1 Einleitung und Problemstellung

Der Betrieb des Europäischen Verbundsystems war in der Vergangenheit und ist auch heute noch geprägt durch vergleichsweise große thermische Kraftwerke (Kernkraftwerke, Dampfkraftwerke, Gasturbinenkraftwerke und Gas- und Dampfkraftwerke) sowie Wasserkraftanlagen, in denen Synchrongeneratoren großer Leistung über ihre Blocktransformatoren direkt in das Netz einspeisen. Dabei sind die rotierenden Massen des jeweiligen Wellensatzes, bestehend aus Generatorläufer und Turbinenrotor(en) sowie ggf. mitrotierenden Erregermaschinen elektromechanisch über das Drehstromnetz miteinander gekoppelt. Das Verbundnetz wirkt als virtuelle Welle zwischen allen synchron angebundenen Erzeugern und Verbrauchern elektrischer Energie. Der synchrone Betrieb ist dabei dadurch gekennzeichnet, dass zwar Torsionsschwingungen innerhalb der Wellensätze im Kraftwerk sowie Netzpendelungen zwischen einzelnen Anlagen oder Netzbereichen auftreten können, die als Torsionsschwingungen der virtuellen Welle angesehen werden können, aber die mittlere elektrische Drehzahl im gesamten Verbundgebiet gleich ist und durch die elektrische Frequenz im Drehstromsystem charakterisiert ist.

Im Bereich der ENTSO-E liegt die Nennfrequenz bei 50 Hz. Die geeignete Regelung dieser Frequenz, damit nur kurzzeitige und geringe Abweichungen von der Nennfrequenz auftreten, ist eine wesentliche und zunehmend schwerer werdende Aufgabe der Systemführung. Dazu werden Regelreserven vorgehalten, die zeitlich gestaffelt auf Abweichungen von der Nennfrequenz reagieren und Frequenzabweichungen begrenzen (Primärregelreserve PRR bzw. Frequency Containment Reserve FCR), die Frequenz regelzonenselektiv auf ihren Nennwert zurückführen (Sekundärregelreserve SRR bzw. Frequency Restoration Reserve FRR) und Regelreserven wieder freigeben (Tertiärregelreserve TRR bzw. Replacement Reserve RR). Traditionell wurden diese Regelreserven zumeist erzeugerseitig vorgehalten. Mit zunehmender Einbindung dargebotsgeführter Erzeugungsleistung aus Windkraft- und Photovoltaikanlagen erwachsen aber auch höhere Anforderungen an die Flexibilität der verbleibenden, gut in ihrer Erzeugungsleistung regelbaren Anlagen sowie die Notwendigkeit, verstärkt auf der Verbraucherseite einzugreifen (Demand Side Integration).

Außerdem sind Photovoltaikanlagen und die überwiegende Anzahl von Windkraftanlagen über leistungselektronische Konverter an das Verbundsystem angebunden und stellen damit, anders als Kraftwerke mit direkt angebundenen Synchrongeneratoren, keine rotierende Masse für das Verbundsystem zur Verfügung. Das bedeutet, dass sich die Dynamik im schwingungsfähigen Verbundsystem grundsätzlich und in den kommenden Jahren in immer stärkerem Ausmaß verändern wird. Während die oben angesprochenen Regelreserven basierend auf einer Abweichung \(\Delta f\) der Frequenz von der Nennfrequenz aktiviert werden, hängt die Änderungsrate der Frequenz \(df/dt\) (Rate of Change of Frequency, ROCOF), mit der sich diese Frequenzabweichungen einstellen, direkt von der insgesamt im System vorhandenen Schwungmasse (Inertia) ab. Je kleiner die Schwungmasse ist, desto schneller ändert sich die Frequenz bei einem Ungleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch. Zur Aktivierung von Regelreserven bleibt damit weniger Zeit, bis kritische Frequenzwerte erreicht werden, bei denen die Integrität des Verbundsystems nicht mehr gewährleistet werden kann.

Es gibt prinzipiell drei Möglichkeiten, auf diese Entwicklungen zu reagieren, solange die Ausführung des Verbundsystems als Drehstromsystem nicht grundsätzlich infrage gestellt wird: Die Aufweitung der Frequenzgrenzen, die schnellere Aktivierung von Regelreserven oder die Gewährleistung einer ausreichend großen Schwungmasse im System, bzw. eine Kombination aus diesen Ansätzen. Weil die Frequenzgrenzen, bei denen sich Erzeugungsanlagen vom Netz trennen müssen, um sich selbst zu schützen, unter anderem durch ihre mechanischen Eigenschaften vorgegeben sind und deswegen kaum Spielraum besteht, um davor gestaffelte Frequenzschwellen zu verändern, beschäftigt sich diese Arbeit mit der Betrachtung von schnellerer Regelleistung im Zusammenspiel mit der Schwungmasse im System.

2 Systemmodellierung

Für die Modellierung des Verbundsystems zur Untersuchung des dynamischen Frequenz- und Schwingungsverhaltens gibt es zwei Ansätze: Einmassenmodelle und Mehrmassenmodelle. Während das Einmassenmodell zur Nachbildung des dynamischen Verhaltens der mittleren elektrischen Drehzahl und damit der mittleren Frequenz im Verbundsystem ausreichend ist, erlauben Mehrmassenmodelle die Betrachtung von Schwingungen einzelner Schwungmassen oder ganzer Bereiche des Verbundsystems gegeneinander und um die mittlere Frequenz herum.

2.1 Einmassenmodell

Die kinetische Energie \(E_{\mathit{rot}}\), die in einer rotierenden Masse gespeichert ist, ist durch deren Rotationsgeschwindigkeit \(\omega _{\mathit{mech}}\) und ihr Massenträgheitsmoment \(J_{\mathit{mech}}\) über

$$ E_{\mathit{rot}} = \frac{1}{2}J_{\mathit{mech}}\omega_{\mathit{mech}}^{2} $$
(1)

gegeben. Dabei hängt die Rotationsgeschwindigkeit einer direkt ans Netz angebundenen Synchronmaschine mit der Netzfrequenz f über die Polpaarzahl der Synchronmaschine \(p\) als

$$ \omega_{\mathit{mech}} = \frac{2\pi f}{p} $$
(2)

zusammen. Damit wird

$$ E_{\mathit{rot}} = \frac{1}{2}\frac{J_{\mathit{mech}}}{p^{2}} \cdot ( 2\pi f ) ^{2} = \frac{1}{2}\frac{J_{\mathit{mech}}}{p^{2}} \cdot \omega^{2} = \frac{1}{2}J\omega^{2} $$
(3)

unter Verwendung der elektrischen Drehzahl \(\omega = 2\pi f\). Im weiteren Verlauf wird davon ausgegangen, dass die Massenträgheitsmomente jeweils auf ihren auf der Drehstromseite wirksamen Wert \(J = J_{\mathit{mech}}/p^{2}\) umgerechnet werden.

Die im System vorhandene Rotationsenergie bei Nennfrequenz \(f_{0} = \omega_{0}/\pi \) kann auf die Nennleistung des Systems \(S\) bezogen werden und ergibt dann die Trägheitskonstante \(H\) des Systems.

$$ H = \frac{E_{\mathit{rot}}}{S} = \frac{J\omega_{0}^{2}}{2S} $$
(4)

Anstelle der im englischen Sprachraum verbreiteten Trägheitskonstante \(H\), die auch die Einheit Sekunden besitzt, kann man die Systemanlaufzeit \(T_{A}\) definieren:

$$ T_{A} = \frac{J\omega_{0}^{2}}{S} = 2H $$
(5)

Damit sich die elektrische Drehzahl und damit die Frequenz ändert, muss der rotierenden Masse Energie zu- oder abgeführt werden. Die beschleunigende Leistung \(P_{b}\) ergibt sich als

$$ P_{b} = \dot{E}_{\mathit{rot}} = J\omega \frac{d\omega }{dt} $$
(6)

Beim Einmassenmodell entspricht die beschleunigende Leistung der Differenz \(\Delta P\) der Summe \(\sum P_{G_{0}}\) aller ins Verbundsystem eingespeisten elektrischen Wirkleistungen und der Summe \(\sum P_{L}\) aller entnommenen Wirkleistungen einschließlich der Verluste im System.

$$ \sum P_{G_{0}} - \sum P_{L} = \Delta P = J \omega \frac{d\omega }{dt} $$
(7)

Das Einmassenmodell bildet nach, dass Abweichungen von einer ausgeglichenen Leistungsbilanz im System zu Änderungen in der Systemdrehzahl und damit der Systemfrequenz führen: ein Erzeugungsüberschuss führt zu einer steigenden Frequenz, ein Erzeugungsdefizit zu einer sinkenden Frequenz. Dem Verbundsystem zu viel zugeführte Erzeugungsleistung wird in die Erhöhung der Rotationsenergie umgesetzt, zu wenig zugeführte Erzeugungsleistung wird den rotierenden Massen entnommen.

Die Änderungsrate der Frequenz auf Grund von Leistungsbilanzungleichgewichten erhält man durch Auflösen von (7) nach \(df/dt\).

$$ \frac{df}{dt} = \frac{1}{2\pi } \frac{d\omega }{dt} = \frac{1}{2 \pi } \frac{\Delta P}{J\omega } $$
(8)

Einsetzen von (5) liefert schließlich

$$ \frac{df}{dt} = \frac{\Delta P}{S} \cdot \frac{\omega_{0}^{2}}{2 \pi T_{A}\omega } = \frac{\Delta P}{S} \cdot \frac{1}{T_{A}} \cdot \frac{f _{0}^{2}}{f} = \frac{\Delta P}{S} \cdot \frac{1}{2H} \cdot \frac{f _{0}^{2}}{f} $$
(9)

Der anfängliche Frequenzgradient nach einer Störung des Gleichgewichtes zwischen Erzeugung und Verbrauch ist direkt proportional zur Größe der Störung bezogen auf die Gesamtsystemgröße, und umgekehrt proportional zur Systemanlaufzeitkonstante.

Es sei angemerkt, dass eine ausgeglichene Bilanz zwischen Erzeugung und Verbrauch nicht bedeutet, dass die Netzfrequenz bei 50 Hz liegt, sondern lediglich, dass sie sich nicht verändert und konstant bleibt.

2.2 Erweiterung um Frequenzabhängigkeit der Last

Auch wenn zunehmend drehzahlgeregelte Antriebe Verwendung finden, zeigt die Last eine leichte selbststabilisierende Abhängigkeit von der Frequenz. In der Vergangenheit konnte man dabei von einer Abhängigkeit der Last von etwa \(k_{L}=1\ldots 2\) %/Hz ausgehen, d.h. die Last wird um etwa \(1\ldots 2\)% kleiner bzw. größer, wenn die Frequenz um 1 Hz nach unten bzw. oben von ihrem Nennwert abweicht.

$$ \sum P_{L} = \sum P_{L_{0}} [ 1 + k_{L} \cdot \Delta f ] $$
(10)

Dabei ist \(\Delta f = f-f_{0}\) die Abweichung der Frequenz von der Nennfrequenz. Einsetzen in (9) unter Verwendung von (7) ergibt

$$\begin{aligned} \frac{df}{dt} =& \frac{\sum P_{G_{0}} - \sum P_{L_{0}} [ 1 + k _{L} \cdot \Delta f ]}{S} \cdot \frac{1}{2H} \cdot \frac{f_{0} ^{2}}{f} \\ =& \frac{\Delta P_{0}}{S} \cdot \frac{1}{2H} \cdot \frac{f _{0}^{2}}{f} - \frac{\sum P_{L_{0}} k_{L} \cdot \Delta f}{S} \cdot \frac{1}{2H} \cdot \frac{f_{0}^{2}}{f} \end{aligned}$$
(11)

Hier wurde noch \(\Delta P_{0}=\sum P_{G_{0}}-\sum P_{L_{0}}\) eingeführt. Es ist erkennbar, dass die Frequenzabhängigkeit der Last systemisch wie eine stabilisierende Leistung auf Frequenzabweichungen wirkt. Weil sie, im Gegensatz zu anderen Regelleistungen, unmittelbar dämpfend und nicht mit ihrer Aktivierungszeit verzögert auf Frequenzabweichungen wirkt, hat sie ebenfalls einen wichtigen Einfluss auf das dynamische Verhalten nach Abweichungen im Leistungsgleichgewicht.

2.3 Mehrmassenmodell

Das Einmassenmodell ist gültig, solange die Integrität des Verbundsystems erhalten bleibt und durch eine enge Vermaschung des Netzes nur geringe Pendelungen der rotierenden Einzelmassen um die mittlere Systemfrequenz herum stattfinden. Es ist dagegen nicht geeignet, um genau solche Pendelungen zu beschreiben.

Ein Mehrmassenmodell, das diese Beschreibung ermöglicht, hat als mechanische Analogie ein verteiltes System aus mehreren massenbehafteten Körpern (den rotierenden Massen einzelner Anlagen bzw. regionalen Gruppen von Anlagen entsprechend), die mit Federn miteinander verbunden sind (Abb. 1a). Eine andere intuitive Modellvorstellung besteht aus miteinander kommunizierenden Gefäßen, in denen eine Flüssigkeit hin- und herschwappt (Abb. 1b).

Abb. 1.
figure 1

Verschiedene Modellvorstellungen beispielhaft für einen 6-Massenschwinger (a) und einen 2-Massenschwinger (b)

In diesem Beitrag wird das Zusammenwirken schneller Regelleistung anhand des Einmassenmodells betrachtet. Für eine Untersuchung des Einflusses regional unterschiedlich verteilter Regelleistungserbringung, zur Beschreibung von Oszillationen im Verbundsystem und zur Analyse von verschiedenen Verfahren zur Dämpfung solcher Oszillationen muss es entsprechend erweitert werden.

3 Szenarien für die Entwicklung von Erzeugungsstruktur und Schwungmasse im System

Getrieben durch klimapolitische Vorgaben gehen die allermeisten Szenarien zur Erzeugungsstruktur elektrischer Energie von einem weiterhin starken Ausbau erneuerbarer Erzeugungsanlagen, insbesondere Windkraft und Photovoltaik, und einer Stilllegung großer thermischer Anlagen, insbesondere Kernkraftanlagen in einigen europäischen Ländern aus. Eine direkte Auswirkung davon ist der zu erwartende Rückgang der Schwungmasse im System, weil neue Anlagen zur Nutzung regenerativer Energiequellen häufig über Umrichter mit dem Netz verbunden sind.

Der „Scenario Outlook and Adequacy Forecast (SO&AF)“ Report betrachtet über einen Zeitraum von zehn Jahren für 2016, 2020 und 2025 Szenarien für die Entwicklung der Erzeugungsstruktur und Verfügbarkeit von Kraftwerksleistung im Bereich der ENTSO-E und geht dabei von einem starken Anstieg der Erzeugung aus regenerativen Quellen aus [1]. Diese Entwicklung spiegelt sich auch im Ten Year Network Development Plan (TYNDP) 2018 der ENTSO-E [2], wobei hier Szenarien für die Jahre 2020, 2025, 2030 und 2040 betrachtet werden. Noch weiter bis 2050 geht das EU Reference Scenario 2016. [3]

Im TYNDP 2016 [4] und im zugeordneten Insight Report „Viability of the energy mix“ [5] wird noch genauer auf die Auswirkung dieser Veränderungen auf die Trägheitskonstante des Systems eingegangen.

Für die dort betrachteten Szenarien liegt die Trägheitskonstante H des Synchronbereichs ENTSO-E RG CE immer unterhalb eines heute noch als wirksam angenommenen Mindestwertes von 5 s und unterschreitet zu einigen Zeiten den Wert von 3 s, in manchen Szenarien sogar den Wert von 2 s (Abb. 2).

Abb. 2.
figure 2

Bandbreite der Jahresdauerlinien der Trägheitskonstante \(H\) im Synchronbereich ENTSO-E RG CE für unterschiedliche Szenarien zwischen den Jahren 2020 und 2030, eigene Darstellung nach [5]

In [6] wird diese Entwicklung noch auf die einzelnen Länder innerhalb des Bereichs der ENTSO-E abgebildet (Abb. 3).

Abb. 3.
figure 3

Mögliche Entwicklung der Trägheitskonstanten für die jeweiligen Landesnetze innerhalb ENTSO-E für das Jahr 2030. Grün: \(H>4~\mbox{s}\), gelb: \(3~\mbox{s}< H <4~\mbox{s}\), orange: \(2~\mbox{s}< H<3~\mbox{s}\), rot: \(H<2~\mbox{s}\), Eigene Darstellung nach [6] (Farbabbildung online)

In den folgenden Betrachtungen wird davon ausgegangen, dass sich die Trägheitskonstante des Gesamtsystems in besonders kritischen Erzeugungssituationen von derzeit \(H=5~\mbox{s}\) auf \(H=2~\mbox{s}\) reduziert.

4 Auswirkung reduzierter Schwungmasse im System

Die Primärregelung reagiert auf Abweichungen von der Nennfrequenz, indem außerhalb eines Totbandes von \(\Delta f \pm 10~\mbox{mHz}\) um die Nennfrequenz herum proportional zur Frequenzabweichung bei negativen Frequenzabweichungen zusätzliche Leistung eingespeist bzw. bei positiven Frequenzabweichungen eine Reduktion der eingespeisten Leistung durch die beteiligten Anlagen erfolgt. Bei Frequenzabweichungen von \(\Delta f \pm 200~\mbox{mHz}\) muss die volle Primärregelleistung von derzeit 3000 MW bereitgestellt werden. Diese Primärregelreserve muss mindestens rampenförmig innerhalb von 30 s aktiviert werden, Teilabrufe entsprechend aliquot schneller. Tatsächlich übererfüllen heute noch viele Anlagen wie zum Beispiel thermische Kraftwerke, die Primärregelleistung zur Verfügung stellen, diese dynamischen Anforderungen aufgrund ihrer inneren Regler- und Ventildynamik. Für die Modellierung wird aber angenommen, dass die rampenförmige Dynamikkennlinie nicht überschritten wird. Damit bewegen sich die Ergebnisse auf der sicheren Seite.

Damit kann unter Annahme der Systemeigenschaften für die Design Hypothesis [7], nämlich \(\Delta P_{0}=-3000~\mbox{MW}\), \(S=150~\mbox{GW}\), \(T_{ A}=10~\mbox{s}\) (\(H=5~\mbox{s}\)), \(k_{L}=1\) %/Hz sichergestellt werden, dass die Systemfrequenz ausgehend von 50 Hz transiente nicht auf Werte unterhalb von 49,2 Hz abfällt und der Frequenznadir damit sicher oberhalb von 49 Hz zu liegen kommt, womit frequenzabhängiger Lastabwurf vermieden werden kann (Abb. 4). Unter der Annahme von \(T_{A}=4~\mbox{s}\) (\(H=2~\mbox{s}\)) und ansonsten unveränderten Werten für die Design Hypothesis ist das offensichtlich nicht mehr möglich.

Abb. 4.
figure 4

Frequenzverlauf der Design Hypothesis bei abnehmender Systemanlaufzeitkonstante

5 Möglichkeiten zur Bereitstellung von synthetischer Schwungmasse und schneller Regelleistung

Zur Gewährleistung einer ausreichenden Frequenzstabilität im Verbundsystem ergeben sich aus den vorangegangenen Ausführungen also drei Lösungsansätze, die auf der schnelleren Bereitstellung von Regelleistung basieren: Sicherstellung einer ausreichend großen reellen Schwungmasse („real inertia“ RI) im System, Einspeisung von zusätzlicher Erzeugungsleistung basierend auf dem Frequenzgradienten \(df/dt\) in das System (künstliche Schwungmasse, „synthetic inertia“ SI oder „virtual inertia“ VI), und Einspeisung von zusätzlicher Erzeugungsleistung basierend auf der Frequenzabweichung \(\Delta f\), aber schneller als bisher für die Erbringung von FCR gefordert („enhanced frequency response“ EFR).

5.1 Reelle Schwungmasse

Gesetzt den Fall, dass die Einspeisung von künstlicher Schwungmasse eine zu vergütende Netzdienstleistung wird bzw. über Anforderungen in den Netzanschlussbedingungen umgesetzt wird, ist schwer zu vermitteln, dass die Einbindung von tatsächlicher Schwungmasse schlechter gestellt sein sollte. Ein Ansatz, um tatsächliche Schwungmasse über Inertia Certificates zu handeln und zu vergüten, wurde in [8] vorgestellt.

Spannungsbildende Umrichter können sich dynamisch gegenüber Frequenzgradienten ähnlich wie tatsächlich schwungmassenbehaftete Erzeugungsanlagen verhalten, solange ihre Strombegrenzung nicht anspricht und ein geeignetes Regelverfahren gewählt wird [9]. Allerdings besteht bei ihrer Regelung die Herausforderung, supersynchrone Instabilitäten zu vermeiden [6]. Dennoch könnten Erzeugungsanlagen, die auf dieser Technologie basieren, in ein Schema zur Sicherstellung reeller Schwungmasse eingebunden werden.

5.2 Synthetische Schwungmasse

Bei allen Anlagen, bei denen die Schwungmasse nicht inhärent vorhanden ist bzw. durch das Regelverfahren inhärent nachgebildet wird, besteht die Problematik, die entsprechende Reaktion auf Gradienten der Frequenz tatsächlich umzusetzen. Eine große Herausforderung ist dabei die ausreichend schnelle und genaue Messung der Frequenz und die darauf basierende Ermittlung der Frequenzgradienten. Übliche Verfahren zur Frequenzmessung unter Verwendung von Nulldurchgängen oder Lösungen unter Verwendung von Phasenregelschleifen („phase locked loops“, PLL) reagieren aufgrund der hier notwendigen Filterung vergleichsweise träge und können deswegen nur mit Verzögerung eine synthetische Schwungmasse realisieren. Durch den Einsatz von raumzeigerbasierter Frequenzmessung, wie sie auch in Phasor Measurement Units (PMU) umgesetzt werden kann, lässt sich diese Reaktion zwar beschleunigen, sie wird aber immer etwas langsamer erfolgen als diejenige reeller Schwungmassen [10].

5.3 Enhanced frequency response

Die Vorgabe des Wertes von 30 s als Zeit für die vollständige Aktivierung der Primärregelreserve im Synchronbereich ENTSO-E RG CE ist bedingt durch die bislang ausreichende Dynamik der Regelfähigkeit von thermischen Kraftwerken, die Primärregelreserve vorhalten können. Leistungselektronisch angebundene Anlagen, die über entsprechende Leistungs- und Energiereserven verfügen, bieten dagegen eine deutlich bessere Dynamik und können ihren Arbeitspunkt über einen weiten Bereich wesentlich schneller ändern. Diese Regelfähigkeit wird seit 2016 in Großbritannien als Enhanced Frequency Response vermarktet. Aktivierungs- und Haltezeiten sind dabei deutlich kleiner als die der ursprünglichen Primärregelleistung. Vereinfacht stellt EFR also eine Regelleistung dar, die wie PRL auf Frequenzabweichungen basiert, und von der PRL abgelöst wird, genau wie PRL von SRL und SRL von TRL abgelöst wird.

6 Bedarf an schneller Regelleistung

Zur Ermittlung des Bedarfs an schneller Regelleistung ist es zunächst erforderlich, das Regelgesetz für die Erbringung dieser Regelleistung zu definieren. Die dabei verwendeten Parameter haben dabei entscheidenden Einfluss auf das Systemverhalten. Für eine erste Abschätzung des Bedarfs wird hier von einem System nach Design Hypothesis wie in Abschn. 4 mit reduzierter Trägheitskonstante \({H = 2~\mbox{s}}\) ausgegangen. Zusätzlich wird als Enhanced Frequency Response eine zur Frequenzabweichung \(\Delta f\) proportionale Regelleistung \(P_{\mathit{EFR}}\) modelliert, die nicht wie PRL innerhalb von 30 s, sondern schon innerhalb von 1 s und bei Frequenzabweichungen von ±200 mHz vollständig aktiviert wird und nach 10 s rampenförmig innerhalb von 20 s zurückgefahren wird (d.h. dass sie nach 30 s vollständig von PRL abgelöst worden ist). Außerdem wird als synthetische Schwungmasse eine Regelleistung \(P_{\mathit{SI}}\) definiert, die der folgenden Übertragungsfunktion genügt:

$$ P_{\mathit{SI}} ( s ) = k_{\mathit{SI}} \cdot \frac{s \cdot \Delta f}{1 + sT _{\mathit{SI}}} $$
(12)

Dabei modelliert \(T_{\mathit{SI}}\) die durch Frequenzmessung und Aktivierung verursachte Zeitkonstante, die mit 500 ms angenommen wird, und \(k_{\mathit{SI}}\) einen Verstärkungsfaktor, der die Größe der aktivierten Regelleistung definiert. Der Term \(s \cdot \Delta f\) zeigt, dass \(P_{\mathit{SI}}\) in Abhängigkeit vom Frequenzgradienten bestimmt wird. Die Primärregelleistung wird als zur Frequenzabweichung proportionale Regelleistung mit einem Totband von ±10 mHz modelliert, die auf 3 GW begrenzt ist und bei einer stationären Frequenzabweichung von ±200 mHz vollständig aktiviert ist. Diese Aktivierung ist mit einem maximalen Gradienten von ±3GW/30 s begrenzt, um die rampenförmige Mindest-Dynamik zu berücksichtigen.

Abbildung 5 zeigt die Verläufe der Systemfrequenz für die Design Hypothesis (\(H=5~\mbox{s}\)), sowie für die modifizierte Design Hypothesis (\(H=2~\mbox{s}\)) und zusätzlicher Aktivierung von SI, EFR bzw. einer Kombination von SI und EFR. Diese sind dabei jeweils so dimensioniert, dass der Frequenznadir wie bei der Design Hypothesis oberhalb von 49,2 Hz zu liegen kommt.

Abb. 5.
figure 5

Design Hypothesis bei aktueller (\(H=5~\mbox{s}\)) und reduzierter (\(H=2~\mbox{s}\)) Trägheitskonstante bei unterschiedlicher Zusammensetzung schneller Regelleistung

Es sind bei alleiniger Ergänzung der Primärregelleistung durch SI etwa 1600 MW schneller Regelleistung als synthetische Schwungmasse nach dem Regelgesetz in Gleichung (12) notwendig, um die Frequenz nach dem Referenzstörfall bei reduzierter Trägheitskonstante oberhalb von 49,2 Hz zu halten. Weil die synthetische Schwungmasse mit der angenommenen kurzen Verzögerungszeit reagiert, weicht der Frequenzverlauf geringfügig von dem der ursprünglichen Design Hypothesis ab. Aber auch durch alleinige Einspeisung von 760 MW schneller Regelleistung als EFR ergänzend zur langsameren Primärregelleistung bleibt die Frequenz oberhalb von 49,2 Hz. Allerdings ist nun der Frequenzgradient in den ersten Sekunden nach Auftreten des Leistungsungleichgewichtes deutlich größer, und der Nadir wird wesentlich früher erreicht. Eine Kombination von synthetischer Schwungmasse und EFR zusammen mit der Primärregelleistung zeigt, dass deutlich weniger SI benötigt wird, wenn gleichzeitig EFR zur Verfügung gestellt wird. Dies liegt daran, dass aufgrund der hier modellierten hohen Dynamik der EFR [11] der Bedarf an synthetischer Schwungmasse überproportional mit abnehmender EFR-Vorhaltung steigt.

7 Konklusion

Durch die Veränderungen in der Erzeugungsstruktur im Europäischen Verbundsystem ist ein Absinken der Systemträgheitskonstante zu erwarten, insbesondere zu Zeiten, in denen der Bedarf aus leistungselektronisch angebundenen Anlagen gedeckt wird. Dadurch erhöht sich die Anfälligkeit des Systems gegenüber Abweichungen in der Bilanz aus Erzeugung und Verbrauch elektrischer Energie. Die derzeitige Dynamik der Primärregelleistung wird nicht ausreichen, um Ungleichgewichte schnell genug auszugleichen. Deswegen wird zukünftig schnellere Regelleistungserbringung notwendig sein. Der Bedarf hängt dabei neben den vorauszusetzenden Systemeigenschaften von der Zusammensetzung und Parametrierung dieser Regelleistungen ab. Diese Wechselwirkungen werden deswegen weiter zu untersuchen sein.