Liebe Leserinnen, liebe Leser!

Die dritte Welle der COVID-19-Krise mit annähernder Auslastung der kritischen Infrastruktur ist im Juni abgeklungen. Die Durchimpfungsraten steigen, Kollateralschäden im Gesundheitssystem und im bio-psycho-sozialen Spannungsfeld, neue Varianten und Long COVID beschäftigen uns aktuell, führen zu neuen Verunsicherungen und zeigen, dass wir uns weiterhin in einem dynamischen Prozess dieser Veränderungskrise befinden.

Langzeitfolgen in den verschiedensten Bereichen sind noch nicht klar abschätzbar. Viele Menschen und in Gesundheitsberufen Tätige zeigen chronische Stressfolgen und Erschöpfung. Die Wissenschaft steht unter erheblichem Zeit- und Erfolgsdruck, valide Daten durch Expert*innen zu liefern. Der menschliche Wunsch nach Sicherheit, die Ungeduld und Verunsicherung führen zu Misstrauen und dem Wunsch nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen. Der verständliche Wunsch ist, die Einschränkungen hinter sich zu lassen und zu vergessen, zu verdrängen und zu verleugnen. Das dynamisch Unbewusste zeigt seine Wirkung.

Wir dürfen unsere Mentalisierungsfähigkeit und qualitativ hochwertige wissenschaftliche Arbeit gerade deswegen nicht reduzieren, um konsensuelles sachliches, fachliches Wissen nicht durch in kollektiven Krisen wiederkehrend auftretende massenpsychologisch hervorgerufene unreife Abwehrmechanismen wie Verleugnung, Isolierung, Spaltung, projektive Identifizierung, Idealisierung und Entwertung der Katastrophisierung, Fanatisierung, destruktiven Chaotisierung, Antisozialität und Bedeutungslosigkeit im Konzert selbsternannter Expert*innen preiszugeben. Wissenschaftsbasierte Aufklärung ist ein ständiger Kampf der Bewusstmachung und Bewussterhaltung von evidenzbasiertem Wissen, Bedeutung und Sinn. Sigmund Freud hat diese Prozesse bereits vor einem Jahrhundert in Individuen, Gruppen und Gesellschaften beschrieben.

Umso mehr freue ich mich über die praxisorientierten, wissenschaftsbasierten und fallorientierten Beiträge dieser Ausgabe, die der konsequenten Aufklärung Rechnung tragen. Johann Sellner sensibilisiert uns für das vermehrte Auftreten von Methanolvergiftungen als Kollateralschaden der COVID-19-Pandemie durch mit Methanol verunreinigte Desinfektionsmittel oder alkoholische Getränke, chronische Intoxikation durch Inhalation nach Reinigung der Gesichtsmaske mit einem mit Methanol versetzten Mittel, das zu unklaren neurologischen Ausfällen mit Nachweis einer metabolischen Azidose führen kann. Besonders hingewiesen wird auf einen schnellen Therapiebeginn bereits im Verdachtsfall, um das Auftreten toxischer Metabolite zu unterbinden.

Herwig Oberlerchner beschreibt fokussiert Möglichkeiten proaktiver Suizidprävention an psychiatrischen Abteilungen, um die trotz gut ausgebildetem, gut geschultem und bezüglich Suizidalität hoch vigilantem Personal oftmals unerwartet auftretenden Suizide weiter zu senken.

Andreas Erfurth schließt mit der dritten Tranche eines Psychoedukationsprogramms mit 8 Modulen mit Informationen zu bipolaren Störungen und Darstellungen in Film und Literatur diesen umfassenden Wirkungskreis ab.

Hans-Klaus Goischke beschreibt neue Aspekte zur Eisentherapie des Restless-Legs-Syndroms in der Praxis anhand evidenz- und konsensbasierter Leitlinien zur oralen und i.v. Fe-Gabe.

Helmut Rauschka diskutiert das „Jumping-Stump“-Phänomen als inzwischen selten gewordene Folge einer Extremitätenamputation.

Dagmar Steinmair beschreibt Sozialisation als Identifikation mit einer sozialen Gruppe. Wenn diese als „gutes“ inneres Objekt internalisiert werden kann, stärkt dies die Mentalisierungsfähigkeit. Gerade in Zeiten gehäufter Isolierung, Einsamkeit und exzessiver Nutzung digitaler Medien und Echokammern sollte uns das zu denken geben. Interaktiv hilfreiche Kernkompetenzen ärztlichen Handelns vereinen im Sinne der Humanitas Aufklärung, Empathie, evidenzbasierte Medizin sowie eine tragfähige Arzt-Patient-Beziehung und stärken die reflexive Resilienz.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Kurt Stastka