gebietsüberschreitende Einsätze deutlich vereinfacht [1, 42]. Diese einheitlichen Regeln müssen allerdings geschult und trainiert werden. Auch ist in MAN-Lagen oder Großschadensereignissen meist die „Nachbarschaftshilfe“ mit „Sofortkomponenten“ oder einzelnen Fahrzeugen aus umliegenden Kreisen oder gar Bundesländern notwendig.

Aus- und Fortbildung

Die Aus- und Fortbildung von medizinischem Fachpersonal ist sehr stark auf die Vermittlung medizinisch-technischer Fähigkeiten ausgelegt. In Bezug auf die relative Seltenheit der Ereignisse und auf die durch die Studie explorierte Wichtigkeit der Teilprozesse Lageerkundung, Lagebeurteilung und Transportorganisation kann festgestellt werden: Eine organisatorisch-taktische Ausbildung des Personals ist zwar vorgesehen, erhält aber in der Aus- und Weiterbildung nicht den nötigen Stellenwert. In allen konkret auf den Rettungsdienst zugeschnittenen Ausbildungen wird der Prozess Lageerkundung erwähnt, allerdings fehlen konkrete Hinweise auf den tatsächlichen Inhalt und die Durchführung. Sieht man exemplarisch die baden-württembergischen Handlungsempfehlungen für Notfallsanitäter:innen [41] als Konkretisierung der Ausbildungs- und Prüfungsordnung, so wird deutlich, dass der Schwerpunkt eindeutig auf der medizinischen Lagebewältigung liegt. In den Algorithmen „Basisversorgung“ und „Vorsichtung“ sind Hinweise auf die allgemeine Lageerkundung gegeben. Allerdings ist etwa kein Algorithmus „Lagefeststellung“ enthalten, der wie in der Anlage 1 zur MAN-Richtlinie Bayern auf die Punkte „Gefahrenmatrix“, „Ordnung des Raumes“ etc. eingeht. Gleiches gilt für die Ausbildung der Notärztinnen und Notärzte, da dem:der ersteintreffenden Notarzt:Notärztin u. a. die Festlegung des Einsatzschwerpunkts und der Versorgungsqualität aus medizinischer Sicht obliegt [6, 53]. Im Vergleich zur Ausbildung des nichtärztlichen Personals wird in der Notarztausbildung deutlich weniger Wert auf die taktischen Fertigkeiten gelegt. In den einzelnen Ausbildungsvorschriften wird für die praktische Ausbildung kein Nachweis über ein taktisches Training gefordert [14], was sowohl in Bezug auf die LNA/LNÄ-Ausbildung [57], in Bezug auf Terroranschläge [42], aber auch in Bezug auf das Personal von Notaufnahmen [17] notwendig wäre. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass taktische Fähigkeiten im Nachhinein im Rahmen von Fortbildungen des medizinischen Fachpersonals vermittelt werden müssen, da sie keinen hohen Stellenwert in der Ausbildung besitzen. Die regelmäßige Wiederholung der Schulungsinhalte ist nach einer Untersuchung von Dittmer et al. für den Fall der Sichtung [23] notwendig. Es ist davon auszugehen, dass diese Erkenntnisse auch auf die taktischen Fähigkeiten übertragbar sind.

Verschärft wird diese Situation durch den sich im Rettungsdienst abzeichnenden Fachkräftemangel, der zu Kompromissen bei den Anforderungen an Qualifikationen und Kenntnisse der vor Ort gültigen Regelungen und Strukturen führt [20, 48]. Landesweit einheitliche Regelungen könnten auch hier einen Beitrag zur Lösung darstellen.

Die Ergebnisse der Studie beziehen sich bewusst auf die kritischen Faktoren und deren Reflexion in Aus- und Weiterbildungscurricula. Die gelebte Praxis war nicht Teil der Untersuchung. Es wäre jedoch wünschenswert, dies in weiteren Studien zu erheben.

Empirische Belege notwendig

Es ist sehr schwer, Rückschlüsse zu ziehen, inwieweit die ermittelten kritischen Erfolgsfaktoren eine Auswirkung auf die Rettung des Patientenkollektivs haben. Dies liegt vor allem an der überwiegenden Anzahl von retrospektiven Fallberichten mit „positive[m] Anwender-Bias“ [7]. Anzunehmen ist aber eine größere Belastung der Einsatzkräfte, die „Chaosphase“ zu ordnen und den Ansprüchen von Patienten und Öffentlichkeit sowie den eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Die Schwierigkeiten zur Durchführung von (randomisierten) prospektiven Studien in der präklinischen Patientenversorgung im MANV liegen auf der Hand. Übungen stellen daher ein adäquates Mittel dar, um diese taktischen Konzepte für die Praxis zu bewerten. Die Forderungen nach systematischer Übungsevaluation bestehen [8, 35]. Die Grundlagen hierfür beispielsweise mit Key-Performance-Indikatoren (KPI; [24, 25, 64]) oder Fragebogen [54, 55] sind vorhanden. Es ist jedoch nicht klar, welche Übungen mit welchen Inhalten in den jeweiligen Landkreisen oder bei Organisationen durchgeführt werden. Hierzu sind weitere Untersuchungen notwendig [32]. Die Schaffung eines MAN-Katasters – vergleichbar zum TraumaRegister DGU® oder US-amerikanischen NEMSIS [43] – oder Beteiligungen an internationalen Katastern [29] könnten hier wertvolle Erkenntnisse bieten. Ein Übungskataster wäre als Ansatz eine weitere denkbare Möglichkeit, ist aber zum derzeitigen Zeitpunkt nicht etabliert. Ergebnisse des Projekts QuarzSAND des BBK [62] könnten zukünftig eine Basis für dieses Übungskataster bilden.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass komplexe Vorgänge durch Vorstrukturierungen besser bewältigt werden können. Einsatztaktik ist dabei ein wichtiger Baustein zur Komplexitätsreduktion. Auf einer täglichen Basis stellen Leitlinien und Algorithmen eine Form der Einsatztaktik dar, die über QM-Systeme überwacht werden. Neben diesen Mechanismen des Regelbetriebs findet ein solches Qualitätsmonitoring noch wenig zu Leitlinien des Ausnahmebetriebs MAN statt [37]. Neben technischen Fertigkeiten und Teamführungskompetenzen sind Fähigkeiten in Einsatztaktik notwendig, die geschult und trainiert werden müssen, ohne die medizinische Behandlung zu vernachlässigen. Die Ergebnisse einer FMEA bieten die Möglichkeit, diese kritischen Elemente zu identifizieren. Im Sinne der präventiven Fehlervermeidung sollten Aus- und Fortbildungsprogramme entsprechend überarbeitet werden, um gezielt notwendige Kompetenzen beim Personal auf ärztlicher wie nichtärztlicher Seite aufzubauen. Außerdem sind einheitliche vergleichbare Qualitätsindikatoren notwendig, die zur Überprüfung der kritischen Prozessschritte dienen können.

Limitationen

Die durchgeführte Studie erfolgte im Rahmen einer Bachelor-Thesis an der Universität Stuttgart als Pilotstudie. Hierbei wurde ein in der Anzahl beschränkter Teilnehmerkreis in die Studie einbezogen, um sowohl in den Workshops als auch in den Interviews von den Erfahrungen der Teilnehmenden zu profitieren. Um die Aussagekraft der Ergebnisse zu erhöhen, empfiehlt es sich, folgende Punkte in ergänzenden Studien zu berücksichtigen:

  • Vergrößerung der Stichprobe

  • Einbeziehung und Vergleich länderspezifischer Unterschiede in den Curricula, z. B. des OrgL

  • Einbeziehung der ärztlichen Sichtweise

  • Einbeziehung der praktischen Umsetzung der Ausbildungscurricula

  • Einbeziehung der praktischen Umsetzung in Rettungsdienstbereichen

Ausblick

Eine Abschätzung der Häufigkeit von MAN-Ereignissen in der Zukunft ist schwer möglich. Beispielsweise ist die Bedrohung durch islamistischen und rechtsextremen TerrorFootnote 3 nicht von der Hand zu weisen. Ebenso sind größere Schadenslagen durch Einflüsse des Klimawandels denkbar. Eine adäquate Vorbereitung auf MAN-Einsätze ist daher notwendig. Die Aus- und Fortbildung des notfallmedizinischen Personals ist dabei ein wichtiger Faktor. Vor allem die simulationsgestützte Aus- und Fortbildung scheint hier einen hohen Einfluss auf die spätere Kompetenz zu besitzen [44]. Möglichkeiten der Aus- und Fortbildung mit virtueller Realität (VR; [27, 33, 36]) oder erweiterter Realität (AR) können hierbei einen entscheidenden Vorteil bieten, um realistische Szenarien niederschwellig und in ausreichender Breite anzubieten. Aber auch die klassischen „Rollenspiele“ und „Planspiele“ zum Training von Teilschritten vor Vollübungen haben nach wie vor ihren Stellenwert.

Die Ergebnisse dieser Pilotstudie sollten in Studien mit größerem Umfang validiert werden. Konkret sind empirische Untersuchungen zu (1) der praktischen Umsetzung der Ausbildungscurricula und zu (2) der Fortbildung des Rettungsdienstpersonals in taktischen Belangen notwendig. Die FMEA von Einsatzkonzepten ist nach Meinung der Autoren zielführend, um spezifische Inhalte für das Training zu erhalten, aber auch um das taktische Vorgehen und die Ausrüstung kritisch zu hinterfragen.

Fazit für die Praxis

  • Die Lageerkundung und taktische Ersteinschätzung entscheiden über den Gesamterfolg des Einsatzes und haben für die ersteintreffenden Einsatzkräfte Priorität vor der Einleitung der medizinischen Versorgung.

  • Die einsatztaktische Lagebeurteilung spielt in den Aus- und Weiterbildungen für nichtärztliches und ärztliches Rettungsdienstpersonal eine untergeordnete Rolle.

  • Erlernen und Üben taktischer Entscheidungen sollten daher in den jährlichen Fortbildungsplan aufgenommen werden.

  • Entsprechende Konzepte für ersteintreffende Rettungskräfte, am besten einheitlich auf Länderebene, sind anzustreben.

  • Übungen sollten systematisch geplant, durchgeführt und ausgewertet werden und die Ergebnisse in zentralen Datenbanken zum organisationsübergreifenden Lernen bereitgestellt werden.

  • Mithilfe einer FMEA lassen sich kritische Elemente in Einsatzprozessen ermitteln und geeignete Maßnahmen zur Vermeidung erarbeiten.