Liebe Leserinnen und Leser,

wenn wir über die Indikation zur Operation der Karotisstenose reden oder aber auch die Ergebnisse der großen Studien diskutieren, ist immer nur vom Stenosegrad die Rede – „only size (diameter) does matter“. In altem gefäßchirurgischen Denken ging halt einfach ein höherer Stenosegrad mit weniger Durchblutung im Kopf einher. Aber schon lange wissen wir, dass es hauptsächlich Embolien sind, die aus einer symptomfreien Stenose eine symptomatische machen. Ist der Durchmesser wirklich alles? In Bern war ich zu einem Vortrag zum Thema „Weshalb wird die Plaque-Morphologie bei der Therapieoption weiterhin nicht mit einbezogen?“ eingeladen worden.

In gewisser Weise nehmen wir in unserer Klinik darauf Rücksicht, indem sonographisch echoarme Plaques eher nicht interventionell behandelt werden – aber das war es auch schon. Auch die aktuell gültige S3-Leitlinie besteht auf dem Stenosegrad zur Indikationsstellung [3]: Unter 6.3 „Welche klinischen und morphologischen Faktoren beeinflussen das Auftreten einer carotis-bedingten zerebralen Ischämie bei bislang asymptomatischer Carotisstenose?“ ist zwar aufgeführt, dass die Plaquemorphologie eine Rolle spielt, aber: „Nach wie vor bleibt jedoch die möglichst exakte Quantifizierung des Stenosegrades das wichtigste Kriterium für die Therapieentscheidung, da die großen Studien zur Entscheidung CEA vs. konservatives Vorgehen ausschließlich den Stenosegrad als Einschlusskriterium verwendet haben.

Im Gespräch mit Kollegen hört man immer wieder, dass es sehr konservative Neurologen gibt. Leider wurde der eingeladene Artikel zum Thema, eine symptomfreie Karotisstenose gar nicht mehr zu revaskularisieren, kurzfristig zurückgezogen. Dennoch muss man sich als Gefäßchirurg dem Thema stellen, um mit unseren Zuweisern, und das sind meist Neurologen, auf Augenhöhe diskutieren zu können. Weiterhin berichten Kollegen, in den Niederlanden und im Vereinigten Königreich würden asymptomische Karotisstenosen sowieso nicht mehr operiert.

Die S3-Leitlinie empfiehlt eine Revaskularisierung ab einem Stenosegrad von 60 %

Ich möchte hier zunächst einmal Sondersituationen außer Acht lassen (beidseitige hochgradige Stenose, kontralateraler Verschluss, geplante Herzoperation usw.) und mich auf die einseitige, hochgradige Stenose der A. carotis interna konzentrieren. Zunächst sollte der Begriff hochgradig definiert werden. Die Ultraschallkriterien zur Beurteilung der Karotisstenose wurden von der DEGUM angepasst und mit der ursprünglich angiographischen Einschätzung nach NASCET korreliert [1]. In der eigenen Klinik wird ein Stenosegrad ab 70 % nach NASCET als hochgradig eingeschätzt, wobei laut S3-Leitlinie ab 60 % eine Revaskularisierung empfohlen wird [3].

Warum sollte man eine Karotisstenose nicht operieren? Wie immer in der prophylaktischen Chirurgie müssen hier das Operationsrisiko und der Vorteil durch die Operation mit dem Spontanverlauf verglichen werden. Was häufig nicht betrachtet wird: Die Revaskularisierung einer Karotisstenose verhindert einen Schlaganfall ja nicht zu 100 %, sondern reduziert lediglich das Risiko. Hinzu kommt eine nicht zu ignorierende Rate an Restenosen, meist durch Intimahyperplasie. In dem schönen Übersichtsartikel von Demirel et al. in dieser Ausgabe wird die ACST-1-Studie zitiert: Demnach „betrug nach 5‑jähriger Nachbeobachtung der Patienten <75 Jahre das Risiko für jedweden Schlaganfall 4,1 % im operativen Arm und 10,0 % im konservativen Arm (ARR Footnote 1 5,9) und nach 10 Jahren 10,8 % vs. 16,9 % (ARR 6,1 %).“ Aus der Sicht eines Nicht-Statistikers (meine), würde ich also grob schätzen, im operativen Arm betrug das Risiko eines Schlaganfalls 1 % pro Jahr. Hinzu kommt dann das einmalige perioperative Risiko, welches generell bei ca. 1 % eingeschätzt wird. Dabei beziehe ich mich hier nur auf das Risiko eines perioperativen Schlaganfalls, ungeachtet der anderen möglichen Komplikationen.

Das Problem ist nun, wie der Spontanverlauf definiert und in Studien dargestellt wird. Hauptangriffspunkt der Kritiker ist immer, dass die konservative Therapie in den publizierten Studien zur Operation nicht unter dem derzeitigen „best medical treatment“ stattfand. Unter optimaler medikamentöser Einstellung scheint das Risiko, eine neurologische Symptomatik zu entwickeln, deutlich niedriger zu sein: In der „Oxford-Studie“ lag die jährliche „Stroke“-Rate bei 0,34 % und die Rate an TIA’s bei 1,78 % [11]. Wichtig sind hierbei allerdings folgende Punkte: Es wurden bereits Stenosen ab 50 % miteinbezogen, eine Staffelung des Patientenguts ist nicht aufgeführt, wobei die 6 neurologischen Ereignisse (von 101 Patienten) dem Stenosegrad bei Einschluss zugeordnet wurden. Weiterhin handelt es sich um eine Subgruppenanalyse von Patienten mit symptomatischer Karotisstenose der Gegenseite, und die Rate an Schlaganfällen in anderen Territorien lag im Verlauf bei 8,32 pro Jahr (!). Man erkennt weiterhin, dass die Patientenzahl gering ist: Es wurden 101 Personen betrachtet. Legt man dann noch das beschriebene Risiko eines vaskulären Todes von 7,70 pro Jahr zu Grunde, kann man überlegen, ob diese Population, die ja bereits ein Ereignis der Gegenseite zu verzeichnen hatte, geeignet ist, um Rückschlüsse auf die Normalbevölkerung zu ziehen.

Wie oben schon aufgeführt, ist bei der Bewertung der großen, prospektiven, randomisierten Studien generell kritisch zu berücksichtigen, das als wesentliches Einschlusskriterium zur Indikationsstellung die einmalige Messung des Stenosegrads festgelegt wurde. In einer prospektiven Studie von Kakkos et al. waren 1121 Patienten mit einer Stenose von 50–99 % aufgenommen worden [9]. Dabei lag die jährliche Rate an Schlaganfällen für Patienten mit einer Stenose von 70–99 % bei 1,5 %, wenn keine Progression vorlag. Bei Zunahme der Stenose lag die Rate bei 2,6 %, kumulativ 12 % vs. 21 %. Legt man die 1,5 % zu Grunde, ist man sehr schnell im Bereich der Ergebnisse nach Operation laut ACST-1-Studie. Auch andere Befunde sind mit der erhöhten Wahrscheinlich von neurologischen Symptomen assoziiert, z. B. intrakranielle Stenosen oder stille Infarkte [13]. Die isolierte, einmalige Betrachtung des Stenosegrads zur Indikationsstellung erscheint vor dem Hintergrund dieser Publikationen zumindest fragwürdig.

Eine andere Eigenschaft der Plaque wird in der Indikationsstellung ebenfalls nicht genug gewürdigt: Die Plaquemorphologie. Es ist schon lange bekannt, dass sich im Ultraschall als echoreich dargestellte Plaque klinisch benigner zeigen als echoarme. Diesen Befunden im Ultraschall liegt die tatsächliche Pathologie der Läsionen zu Grunde. Mit den neuen MR-Untersuchungen gelingt es heute, die „spätere Histologie“ der Stenosen sehr exakt darzustellen: Fibröse Kappe, Einblutung in die Plaque, Plaqueruptur, Kalzifikationen und der nekrosereiche Lipidkern werden mit hoher Sicherheit identifiziert und quantifiziert [2]. Dabei konnte schon in älteren Studien der signifikante Einfluss des UItraschallbefunds auf die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung neurologischer Symptome gezeigt werden.

Im Rahmen der der Tromsø-Studie, die 2001 publiziert wurde, waren von 1994–1995 6727 Personen u. a. auf Karotisstenosen untersucht worden [12]. In 223 (100 mit einem Stenosegrad ≥50 %) Fällen bestand eine asymptomische Stenose. Im weiteren Verlauf lag das relative Risiko, eine neurologische Symptomatik zu entwickeln, bei echoarmen Plaque 3,62-mal höher als bei echoreichen und vorwiegend echoreichen Läsionen [12].

Auch MR-tomographische Befunde bei symptomfreier Karotisstenose wurden prospektiv mit dem Verlauf korreliert: Die Arbeitsgruppe um T. Hatsukami aus Seattle hatte bei 154 Patienten mit einer 50–79 %igen Stenose, die konservativ behandelt wurden, bei Studienaufnahme MR-Tomografien der Plaque vorgenommen und dann mit dem weiteren Verlauf assoziiert [14]. Nur ein einziger Patient mit dicker, fibröser Kappe entwickelte innerhalb des Nachuntersuchungszeitraumes von 60 Monaten eine neurologische Symptomatik, bei insgesamt 12 ipsilateralen Ereignissen (Abb. 2 in: [14]).

Auch in einer retrospektiven Untersuchung der Arbeitsgruppe um HH. Eckstein wurde herausgearbeitet, dass der Nachweis einer Plaque-Hämorrhagie oder einer dünnen fibrösen Kappe (unter Berücksichtigung von Alter und Geschlecht) geeignet sein kann, Patienten mit einem erhöhten Schlaganfallrisiko zu identifizieren [15].

Eine aktuelle Publikation hat den Zusammenhang zwischen Plaquemorphologie und kardialen Befunden untersucht [6]. Dabei wurde festgestellt, dass echoarme Plaque sich unabhängig von einer prä/post-operativen kardialen Problematik zeigten, dagegen echoreiche Plaque mit dem Ausmaß der KHK und der postoperativen Belastung des Herzens korrelierten. Auch dies kann ein Argument sein, bei echoreicher Plaque eher zurückhaltend zu sein.

Echoreiche Plaque ist mit dem Ausmaß der KHK und der postoperativen Belastung des Herzens korreliert

Welcher Aspekt oft auch nicht ausreichend betrachtet wird, ist die lokale Morbidität. Gerade bei anatomisch ungünstig gelegenen Gefäßverläufen kann es zu Nervenverletzungen kommen, die die Patienten nachhaltig beeinträchtigen. In dem schönen Artikel von Scholz et al. in diesem Heft werden nochmal expliziert diese extrem wichtigen Strukturen, die wir im Rahmen einer Operation maximal schonen sollten, dargestellt In der Literatur wird die Rate an Nervenverletzungen mit 4,6–5,6 % angegeben [5, 7].

Wenn ich diese Punkte zusammenfasse, komme ich zu folgendem Schluss:

Die erstmalige Diagnose einer asymptomatischen Stenose der A. carotis interna stellt keine eindeutige Indikation zur Revaskularsierung des Gefäßes dar. Zur weiteren Entscheidungsfindung sollten andere Parameter miteinbezogen werden. Nur 20 % der Läsionen werden weiter zunehmen [9]. Schon in den aktuellen Studien, die nur dem Stenosegrad zu Grunde legen, ist das spontane Risiko meist geringer als früher geschätzt, gerade auch unter optimaler Medikation, wobei hierbei die Plaquemorphologie meist gar nicht beachtet wurde. Hinzu kommt, dass in der Mehrheit der Fälle die Erstmanifestation der neurologischen Symptomatik nicht der Apoplex, sondern die TIA darstellt [11]. Was ist bei nachgeschalteten intrakraniellen Karotisstenosen?

Wir sind sicher alle gespannt auf die neue S3-Leitlinie. – Wenn man diese Daten liest, ist das Bedauern um den Abbruch der SPACE-2-Studie mit ihrem konservativen Arm umso größer [4]. Immerhin wird in der CREST-2-StudieFootnote 2 die konservative Therapie mit der Revaskularisierung verglichen, wobei die Publikation der Langzeitergebnisse noch lange dauern wird.

Noch schwieriger wird die Situation, wenn weitere Faktoren hinzukommen: Soll eine Karotis-interna-Stenose im Rahmen einer Herzoperation saniert werden?

Das Risiko eines Schlaganfalls ist in dieser Konstellation erhöht. Es gibt jedoch keine Evidenz, ob die Revaskularisierung einer einseitigen, hochgradigen Karotisstenose dieses Risiko senken kann. Die Daten der QS der Jahre 2014 und 2015 geben bei den Simultaneingriffen eine auffallende Schlaganfall/Todesrate von 7,12 bzw. 11,71 % an [8]. Umso bedauerlicher ist es daher, dass die CABACS-Studie aufgrund mangelnder Rekrutierung eingestellt wurde [10]. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass in der CABACS-Studie nur Koronarbypässe eingeschlossen wurden, Eingriffe an den Herzklappen oder Hoch-Risiko-Interventionen wurden nicht betrachtet. Daher gibt es nur Empfehlungen, die oft den lokalen Gegebenheiten angepasst werden. In der vorliegenden Ausgabe finden Sie eine Zusammenfassung des aktuellen Stands dieser wichtigen Problematik aus der Sicht der Herzchirurgie der Universitätsklinik Bonn (C. Probst).

In der vorliegenden Ausgabe finden Sie außerdem weitere spannende Artikel, so zur Aorta (Epidemiologie und Screening des abdominellen Aortenaneurysmas; zusammen mit dem Editorial des neuen Präsidenten der DGG), einen interessanten Fallbericht sowie den CME-Beitrag zur Typ-B-Dissektion und die Vorstellung einer neuen, innovativen Studie zur Versorgungsrealität bei PAVK (IDOMENEO).

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen der ersten Ausgabe 2017!

Herzlichst, Ihr

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Prof. Dr. A. Larena-Avellaneda