Leitstellen sind ein zentrales Element der kritischen Infrastruktur (KRITIS) und der Dreh- und Angelpunkt im Rettungsdienst. In Deutschland wurden 2017 bei 82,52 Mio. Einwohnern etwa 16,4 Mio. Einsatzfahrten im Rettungsdienst durchgeführt, davon etwa 11 Mio. aufgrund von Notfällen und 5,4 Mio. aufgrund eines Krankentransports. Umgerechnet initiieren die deutschen Leitstellen somit ungefähr alle 3 s die Entsendung eines Notfallrettungsmittels und alle 6 s die eines Fahrzeugs für einen Krankentransport [1]. Hierbei müssen sie die unterschiedlichsten Einsatzanlässe disponieren: vom Krankentransport eines sauerstoffpflichtigen Patienten mit Bronchialkarzinom, der eine ambulante Strahlentherapie erhalten soll, über die in ihrem Schlafzimmer schwer gestürzte alte Dame und das Kleinkind mit Kreislaufstillstand nach Badeunfall bis hin zum Massenanfall von Verletzten oder der Intensivverlegung eines an COVID-19 erkrankten Patienten unter extrakorporalem Lungenersatz. Das Aufgabenspektrum der Leitstellen reicht weit über die Notrufabfrage und Einsatzmitteldisposition hinaus. So ist die telefonische Anleitung der Anrufenden zu Erste-Hilfe-Maßnahmen, allen voran die Anleitung zur kardiopulmonalen Reanimation, unzweifelhaft eine zentrale Aufgabe der Leitstelle, auch wenn deren Anwendungsgrad hierzulande noch viel „Luft nach oben“ hat [2].

In Österreich wurde 2019 flächendeckend und nach dem Vorbild anderer europäischer Länder wie Großbritannien, Dänemark oder der Schweiz die telefonische Gesundheitsberatung „Wenn’s weh tut! 1450“ eingeführt [5]. 1450 ist vorwiegend an die Leitstellen angegliedert und dient neben der täglichen Gesundheitsberatung insbesondere seit der ersten Pandemiewelle im März 2020 auch als Hotline für alle Anfragen zur COVID-19-Symptomatik, für entsprechende Screenings sowie die Lenkung der Weiterversorgung (https://www.1450.at/1450-die-gesundheitsnummer/).

Leitstellen spielen eine zentrale Rolle im Gesundheitssystem und der Gefahrenabwehr

Angesichts der zentralen Rolle der Leitstellen im Gesundheitssystem und der Gefahrenabwehr war es Verlag und Herausgebern daher ein besonderes Anliegen, diesem Thema einen eigenen Themenschwerpunkt zu widmen. Die eingeladenen Autorinnen und Autoren, denen wir für ihre Beiträge herzlich danken, demonstrieren aus unterschiedlichem Blickwinkel die vielfältigen Schritte, welche die Leitstellen unternehmen, um den stetig steigenden Anforderungen gerecht zu werden. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, wo noch ungelöste Herausforderungen bestehen.

Einleitend beschreiben F. Sieber, R. Kotulla, B. Urban, S. Groß und S. Prückner vom Institut für Notfallmedizin und Medizinmanagement der Universität München mit ihrem Beitrag „Entwicklung von Einsatzzahlen und -spektrum im Rettungsdienst in Deutschland“, welche Veränderungen der Rettungsdienst in den letzten zehn Jahren durchlaufen hat. Der Beitrag schließt mit der Forderung, dass angesichts stetig steigender Einsatzzahlen und weiterer Veränderungen, wie einer alternden Gesellschaft und einem hohen Anteil an nicht vital bedrohten Patienten, die Lösung nicht darin bestehen kann, ständig nur die Vorhaltung an Rettungsmitteln auszuweiten. Auch alternative Dienstleistungen und präventive Ansätze müssen eingebunden werden.

Rechtsanwalt F. Sarangi stellt in seinem Beitrag „(Haftungs-)rechtliche Rahmenbedingungen der Rettungsleitstelle – ein kompakter Überblick für den Praktiker“ zunächst die gesetzlichen Grundlagen dar, auf denen die Tätigkeit der Leitstellen in Deutschland beruht, und geht danach auf die Verantwortlichkeiten in zivil-, straf- und beamtenrechtlicher Sicht ein. Mit zahlreichen Fallbeispielen verdeutlicht er die Notwendigkeit einer sorgfältigen, das heißt zwar strukturierten, gleichwohl aber auf den individuellen Fall abgestellten Notrufabfrage und adäquaten Einsatzdokumentation und stellt typische Problembereiche dar. Im Nachhinein, das wissen wir alle, ist die Situation dabei häufig sehr viel klarer als in den wenigen Augenblicken des Notrufs. Testen Sie sich selbst: Wie hätten Sie in den einzelnen Beispielen gehandelt, wenn Sie den Notruf bearbeitet hätten?

Einer 2019 veröffentlichten Umfrage zufolge ist die Nutzung spezieller Notrufabfragesysteme in Deutschland noch längst nicht Routine [3]. Führt eine durch Algorithmen unterstützte Notrufabfrage jedoch automatisch zu einer höheren Abfragequalität bzw. ist die „freie“ Abfrage grundsätzlich die schlechtere Variante? Dass dies keineswegs einfach zu beantworten ist, zeigt B. Mayr, Ausbildungs- und Qualitätsmanagementleiterin der Leitstelle Tirol/Österreich, in ihrem Beitrag „Strukturierte bzw. standardisierte Notrufabfrage – leisten die Systeme tatsächlich, was sie vorgeben zu leisten?“ Nach einem kurzen Überblick über die am weitesten verbreiteten Abfragesysteme werden die Aspekte Kernprozesse, Arbeitsteilung in der Einsatzbearbeitung, Telefonreanimation, Qualitätsmanagement und Forschungsgebiete dargestellt. Am Beispiel des Kreislaufstillstands wird sehr gut deutlich, dass die Mitarbeiter der Leitstelle auch bei Verwendung eines Abfragesystems Antworten häufig interpretieren müssen und wie sehr auch sprachliche Faktoren die Qualität der Notrufabfrage beeinflussen. Gleichwohl tragen Standards in der Notrufabfrage dazu bei, Fehler zu reduzieren bzw. zu vermeiden. Zugleich wird herausgestellt, dass es im Vergleich zum weltweit meistverwendeten Abfragesystem, dem Medical Priority Dispatch SystemTM, bei anderen, in Deutschland, Österreich und der Schweiz verwendeten Notrufabfragesystemen so gut wie keine Analysen zur Güte der verwendeten Algorithmen gibt. Hier sei die offene Frage erlaubt: Warum ist dies eigentlich so?

Auch in strukturierten Abfragesystemen müssen Leitstellenmitarbeiter Antworten häufig interpretieren

G. Bildstein, C. Redelsteiner und P. Imboden geben in ihrem Beitrag „Leitstellendisposition und deren Qualitätsbewertung“ zunächst einen Überblick über die Notrufnummern, personelle Qualifikationen und wichtige Strukturmerkmale der Leitstellen in Österreich und der Schweiz. Trotz einer ausgeprägten Heterogenität in Bezug auf die Größe der Leitstellenbereiche, die Trägerschaft und die Qualifikationsanforderungen an das Personal wird in einer zunehmenden Zahl der österreichischen Bundesländer mittlerweile eine strukturierte bzw. standardisierte Notrufabfrage vorgenommen. Der Standardisierungsgrad ist in den 16 Schweizer Leitstellen aufgrund der Vorgaben des Interverbands für Rettungswesen deutlich höher; strukturierte bzw. standardisierte Notrufabfragesysteme sind jedoch noch nicht flächendeckend etabliert. Anhand der Leitstellen zweier österreichischer Bundesländer und eines Schweizer Kantons wird demonstriert, welche Anstrengungen zur Erzielung einer möglichst hohen Dispositionsqualität unternommen werden. Ebenso werden entsprechende Analysen zu wichtigen Kennzahlen dargestellt. Zur weiteren Steigerung der Qualität werden einheitliche Begriffsdefinitionen und Bewertungsindikatoren sowie externe Audits und Peer Reviews vor Ort empfohlen.

Einer der spannendsten Aspekte ist, welches Aufgabenspektrum eine Leitstelle abdecken soll, und wie die Leitstelle in ein umfassenderes Netzwerk innerhalb des Gesundheitssystems eingebunden werden kann. Der Beitrag von S. Marxgut von der Leitstelle Vorarlberg/Österreich stellt dar, wie es dort binnen kurzer Zeit gelungen ist, zusätzlich zum ärztlichen Bereitschaftsdienst auch die telefonische Gesundheitsberatung 1450 durch diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegekräfte sowie einen Hintergrundarzt in die Leitstelle zu integrieren. Bei einer Gesamteinsatzzahl von etwa 200.000 im Jahr 2019 entfielen auf die genannten Teilbereiche immerhin etwa 20 % der Einsätze.

Wohin wird die Reise in Deutschland bei der geplanten Reform der Notfallversorgung [4] gehen? Bleiben die Leitstellen reine Dispositionsstellen für Gefahrenabwehr (Notfallrettung, Feuerwehr, Katastrophenschutz) und gegebenenfalls Krankentransport oder werden sie Anrufer auch in sonstigen medizinischen und sozialen Not- und Akutsituationen beraten und bei Bedarf weitere Dienstleister, beispielsweise Gemeindenotfallsanitäter oder den Sozialdienst, disponieren?

Liebe Leserinnen und Leser, mit den Beiträgen dieser Ausgabe können Sie sich exzellent informieren und aktiv in die Diskussion über die Weiterentwicklung der Leitstellen in Deutschland, Österreich und der Schweiz einsteigen. Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen beim Lesen!

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Univ.-Prof. Dr. Michael Baubin

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Dr. David Häske

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Prof. Dr. Dr. Alex Lechleuthner

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PD Dr. Thomas Luiz