Hintergrund und Fragestellung

Die Frühgeborenenretinopathie („retinopathy of prematurity“ [ROP]), eine postnatale pathologische Gefäßentwicklung der Netzhaut, zählt zu den häufigsten Erblindungsursachen bei Kindern in Deutschland und weltweit [12]. Die Netzhautgefäße entwickeln sich bis ins fortgeschrittene Schwangerschaftsstadium. Frühgeburtlichkeit kann diesen Prozess negativ beeinflussen. Ausprägungsabhängig können verschiedene Residualstadien bis hin zur traktiven Netzhautablösung resultieren. Die steigende Zahl und Überlebensfähigkeit extrem Frühgeborener erhöhen die Inzidenz der behandlungsbedürftigen ROP [3]. Dies unterstreicht die Wichtigkeit eines adäquaten Screenings [10]. Das ROP-Screening kann auch telemedizinisch erfolgen und ermöglicht eine rechtzeitige Diagnostik und Intervention unter Vermeidung von Transporten der fragilen Kinder [4, 16]. Wir berichten über Ergebnisse des ROP-Screenings von 2009 bis 2019 an den Level-1-Perinatalzentren des Universitätsklinikums Gießen (UKGM, Gießen) und der nichtuniversitären DRK-Kinderklinik in Siegen (Siegen). An den Perinatalzentren der Universitätskliniken Bonn und Freiburg wurde 2012 bis 2016 eine Zunahme der ROP-Inzidenz beobachtet [13]. Ziel ist deshalb die Einordnung unserer Ergebnisse in den nationalen und internationalen Kontext. Wir analysieren, ob sich die Ergebnisse beim telemedizinischen Vorgehen mit Untersuchung durch Kinderärzte von den Ergebnissen des augenärztlichen Vor-Ort-Screenings unterscheiden, wenn Bildbefundung und Therapie immer durch dasselbe augenärztliche Team erfolgen. Über die Netzhautuntersuchung mittels spezieller Weitwinkelkamera ausschließlich durch Kinderärzte ist unseres Wissens in Deutschland bisher nicht berichtet worden.

Studiendesign und Untersuchungsmethoden

Für diese Studie liegt ein positives Votum der Ethikkommission der Justus-Liebig-Universität Gießen vor (AZ 251/19). Die retrospektive Analyse der Ergebnisse des ROP-Screening-Programms umfasst einen 10-jährigen Zeitraum (01.04.2009 bis 31.03.2019). Der Studienbeginn wurde bestimmt durch den Start des telemedizinischen Screenings in Siegen. Anhand des Geburtsjahres wurden die Kinder dem Untersuchungsjahr des ersten Screenings zugeordnet. Untersuchungsjahre wurden für die Auswertung als 12-Monats-Abschnitte zwischen dem 01.04. und dem 31.03. des Folgejahres definiert, entsprechend 120 Monaten. Die Screeninguntersuchungen erfolgten entsprechend der im Untersuchungszeitraum geltenden S1k-Leitlinie [10]. Indikationen waren (1) Gestationsalter (GA) < 32 + 0 Wochen (SSW), unabhängig vom Geburtsgewicht (GG) und einer zusätzlichen Sauerstoffgabe oder (2) GG ≤ 1500 g bei nicht sicher bekanntem GA oder (3) kumulierte 72-stündige postnatale Gabe von Sauerstoff zwischen einem GA von 32 + 0 und 36 + 0 SSW. Die erste Screeninguntersuchung erfolgte in der 6. postnatalen Woche, aber nicht vor einem postmenstruellen Alter (PMA) von 31 + 0 Wochen (W). Die Screeninguntersuchungen wurden bis zum Erreichen einer stabilen Netzhautsituation oder des errechneten Entbindungstermins fortgeführt. Die Daten der vorliegenden Studie wurden auch im Hinblick auf die neue S2k-Leitlinie analysiert [17].

In Siegen erfolgte die Netzhautuntersuchung in medikamentöser Mydriasis durch trainierte Pädiater ausschließlich mittels einer digitalen Weitwinkelkamera (RetCam, Clarity, Pleasanton, Kalifornien, USA). Die Befundung erfolgte telemedizinisch durch Gießener Fachärzte für Augenheilkunde mit besonderer Erfahrung in der Untersuchung von Fundusveränderungen Frühgeborener. In Gießen wurden alle Kinder vor Ort von denselben Augenärzten untersucht und befundet. Die Untersuchung erfolgte bis 2014 mittels indirekter binokularer Fundoskopie, seit 2014 zunehmend mittels der digitalen Weitwinkelkamera; in den letzten Jahren wurden alle Kinder so gescreent. Abhängig vom diagnostizierten ROP-Stadium erfolgte die Therapie leitliniengerecht vor Ort durch dasselbe Augenärzteteam [10]. In Einzelfällen wurden Siegener Kinder mit höhergradiger ROP für weitere Spezialuntersuchungen und die anschließende Behandlung nach Gießen verlegt. Alle externen Kinder, deren ROP-Screening und Diagnose auswärts erfolgt waren und die nur für die Therapie nach Gießen verlegt wurden, werden bei den statistischen Auswertungen, wenn nicht anders explizit erwähnt, nicht berücksichtigt. Siegener Kinder, die zusätzlich in Gießen untersucht und/oder therapiert wurden, wurden nur dem Standort Siegen zugerechnet. Gießener Kinder wurden stets nur in Gießen untersucht und therapiert.

Die statistische Analyse erfolgte mittels Excel 365 (Microsoft, Redmond, WA, USA) und GraphPadPrism 9 (GraphPad Software, San Diego, Kalifornien, USA), die Signifikanztestung mittels Student-t-Test. Als signifikant wurden p-Werte < 0,05 bewertet.

Ergebnisse

Demografische Parameter

Die Tab. 1 zeigt die demografischen Daten. Insgesamt wurden 1191 Kinder auf eine akute ROP gescreent, es erfolgten 3923 Netzhautuntersuchungen; 1162 Kinder wurden in Gießen bzw. Siegen geboren, 29 (2,4 %) wurden von extern nach Gießen verlegt. Im Mittel erfolgten 4 Untersuchungen pro Kind (± 3,3; min 1; max 26); 357 (30,7 %) waren Mehrlingsgeburten (330 Zwillinge, 23 Drillinge, 4 Vierlinge). Im gesamten Untersuchungszeitraum verstarben unabhängig vom Screeningprogramm und von augenärztlichen Behandlungen an Begleiterkrankungen in Gießen 3 und in Siegen 1 Kind, nachdem das korrigierte Alter für ein Erstscreening erreicht wurde.

Tab. 1 Demografie vor Ort gescreenter Frühgeborener

Screeninguntersuchungen

Die Anzahl der untersuchten Kinder stieg in Gießen insgesamt von 20 (2009) auf 80 in 2018 (+ 300 %) trotz Jahresschwankungen (s. Abb. 1a). Siegen zeigt einen geringeren Anstieg von 38 (2009) auf 58 Kinder in 2018 (52,6 %) bei ebenfalls deutlichen Jahresschwankungen; 2009 bis 2012 erfolgten in Siegen insgesamt mehr Screeninguntersuchungen (Abb. 1b). Seit 2013 zeigt sich ein Anstieg der Screeninguntersuchungen in Gießen. Im Mittel erhielten die Gießener 3,2 (± 3,2) Untersuchungen, die Externen 7,2 (± 4,6) und die Siegener 3,4 (± 3,2) Untersuchungen (Abb. 1b Sekundärachse); 59 von 571 (10,3 %) Siegener haben mindestens eine zusätzliche Untersuchung vor Ort in Gießen erhalten.

Abb. 1
figure 1

Kinder im Screeningprogramm (a) und Screeninguntersuchungen (b), Gießen und Siegen pro Jahr, 2009–2019. Ausgewertet wurden 1162 Kinder (1191 inklusive Externe) und 3713 (3923 inklusive Externe) Screeninguntersuchungen. Externe Kinder nahmen nicht am Screeningprogramm teil und wurden nur für die Therapie nach Gießen verlegt. Sekundärachse mit mittleren Untersuchungen pro Kind (b). 1 Untersuchungsjahr = 12 Monate = 01.04.–31.03.

Neonatologische Parameter gescreenter Kinder

In Gießen betrug das mittlere GA 28,8 SSW (± 2,5) und das mittlere GG 1144,5 g (± 425,7); in Siegen das mittlere GA 29,1 SSW (± 2,6) und das mittlere GG 1196,7 g (± 404,9). Die Mittelwerte der Studienpopulationen beider Kliniken waren im Studienverlauf weitgehend gleichbleibend (Abb. 2 und 3). Sowohl GA als auch GG der Kinder mit ROP waren gegenüber der gesamten Studienpopulation signifikant niedriger (GA und GG Gießen, GA Siegen p < 0,0001; GG Siegen p = 0,0002). Die Mittelwerte der Behandlungsbedürftigen waren in beiden Kliniken nahezu durchgehend nochmals niedriger. An beiden Standorten ist erwartungsgemäß eine inverse Korrelation von niedrigem GA bzw. GG mit dem Auftreten einer behandlungsbedürftigen ROP zu erkennen (Abb. 4). In Gießen lag bei Behandlungsbedürftigen in 59,1 % ein GA < 25 + 0 SSW und in 45,5 % ein GG von < 500 g vor, in Siegen ein GA < 25 + 0 SSW in 63,4 % und ein GG von < 500 g in 22,0 %.

Abb. 2
figure 2

Durchschnittliches GA gescreenter und erkrankter Kinder in Gießen (a) und Siegen (b) pro Jahr, 2009–2019. Ohne Externe. Zur besseren Übersicht wurde die einfache Standardabweichung in Form von Fehlerbalken nur in eine Richtung aufgetragen. 1 Untersuchungsjahr = 12 Monate = 01.04.–31.03.

Abb. 3
figure 3

Durchschnittliches GG gescreenter und erkrankter Kinder in Gießen (a) und Siegen (b) pro Jahr, 2009–2019. Ohne Externe. Zur besseren Übersicht wurde die einfache Standardabweichung in Form von Fehlerbalken nur in eine Richtung aufgetragen. 1 Untersuchungsjahr = 12 Monate = 01.04.–31.03.

Abb. 4
figure 4

Anteil Frühgeborener ohne ROP, Frühgeborener mit spontan regredienter und Frühgeborener mit behandlungsbedürftiger ROP in Relation zum Gestationsalter (a) und Geburtsgewicht (b), Gießen und Siegen, 2009–2019. Ohne Externe

ROP-Diagnosen und Behandlungen

Die Anzahl der ROP-Fälle bezogen auf das jährliche Screeningkollektiv wies trotz einigen Schwankungen von ± 11,7 % (min 14,3 % in 2011; max 55,0 % in 2009) eine steigende Tendenz in Gießen auf. Siegen zeigte trotz größerer Schwankungen einen vergleichbaren Anteil an ROP-Fällen mit ± 8,4 % (min 14,3 % in 2013; max 45,9 % in 2011) (Abb. 5a). ROP-Erkrankte benötigten 5,8 (± 4,1) Untersuchungen in Gießen und 6,2 (± 4,3) Untersuchungen in Siegen. Die Sekundärachse in Abb. 5a verdeutlicht den im Mittel höheren Untersuchungsaufwand ROP-Erkrankter im Vergleich zur Gesamtkohorte (Abb. 1b Sekundärachse). Die Zahlen der Behandelten zeigten sich an beiden Standorten wechselhaft (Abb. 5b). Das durchschnittliche PMA bei der ROP-Erstdiagnose Behandelter lag in Gießen bei 35,0 (± 4,1) und in Siegen bei 33,7 W (± 2,6). Als universitäres Behandlungszentrum wurden in Gießen zusätzlich zu den in domo gescreenten und therapierten Kindern externe Kinder für die Therapie zuverlegt. Dadurch kam es zu einem deutlichen Anstieg der Behandlungen in den Jahren 2013 und 2015 mit jeweils 8 behandlungsbedürftigen Kindern. In Siegen zeigten sich die Behandlungszahlen schwankend und wiesen Höhepunkte in den Jahren 2011 (n = 12), 2014 (n = 8) und 2017 (n = 5) auf (Abb. 5b).

Abb. 5
figure 5

ROP-Kinder mit Screening-Untersuchungen im Mittel pro Kind (a) und therapiebedürftige Kinder, einschließlich Externer (b), Gießen und Siegen pro Jahr, 2009–2019. Ausgewertet wurden 1162 Gescreente, 394 Erkrankte und 63 (92 inkl. Externe) Behandelte. Sekundärachse mit mittleren Untersuchungen pro Kind (a). 1 Untersuchungsjahr = 12 Monate = 01.04.–31.03.

Die Tab. 2 zeigt die weitgehend symmetrische Verteilung der ROP-Erkrankung auf die Augenpaare zum Zeitpunkt der maximalen Ausprägung. Vereinzelt zeigen sich leichte Abweichungen in den Stadien 1 und 2. Die Asymmetrie kommt in diesen Fällen durch das Vorliegen eines jeweils erkrankten und gesunden Auges zustande.

Tab. 2 Übersicht vor Ort gestellter ROP-Diagnosen, eingeteilt nach ROP-Stadien und -Zonen, unter einzelner Betrachtung des linken und rechten Auges zum Zeitpunkt der maximalen Ausprägung, Gießen und Siegen, 2009–2019a

Im Folgenden umfassen Stadien 2 und 3 auch Prä-Plus- oder Plus-Formen. Sie werden analog zu anderen Statistiken [2, 13, 22] nicht explizit aufgeführt. In Gießen hatten 65,5 % Kinder keine ROP. In Bezug auf alle vor Ort gescreenten Kinder wurde Stadium 1 zu 14,4 % diagnostiziert, Stadium 2 zu 9,3 %, Stadium 3 zu 10,5 % und die AP-ROP zu 0,3 % (2 Kinder). Zone I war zu 3,4 % betroffen, Zone II zu 65,2 % und Zone III zu 31,4 %. In Siegen hatten 66,7 % keine ROP. Stadium 1 wurde zu 8,8 % diagnostiziert, Stadium 2 zu 11,6 %, am häufigsten Stadium 3 zu 12,1 % und die AP-ROP zu 0,9 % (5 Kinder). Zone I war zu 3,2 % betroffen, Zone II zu 80,0 % und Zone III zu 16,8 %.

An beiden Standorten zeigte sich über den 10-Jahres-Verlauf mit steigender Anzahl der Screeninguntersuchungen eine steigende Tendenz der Ausprägung eines früheren ROP-Stadiums (Suppl. Abb. S1). Bei Betrachtung der Therapiehäufigkeit nach behandelter ROP-Zone wird deutlich, dass die meisten Kinder an beiden Standorten mit Zone II behandelt wurden: in Gießen Zone I in 29,2 %, Zone II in 66,7 %, Zone III in 4,2 % und in Siegen Zone I in 14,6 %, Zone II in 85,4 %, keine Behandlung in Zone III.

Von 1162 gescreenten Kindern wurden 63 (5,4 %) im Verlauf behandlungsbedürftig. Die reine Laserkoagulation kam an beiden Standorten am häufigsten zur Anwendung; in Gießen zu 38,1 % und in Siegen zu 56,1 % (Tab. 3). Das PMA bei der ersten Behandlung lag in Gießen im Mittel bei 37,2 W (± 2,8; min 33,1; max 43,6) und in Siegen bei 36,2 W (± 2,6; min 32,0; max 42,9). Die Tab. 4 und Abb. 5 und 6 zeigen die zeitliche Entwicklung der verschiedenen Behandlungsmodalitäten und die detaillierte Darstellung der Behandlungen.

Tab. 3 Behandlungen vor Ort gescreenter Frühgeborener, Gießen und Siegen, 2009–2019
Tab. 4 Absolutes PMA bei Behandlungen vor Ort gescreenter Frühgeborener: IVOM mit Laserkoagulation im Intervall, Gießen und Siegen, 2009–2019
Abb. 6
figure 6

Behandlungen vor Ort gescreenter Frühgeborener in Gießen und Siegen pro Jahr, 2009–2019. Laser transpupilläre Laserkoagulation, Kryo transkonjunktivale Kryokoagulation, IVOM transpupilläre operative Medikamentenapplikation mittels Bevacizumab oder Ranibizumab. 1 Untersuchungsjahr = 12 Monate = 01.04.–31.03.

Bei den 29 externen Kindern wurde das Stadium 1 nie diagnostiziert, Stadium 2 zu 3,4 %, Stadium 3 zu 58,6 %, Stadium 4 zu 27,6 %, Stadium 5 zu 6,9 % und AP-ROP zu 3,4 %. Am häufigsten war Zone II (51,7 %) betroffen. Durchschnittliches GA 25,9 SSW (± 2,2) GG 719,6 g (± 226,1). Externe hatten tendenziell ein höheres ROP-Stadium in einer zentralen Zone (s. Suppl. Tab. S1).

Diskussion

Diese retrospektive Studie analysierte die Ergebnisse der ROP-Screeninguntersuchungen von 2009 bis 2019 an 2 deutschen Level-1-Perinatalzentren, der Universitäts-Augenklinik Gießen und der nichtuniversitären DRK-Kinderklinik Siegen. Im Untersuchungszeitraum orientierten sich beide Kliniken an der damals gültigen ROP-Screening-S1k-Leitlinie [10]. Die Gießener Kinder wurden vor Ort gescreent und durch das Gießener Augenärzteteam befundet und therapiert. In Siegen erfolgte das Screening ausschließlich durch Kinderärzte, die Befundung telemedizinisch durch dasselbe Gießener Augenärzteteam.

Von insgesamt 1162 Gescreenten entwickelten 394 Kinder (33,9 %) eine ROP, und 63 (5,4 %) wurden im Verlauf behandlungsbedürftig (Gießen: 3,7 %, Siegen: 7,2 %). In Gießen wurden aufgrund der insgesamt größeren Kohorte mehr Screeninguntersuchungen durchgeführt (Gießen: 1911, Siegen: 1802), dabei war im Mittel der Behandlungsbedarf in Siegen zu Anfang der Kooperation mit Gießen erhöht, was der anfänglich höheren Anzahl an Gescreenten geschuldet ist (Abb. 4a). Unsere telemedizinische Herangehensweise erwies sich als sicher, denn in der Durchführung und Auswertung auf telemedizinischer Basis im Vergleich zum Vor-Ort-Screening zeigten sich in Hinsicht auf eine rechtzeitige Diagnose keine Unterschiede. Alle behandlungsbedürftigen Kinder wurden erfasst, und die Stadienverteilung war an beiden Standorten ähnlich und konstant. An beiden Standorten wurden alle Kinder rechtzeitig in einem frühen Stadium diagnostiziert, kein Kind war mit einem GA > 29 + 0 SSW behandlungsbedürftig. Über den Studienzeitraum war die Zahl der behandlungsbedürftigen Kinder annähernd gleich, 2014/2015 zeigt sich sogar ein Rückgang. Unter den 63 Behandlungsbedürftigen wurde bei keinem Kind ein Stadium 4 oder 5 diagnostiziert, dagegen bei den von extern zur Therapie nach Gießen verlegten Kindern zu 34,5 %. Dies unterstreicht die Bedeutung einer adäquaten Befundanalyse durch entsprechend geschulte Kinderophthalmologen oder Retinologen. Die telemedizinische Herangehensweise war mit dem Vor-Ort-Screening vergleichbar, gleichzeitig konnten den Frühgeborenen Transporte erspart werden. Nur 20 Siegener Kinder (3,5 %) wurden zusätzlich in Gießen untersucht und ggf. therapiert. Meist lag bei diesen ein Stadium 3 oder eine APROP (4 Kinder) vor. Der häufigste Grund einer temporären Verlegung nach Gießen waren in 68,4 % eine Fluoreszenzangiographie zur genaueren Beurteilung der Aggressivität der ROP und in 21,0 % eine Kryotherapie. Beide Methoden waren in Siegen nicht vorhanden. In neuester Zeit steht die Fluoreszenzangiographie mittels Weitwinkelkamera auch in Siegen zur Verfügung.

Als Behandlungsart überwog im Untersuchungszeitraum an beiden Standorten die alleinige transkonjunktivale Laserkoagulation in Übereinstimmung mit dem deutschen ROP-Register [15]. Dies korrelierte auch mit der Häufigkeit des Stadiums 3+, Zone II als häufigste Behandlungsindikation. Die Kombinationstherapie aus IVOM und Laserkoagulation im Intervall wurde aufgrund von ROP-Reaktivierung v. a. bei AP-ROP in Zone I häufiger durchgeführt als die alleinige Anti-VEGF-Medikation mittels Bevacizumab oder Ranibizumab [1]. Die Tab. 4 enthält alle mit IVOM und sequenzieller Lasertherapie behandelten Kinder des Studienzeitraums. Die Abb. 6 zeigt den Zeitverlauf. Über den Studienzeitraum hat die Kombination Laser + Kryokoagulation im Verlauf abgenommen, entsprechend dem zunehmenden Einsatzes der Anti-VEGF-Therapie bei ROP [1, 15]. Trotz der hohen Wichtigkeit des Screenings sollte dieses auf die medizinisch absolut notwendige Anzahl reduziert werden. Frühgeborene mit einem GA > 30 + 0 SSW haben ein kleines Risiko für die Entwicklung einer behandlungsbedürftigen ROP. In der neuen deutschen SK2-Leitlinie von 2020 wurde die Grenze des GA auf 31 + 0 SSW herabgesetzt [15]. In Großbritannien, Kanada und den USA ist die Grenze auf < 30 + 0 SSW [5, 11, 24]. herabgesetzt, in den Niederlanden und Schweden auf < 29 + 0 SSW [6, 19]. Nach der aktuellen deutschen Leitlinie [17] hätten in unserem Patientenkollektiv nur 377 statt 394 Kinder eine ROP-Diagnose erhalten, aber trotzdem wären alle Behandlungsbedürftigen erkannt worden. Bei Anpassung unserer Ergebnisse an die schwedische Grenze von < 29 + 0 SSW hätten 333 Kinder eine ROP-Diagnose erhalten, und es wären weiterhin keine Behandlungsbedürftigen übersehen worden. In Schweden erfolgten, wie bei uns, keine Behandlungen bei einem GA > 30 + 0 SSW [6, 7]. Im Vergleich dazu wurden in folgenden Studien Kinder > 30 + 0 behandelt: 1,40 % in der IQTIG-Kohorte [15], 1,42 % in dem deutschen ROP-Register [14], 1,9 % in Köln [18] und 4,8 % in Bonn/Freiburg [13]. Die Daten zeigen, dass eine GA-Absenkung auf < 30 + 0 mit einem niedrigen, aber realen Risiko verbunden ist, Behandlungsbedürftige nicht zu erfassen. In diesem Sinn wäre es interessant zu wissen, ob die Kinder mit einem GA > 30 + 0 SSW wesentliche Komorbiditäten hatten, die trotzdem ein Screening indiziert hätten, und damit ebenfalls im Screening erfasst worden wären, auch wenn die allgemeine Screeningleitlinie nur ein GA < 30 + 0 SSW gehabt hätte. Die aktuellen deutschen Fallzahlen, die durch das IQTIG erhoben wurden, zeigen die Auswirkungen der neuen Leitlinie von 2020: Diese führte von 2019 auf 2021 bereits zu einer Reduktion der Screeningpopulation um 23 %, wobei sich die Zahl der Behandlungen stabil verhielt [9]. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich die SK2-Leitlinie, unter Beachtung der Komorbiditäten, in die richtige Richtung. Eine weitere Reduktion der GA-Grenze auf < 30 + 0 SSW könnte weiteren Kindern belastende Untersuchungen ersparen. Darüber hinaus würde es Ressourcen einsparen durch geringere zeitliche Belastung des medizinischen Personals.

Das Institut für die Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG, Berlin seit 2015) und das Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen (AQUA, Göttingen 2010–2013) haben neonatologische Daten und Daten aus der Gruppe der Very Low Birth Weight-Kinder (VLBW, unter 1500 g) für die ROP-Screeninguntersuchungen in Deutschland erfasst [8, 9]. Diese IQTIG-Kohorte (2010–2017) mit insgesamt 52.461 VLBW gescreenten Kindern als gesamtdeutsche Fallzahlen erlaubt einen Vergleich mit unseren Daten. Bei Betrachtung des Gewichts haben insgesamt 81,9 % unserer gescreenten Kinder und 100 % der behandlungsbedürftigen ein VLBW. In unserem Studienkollektiv wurden von 2010 bis 2017 789 VLBW-Kinder gescreent, 309 diagnostiziert und 54 behandelt. Diese Zahlen machen 1,5 %, 2,0 % und 3,6 % der Gesamtfallzahlen von IQTIG im gleichen Zeitraum aus.

Die Tab. 5 zeigt unsere Daten im Vergleich zu nationalen, niederländischen und schwedischen Daten. Die Studie von Bonn und Freiburg beschreibt einen Anstieg der ROP-Fälle von 100 % im Zeitraum 2012 bis 2016 [14], dagegen zeigte sich in unserer Kohorte im selben Zeitraum nur ein Anstieg von 22,8 %. In dem Gesamtzeitraum von 10 Jahren stieg allerdings die Zahl der ROP-Diagnosen in Gießen um 227,3 % und in Siegen um 111,1 %. Dabei fiel die höhere Inzidenz Behandlungsbedürftiger in Siegen auf, die mit einem niedrigeren mittleren GA von 24,6 SSW (± 1,5; min 22,0; max 28,0) korrelierte. Das mittlere GG war mit 699,3 g (± 163,6; min 490,0; max 1165,0) dagegen höher als in Gießen. Das mittlere GG Behandlungsbedürftiger lag in Gießen bei 573,7 g (± 166,9; min 320,0; max 990,0) und das mittlere GA bei 25,0 SSW (± 1,2; min 23,3; max 27,1). Die Daten bestätigen, dass mit sinkendem GA das Risiko für die Entstehung einer ROP steigt. Das GG spielt im Vergleich zum GA eine untergeordnete Rolle. In der Kölner und der SWEDROP-Studie [7, 18] konnte ebenfalls eine hohe Inzidenz bei niedrigerem GA beobachtet werden.

Tab. 5 Vergleich demografischer Kennzahlen mit nationalen und internationalen Studien

Fazit für die Praxis

  • Die vergleichende Analyse der ROP-Screeningdaten der Universitäts-Augenklinik Gießen und der nichtuniversitären DRK-Kinderklinik Siegen über einen 10-jährigen Zeitraum bestätigt die bereits berichtete steigende Zahl der ROP-Screeninguntersuchungen und Kinder mit akuter ROP.

  • Die Anzahl der behandlungsbedürftigen Kinder zeigte starke jährliche Schwankungen, blieb aber im Mittel über die Jahre annähernd gleich.

  • Ein niedriges Gestationsalter korreliert mit der ROP-Inzidenz stärker als ein niedriges Geburtsgewicht.

  • Die telemedizinische Herangehensweise im Vergleich zum Vor-Ort-Screening in Gießen erwies sich in dieser Studie als sicher. Alle Kinder mit einer behandlungsbedürftigen ROP wurden zeitgerecht erkannt und behandelt.

  • Alle behandlungsbedürftigen ROP-Kinder wären auch nach der aktuell gültigen Sk2-Leitlinie rechtzeitig diagnostiziert und behandelt worden.