Psychiatrie in der Notfallmedizin – wer hätte vor 20 Jahren daran geglaubt, dass dies ein relevantes Thema für die tägliche Praxis der Notfallmedizin sein könnte? Mittlerweile ist deutlich, dass in der präklinischen Notfallmedizin – je nach Region – psychiatrische Einsatzursachen mit 9–15 % für den Notarzt zweit- bis vierthäufigste Gründe für einen Einsatz darstellen [3]. Damit stellen psychiatrische Notfälle zahlenmäßig die gleichen Herausforderungen dar wie Notfälle aus neurologischen und traumatologischen Gründen [4]. Bei Auswertung der NACA-Scores zeigt sich auch, dass der Anteil der lebensbedrohlichen Erkrankungen bei diesen drei Disziplinen vergleichbar ist ([1]. Auch in Notaufnahmen ist der Anteil psychiatrischer Patienten relevant. Obwohl es hierzu aus Deutschland nur sehr wenige gute Untersuchungen gibt, dürften sich etwa 8–10 % der Patienten dort mit einer psychiatrischen Störung vorstellen [2].

Dennoch fremdeln diese beiden Disziplinen miteinander, und das von beiden Seiten, obwohl sie auf gegenseitige Zusammenarbeit angewiesen sind und viel voneinander lernen können. Wir erinnern uns an Fortbildungsveranstaltungen, in denen das von somatischen Medizinern dominierte Publikum kritisch hinterfragt, ob man die Vorschläge des psychiatrischen Fachreferenten überhaupt in die notfallmedizinische Praxis übernehmen könne. Es wäre doch alles anders als in der Psychiatrie. Aus der Perspektive der Notfallmedizin liegt dies u. a. an ihrer Entstehungsgeschichte und Tradition, die sich zunächst aus der Versorgung traumatologischer Notfälle entwickelte. Notfallmediziner sind in den wenigsten Fällen Psychiater. Wahrscheinlich sind deutschlandweit nur etwa drei Dutzend Psychiater auch aktive Notärzte. Dies ist mit ein Grund dafür, dass psychiatrische Kenntnisse bei Notfallmedizinern bisher eher selten und gering sind. Weitere Gründe für die Distanz dieser beiden Disziplinen sind z. B. das Fehlen notfall- und intensivmedizinischer Strukturen für vital bedrohte psychiatrische Patienten in vielen psychiatrischen Kliniken. Dies führt einerseits dazu, dass solche Patienten zur Diagnostik und Therapie primär in somatische Kliniken transportiert werden, andererseits auch dazu, dass viele Psychiater nicht mit notfallmedizinischen Prozeduren und Medikamenten vertraut sind. Die deutsche Psychiatrie hat sich ihrerseits lange nicht systematisch mit psychiatrischen Notfallsituationen beschäftigt. Dies hat sich erst in den letzten Jahren geändert, wovon u. a. ein Schwerpunktheft der Zeitschrift Der Nervenarzt im Herbst 2015 (Jahrgang 86, Heft 9) und die Entstehung einer S2-Leitinie „Notfallpsychiatrie“ spricht.

Das vorliegende Heft will daher das Verständnis dieser beiden Disziplinen füreinander fördern. Die Beiträge beschäftigen sich mit den für die Notfallmedizin relevantesten Themen, nämlich Erregungszustände und Aggression von den Autoren Pajonk und D’Amelio und Suizidalität von Wolfersdorff. Ein großes Anliegen ist uns deshalb, auch das Thema „Kommunikation“ in psychiatrischen Notfallsituationen zu thematisieren. „Man kann nicht nicht kommunizieren“, wie der große Kommunikationsforscher Paul Watzlawick formulierte. Die Fähigkeit, auch in diesen Krisensituationen wertschätzend und deeskalierend zu formulieren, ist nicht angeboren oder Veranlagung, sondern kann erlernt werden und ist in diesen Notfallsituationen von großer Wichtigkeit. Darüber hinaus werden von Messer und Pajonk die Versorgung psychotischer und manischer Störungen dargestellt und von Dinkel und Lahmann der Zusammenhang zwischen organbezogenen Störungen und psychischen Symptomen, aber auch psychischen Störungen mit zunächst organisch anmutenden Symptomen für die Notfallmedizin ausgeführt. Der Beitrag von Marung et al. fasst zusammen, wie sich Psychiatrie und Notfallmedizin aufstellen sollten, um die Schnittstellen zu optimieren. Abgerundet wird dieses Heft mit einem Blick von Himadi in die Versorgung psychiatrischer Notfälle in den Vereinigten Staaten.

Dass sich die deutsche Notfallmedizin überhaupt mit der Psychiatrie beschäftigen wollte und diese beiden Disziplinen in einen mittlerweile regen Austausch getreten sind, ist u. a. der Initiative von und Förderung durch Heinzpeter Moecke zu verdanken, der am 26.11.2015 nach langer Krankheit verstorben ist. Diesem Visionär der interdisziplinären Zusammenarbeit ist das Heft gewidmet.

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Prof. Dr. med. Frank-Gerald Pajonk

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Prof. Dr. med. Michael Christ