1. Präambel

Die folgenden Empfehlungen beziehen sich auf die sog. „Schulmyopie“, die häufigste Form der Kurzsichtigkeit, die ab dem 6. Lebensjahr auftritt und bis zum späten Teenageralter progredient ist.

Die Empfehlungen gelten NICHT für die seltenen Sonderformen der Myopie z. B. aufgrund von Syndromen, Linsenerkrankungen, genetischen Varianten oder auf eine Myopie im Vorschulalter, da für diese Fälle keine Studien zur Progressionsminderung vorliegen.

2. Epidemiologie und Folgen der Myopie

Weltweit hat die Myopie insgesamt über die letzten Dekaden zugenommen. Für eine differenzierte Bewertung ist es sinnvoll, die regionalen Unterschiede und verwendeten Definitionen zu berücksichtigen. Insbesondere aus asiatischen Ländern wird berichtet, dass im jüngeren Teil der Bevölkerung die Raten der Kurzsichtigkeit (geringer und hoher) zugenommen haben [1,2,3]. Bereits im jungen Alter ist eine deutliche Zunahme über die letzten 40 Jahre zu sehen (Prävalenz ab −0,25 dpt 7‑Jährige: 5 % auf 25 %, 12-Jährige: 31 % auf 77 %; Prävalenz ab −6 dpt 12-Jährige: 1,4 % auf 4,3 %) [3]. In der Altersgruppe zwischen 25 und 29 Jahren wurde in Europa eine Myopieprävalenz (ab −0,75 dpt) von knapp unter 50 % berichtet [4]. Aktuell gibt es keine sicheren Belege dafür, dass der Anteil kurzsichtiger Menschen in den letzten ca. 20 Jahren in Deutschland zugenommen hat [5, 6]. In der KIGGS-Studie lag die Prävalenz der Myopie im Alter von 3 bis 17 Jahren (basierend auf Angabe der Eltern) bei 13,3 % und zeigte in den Erhebungszeiträumen (2003 bis 2006 vs. 2014 bis 2017) keinen Unterschied [7]. In einer Leipziger Stichprobe wurde eine Prävalenz von 10,8 % (ab −0,75 dpt, ohne Zykloplegie gemessen) gefunden, wobei der Anteil von 3,5 % (6 Jahre) auf 27 % (16 Jahre) zunahm [8].

Basierend auf Daten der Rotterdam Eye Study wurde aus der Zunahme der mittleren Achslänge in Abhängigkeit des Geburtsjahres eine Zunahme des kumulativen Lebenszeitrisikos einer Sehbehinderung extrapoliert [9]: Myopie von weniger als −6 dpt birgt kein relevantes Risiko, bei −6 bis −10 dpt ist ab dem 65. Lebensjahr eine geringe Risikozunahme zu beobachten. Myope zwischen −10 und −15 dpt zeigen ab der Mitte der sechsten Dekade eine eindeutige Risikozunahme. Sehr deutlich steigt das Risiko bereits ab 50 Jahren Lebensalter an, wenn jemand kurzsichtiger als −15 dpt ist. In diesem Fall beträgt das Lebenszeitrisiko für myopiebedingte Sehbehinderung fast 80 %.

Bereits 1970 wiesen Curtin und Karlin darauf hin, dass sekundäre Fundusveränderungen bereits ab einer mittleren Myopie beobachtet werden [10]. Curtin beschrieb das erhöhte Risiko einer Netzhautablösung (geringe Myopie: 4 ×, hohe Myopie: 22 ×). Registerdaten zufolge ist das Risiko einer Netzhautablösung mit einer größeren Achslänge insbesondere für Patienten mit Pseudophakie im berufstätigen Alter relevant [11]. In der Gutenberg Health Study nahm die Odds Ratio (OR) für eine rhegmatogene Ablösung mit jeder weiteren Dioptrie um 1,3 zu [12].

Das Risiko einer myopen Makuladegeneration steigt mit Ausprägung der Myopie. Die OR steigt von niedriger Myopie (−1 bis −3 dpt) mit 14, über die mittlere Myopie (−3 bis −6 dpt) mit 73 auf 845 bei hoher Myopie (über −6 dpt) [3]. Auch das Risiko für Glaukom und Strabismus nimmt mit zunehmender Myopie zu.

Fazit.

Myopie hat in erster Linie in Asien zugenommen. In den letzten knapp 20 Jahren ist die Prävalenz der Myopie im deutschsprachigen Raum nicht nennenswert gestiegen. Das Risiko von Sekundärerkrankungen mit zunehmender Myopie ist gut dokumentiert. Die Gefahr einer Erkrankung mit bleibender Sehbehinderung steigt spätestens ab einer Schwelle von −6dpt deutlich an. Patienten mit einer hohen Myopie sollten über Risiken, Warnsymptome einer Makuladegeneration und Netzhautablösung und die Notwendigkeit von Kontrollen des zentralen und peripheren Augenhintergrunds bei entsprechenden Beschwerden (s. Leitlinie Risikofaktoren und Prophylaxe der rhegmatogenen Netzhautablösung bei Erwachsenen, www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/045-025.html) informiert werden.

3. Risikofaktoren für Myopie

Aus vielen Studien ist zwar bekannt, dass die elterliche Refraktion einen deutlichen Hinweis auf die spätere Refraktionsentwicklung des Kindes gibt [13, 14]. In einer US-amerikanischen Studie betrug das Myopierisiko bei Emmetropie der Eltern 10 %, bei Myopie eines Elternteils 30 und 60 %, wenn beide Eltern myop waren [3]. Verhalten und Umweltfaktoren haben aber einen noch größeren Einfluss auf die Entwicklung der Myopie als die genetische Veranlagung [7, 15]. Die Zeit der Aktivität in der Nähe und der Leseabstand korrelierten mit Myopie und ihrer Progression. Körperliche Aktivität war mit einer geringeren Ausprägung der Kurzsichtigkeit assoziiert, während Schule und Ausbildungsdauer mit einer ausgeprägten Zunahme zusammenhingen. Mit jeder Stunde Naharbeit pro Woche wurde eine Zunahme des Myopierisikos um 2 % gesehen [3]. Der Aufenthalt im Freien von mindestens 2 h/Tag war mit einer Abnahme des Myopierisikos und einer langsameren Progression um 0,13 dpt/Jahr verbunden [3]. Der Einfluss der Beleuchtung stellt sich auch in der saisonal stärkeren Progression im Winter dar und unterstreicht die Bedeutung von Aktivitäten im Freien [16]. In einigen Ländern wurde eine Zunahme der Myopie während der COVID-19-Pandemie beobachtet [17, 18].

Fazit.

Die günstigen Auswirkungen von Aufenthaltszeit im Freien und die gegenteiligen Effekte von Naharbeit und kurzer Lesedistanz wurden eindeutig belegt. Dem sollte in der Ausgestaltung des Alltags und Verhaltensempfehlungen hohe Priorität eingeräumt werden.

4. Beratung zu Verhalten und präventiven Maßnahmen

Grundsätzlich ist eine gezielte Information sinnvoll, welche Verhaltensmaßnahmen zum Auftreten einer Myopie und zur Abnahme einer Progression beitragen können:

  • Lichtexposition

    Eine ausreichende Aufenthaltszeit im Freien zeigte schon mit relativ geringen Lichtintensitäten (1000 lx) positive Auswirkungen [19]. Die tägliche Exposition sollte besonders auch im Winter beachtet werden bzw. die Aufenthaltsbereiche der Kinder in Schule und zu Hause einschließen. Die Empfehlung von 2 h täglicher Aufenthaltszeit im Freien ist sinnvoll. In Taiwan hat der zwangsweise Aufenthalt im Freien während der Schulpause schon zu einer Abnahme der Myopieprävalenz geführt.

  • Nahsicht

    In Untersuchungen stellte sich die kontinuierliche Beschäftigung in der Nähe wie z. B. beim Lesen als relevanter Einfluss dar [20]. Obwohl zuverlässige Daten zu Bildschirmzeit oder verwendeten Abständen für große Kohorten fehlen, sollte neben Abständen auch an regelmäßige Pausenzeiten erinnert werden. Möglicherweise handelt es sich bei der akkommodationsassoziierten Progression um einen Mechanismus, der insbesondere bei einer bereits bestehenden Myopie zum Tragen kommt [21]. Lesezeiten von über 30 min bei weniger als 30 cm Leseabstand sollten durch 10 min Blick in die Ferne unterbrochen werden.

Für die Maßnahmen und Verhaltensempfehlungen könnte sich eine frühe Berücksichtigung ab dem Kindergarten auszahlen [22]. Der Nachweis eines Nutzens präventiver Maßnahmen bezieht sich daher v. a. auf Kinder, die im Schulalter eine Zunahme der Myopie zeigen [23]. Nach wie vor reichen die Daten nicht aus, um – abgesehen von Lichtexposition und Reduzierung von Nahsichtaktivitäten – eine generelle Prävention, d. h. z. B. die Therapie emmetroper Kinder zu empfehlen.

5. Praktisches Vorgehen zum Bestimmen der Progression

Die Refraktionsbestimmung sollte speziell bei jüngeren Kindern, bei denen eine unbewusste Akkommodation nicht ausgeschlossen werden kann, in Zykloplegie erfolgen. Ferner ist eine Orientierung an der individuellen Änderung der Achslänge für die Verlaufskontrolle sinnvoll [8]. Eine sichere Beurteilung der Myopieentwicklung ist in der Rückschau auf längere Zeiträume von mindestens 12 Monaten möglich. Die Orientierung an Perzentilen kann hilfreich sein. Es gibt Hinweise, dass ein Zusammenhang mit dem Körperwachstum oder dem Einfluss von Wachstumshormonen besteht.

6. Interventionen zur Progressionsminderung

Neben den erwähnten Hinweisen zu alltäglichen Umweltfaktoren stehen Maßnahmen zur Verringerung der Progression zur Verfügung [3, 24]. Die Evidenz der unterschiedlichen Ansätze und die Qualität der berichteten Studien wurden in einem Cochrane Review zuletzt 2020 kritisch bewertet [25].

6.1. Atropin

Die Mehrheit der publizierten randomisierten kontrollierten Studien zur Sicherheit und Wirkung von niedrig dosiertem Atropin stammen bis auf wenige Ausnahmen [26] aus Asien [3]. Beispielsweise sind für große Studien aus Australien und England erst die Protokolle bzw. Baseline-Faktoren publiziert [27, 28]. Nach der ATOM-II-Studie aus Singapur, welche den weltweiten Einsatz von niedrig dosiertem Atropin angestoßen hat [29], wurden in einer weiteren Studie die Konzentrationen 0,05 %, 0,025 % und 0,01 % Atropin gegen Placebo verglichen [30]. Nach 1 Jahr Therapie betrugen die entsprechenden Progressionsraten −0,27 dpt, −0,46 dpt, −0,59 dpt und −0,81 dpt. Die Nebenwirkungen waren gering und unterschieden sich bei diesen 3 Konzentrationen nicht wesentlich und wurden auch fast gleichhäufig in der Placebogruppe berichtet. Im zweiten Jahr dieser Studie wurde der Placeboarm auf 0,05 % umgestellt und die Zweijahresergebnisse bestätigen die Wirksamkeit [31]. Inzwischen liegen die Dreijahresergebnisse vor. Im dritten Jahr führte die eine Hälfte die Therapie weiter, die andere hatte die Therapie beendet. Der Rebound nach Therapieende war gering und war statistisch nicht signifikant [3]. Eine weitere Studie aus China randomisierte 220 Kinder auf 0,01 % Atropin oder Placebo [32]. Nach 1 Jahr betrug die Progression in der Placebogruppe 0,76 dpt, in der Atropin-Gruppe 0,49 dpt. Die Achslänge nahm in der Placebogruppe um 0,41 mm und in der Atropin-Gruppe um 0,32 mm zu.

Vor dem Hintergrund dieser Daten erscheint eine Verordnung von Atropin in der Konzentration von 0,5 % und der damit einhergehenden Blendungsempfindlichkeit nicht sinnvoll oder erforderlich [33, 34]. Allerdings kann auch die Konzentration von 0,05 % mit einer Pupillenerweiterung von 3 mm einhergehen [35]. Konservierungsmittel haben keinen wesentlichen Einfluss auf die Penetration der Tropfen ins Auge [36]. Eine asiatische Studie hat keinen Unterschied bezüglich reduzierter Akkommodation und vergrößerten Pupillendurchmessers bei Konzentrationen zwischen 0,01 und 0,02 % gefunden [37].

Grundsätzlich sprechen die Daten für eine mehrjährige Therapiedauer [3]. Die Progression der Myopie ist gegen Ende des Grundschulalters oft höher als in den Folgejahren, sodass eine Intervention hier größeren Nutzen verspricht. Mit 14 bis 16 Jahren ist die Zunahme der Achslänge im Regelfall so gering, dass eine Therapie nur in Ausnahmefällen sinnvoll erscheint.

Die Fortsetzung einer begonnenen Therapie mit niedrig dosiertem Atropin ist spätestens nach einer Dauer von 2 Jahren oder Erreichen des 15. Lebensjahrs zu prüfen. Eine anhaltende Zunahme der Kurzsichtigkeit spricht eher für eine Verlängerung der Therapie. Ansonsten sollte der Verlauf nach einer Pause beobachtet und beim Vorliegen von einer Progression von über 0,5 dpt/Jahr eine Wiederaufnahme evaluiert werden.

Somit kann grundsätzlich myopen Kindern im Alter zwischen ca. 6 und 14 Jahren und bei einer beobachteten Progression von ≥ 0,5 dpt/Jahr Atropin 0,01 % angeboten werden. Dabei handelt es sich um ein Rezepturarzneimittel (s. Anhang) bei fehlender Medikamentenzulassung für diese Dosierung und diese Indikation. Diese Tropfen werden 1‑mal abends vor dem zu Bett gehen in beide Augen getropft und sollen konform mit den Vorgaben konservierungsmittelfrei zubereitet werden. Eine Kontrolle zur Verträglichkeit kann in der frühen Phase z. B. 2 bis 6 Wochen nach Beginn der Atropin-Therapie sinnvoll sein. Eltern und Kinder sollten gerade zu Beginn der Therapie über eine mögliche geringe Pupillenerweiterung und Blendempfindlichkeit informiert werden. Mit einer relevant verminderten Akkommodation oder einem reduzierten Nahvisus ist in der Regel nicht zu rechnen [38, 39]. Sollte dies im Einzelfall doch störend werden, kann eine temporäre Gleitsichtbrille angeboten werden.

Kombinationstherapien mit den in folgenden optischen Interventionen sind im Einzelfall sinnvoll und können dann erwogen werden.

Das Studiendesign und die Erfassung möglicher Nebenwirkungen sind zu heterogen, um eine abschließende Beurteilung der Dosierung in dem Bereich von 0,01–0,05 % mit dem besten Verhältnis von Wirkung und Nebenwirkungen zu erlauben [40]. Die bisherigen Metaanalysen können als Beleg für die Sicherheit herangezogen werden, ohne die Verträglichkeit im Einzelfall zu garantieren [41]. Eine aktuelle Recherche in ClinicalTrials.gov mit den Suchstichworten „Atropine AND Myopia“ erbrachte insgesamt 26 Studien, von denen sich 10 mit kurzfristigen Nebenwirkungen und Änderungen der Aderhautdicke befassten. Die anderen 16 Studien vergleichen fast immer 0,01 % entweder gegen Placebo oder andere Atropin-Konzentrationen. Entsprechend ist in den kommenden Jahren mit einer Vielzahl weiterer Studienergebnisse zu diesem Thema auch zur Wirksamkeit bei Nicht-Asiaten zu rechnen.

Fazit.

Die Prophylaxe mit niedrig dosiertem Atropin, meist in der Konzentration von 0,01%, hat sich inzwischen weltweit verbreitet und kann im Alter von 6 bis14 Jahren angeboten werden, wenn eine jährliche Myopieprogression von mindestens 0,5dpt vorliegt. Die Datenlage hierzu ist solide und das Verhältnis von Nutzen und Nebenwirkungen günstig. Laufende Studien dienen unter anderem der Dosisoptimierung. Gleiche Konzentrationen werden bei verschiedenen Ethnien vermutlich verschiedene Effektgrößen zeigen.

Aktuell werden Therapie und Kontrolle in Deutschland im Rahmen klinischer Studien angeboten: In der multizentrischen AIM-Studie (EUDRACT 2020-001575-33) werden 300 Kinder im Alter zwischen 8 und 12 Jahren (Refraktion im Bereich von −1 bis −6 dpt) eingeschlossen, wenn eine Progression von ≥ 0,5 dpt pro Jahr erwartet wird (www.aim-studie.de). Im ersten Jahr wird 0,02 % Atropin gegen Placebo verglichen. Im zweiten Studienjahr erhält die Placebogruppe ebenfalls Atropin in der Konzentration 0,01 %. In der 3‑jährigen Beobachtungszeit erhalten alle Kinder mindestens 2 Jahre niedrig dosiertes Atropin. In einer weiteren Studie (EUDRACT 2021-004884-29) wird die Wirksamkeit 4 verschiedener Dosierungen (0,05 %, 0,025 %, 0,01 %, 0,005 %) über 12 Monate verglichen.

Rezeptur Atropin:

Atropinsulfat 0,01% AT 0,5ml

Rezeptur:

  • Atropinsulfat 0,05 mg, Natriumchlorid 4,45 mg, HCI-Lösung 0,1 % q.s.,

  • Aqua ad injectabilia ad 0,5 g in Einzeldosisbehältnis

  • Haltbarkeit: 1 Jahr, Reste verwerfen

  • xx Packungen (xx Stk. pro Packung)

  • Anwendung am Auge: 1 × 1 Tropfen abends in beide Augen

6.2 Optische Methoden

Es ist eine Gemeinsamkeit der optischen Methoden, dass entweder neben der ersten auf die Fovea fokussierten Bildschale eine zweite vor die Netzhaut fokussierte Bildschale (bei einigen Kontaktlinsen und bei Brillengläsern mit zentraler Aussparung) generiert wird oder die Bildschale so gebogen wird, dass sie in der Peripherie vor der Netzhaut liegt, was beides ein Stoppsignal für das Augenwachstum darstellt.

6.2.1 Multifokale und Orthokeratologiekontaktlinsen

Für multifokale und Orthokeratologiekontaktlinsen existieren viele Studien mit gutem Evidenzniveau und Metaanalysen [42].

Multifokale Kontaktlinsen, die zur Myopieprogressionskontrolle eingesetzt werden, haben eine zentrale Fernzone und entweder konzentrisch aufgebaute ringförmige Zonen mit einer Plusaddition oder eine graduell ansteigende Plusaddition zur Peripherie hin. Dadurch entsteht eine zweite Bildschale vor der Netzhaut. In der sehr hochrangig publizierten, randomisiert kontrollierten BLINK-Studie beispielsweise wurden 294 Kinder auf Monatslinsen randomisiert, die entweder monofokal oder multifokal mit einer Addition von +1,5 dpt oder +2,5 dpt waren [3]. Die Studiendauer betrug 3 Jahre, und es zeigt sich ein progressionsmindernder Effekt von 43 % für die Linse mit der stärkeren Nahaddition und 15 % mit der schwächeren Nahaddition im Vergleich zu der monofokalen Kontaktlinse. Eine zweiarmige Studie mit multifokalen Tageslinsen an 253 Kindern und einer Dauer von 3 Jahren fand eine Progressionsminderung von 59 % im Vergleich zu monofokalen Linsen [43]. Orthokeratologische Linsen verfolgen das gleiche optische Prinzip und sind ähnlich wirksam [3]. Sie führen zu einer Abflachung der zentralen Hornhaut mit Aufsteilung der Hornhaut in der mittleren Peripherie. Durch die damit einhergehende Erhöhung der Brechkraft entsteht in der mittleren Peripherie eine zweite Bildschale vor der Netzhaut [44]. Der Effekt der Verlangsamung des Achslängenwachstums liegt bei ca. 40 % [45]. Eine Metaanalyse berichtet, dass der Bulbuslängenunterschied nach 2 Jahren Behandlung im Vergleich zu Kontrollgruppen 0,7 mm betrug [3].

Daneben gibt es weitere, speziell zur Myopieprogressionshemmung entwickelte Kontaktlinsendesigns, die unterschiedliche optische Prinzipien nutzen. Erste Studien zeigen auch für diese Designs eine Verlangsamung des Bulbuslängenwachstums von ca. 25 % [46].

Generell ist beim Einsatz von Kontaktlinsen im Kindesalter zu bedenken, dass eine Gefahr der Infektion mit zwar seltener, aber potenziell auch erheblicher Schädigung des Auges besteht. Deswegen sind eine gute Kooperation und die Einhaltung der Anforderungen an die Hygiene, die mit der Zeit nachlassen können, zwingend erforderlich. Daher sollen Eltern und Kind über das Risiko von Komplikationen wie eine Keratitis und Warnsymptome informiert werden. Dazu gehört, dass bei Beschwerden die Kontaktlinsen nicht getragen werden dürfen und eine augenärztliche Untersuchung erforderlich ist.

Orthokeratologische Linsen sind bei guter Hygiene ähnlich sicher wie Tageslinsen, erfordern aber eine hohe Compliance, da andernfalls eine schwankende Refraktion resultiert. Die Quantifizierung der Myopieprogression kann nur über die Messung der Bulbuslänge erfolgen.

Bei dem Vergleich von multifokalen Linsen und Ortho‑K sind ferner verschiedene Faktoren und die individuelle Verträglichkeit zu berücksichtigen. Weiche multifokale Linsen sind mit einem größeren Defokus und schlechterem Kontrastsehen verbunden [47]. Die über Nacht getragenen Linsen können dagegen neben einer nachlassenden Myopiekorrektur und stärkeren Induktion von Aberrationen höherer Ordnung mit unterschiedlichen Refraktionsschwankungen über den Tag einhergehen und verursachen ein schlechteres Sehen in den ersten Tagen nach dem Absetzen der Linsen. Obwohl eine Dezentrierung der Orthokeratologielinsen grundsätzlich zu vermeiden ist, zeigte sie zumindest keine wesentliche Auswirkung auf die Hemmung der Myopieprogression [48].

Fazit.

Für die optische Therapie können multifokale oder orthokeratologische Kontaktlinsen angeboten werden, wenn eine Myopieprogression von mindestens 0,5dpt pro Jahr besteht und bei den Kontaktlinsen ein korrektes Tragen und eine adäquate Hygiene garantiert sind. Das infrage kommende Altersspektrum entspricht dem, bei dem auch eine Atropin-Therapie indiziert ist.

6.2.2 Multisegmentgläser

Ein vergleichbares optisches Konzept wurde mit speziellen Brillengläsern realisiert. Hierbei ist in die Brillengläser in der mittleren Peripherie eine Vielzahl kleiner Pluslentikel eingeschliffen, welche einen zweiten Fokus vor der peripheren Netzhaut generieren. Diese Gläser mit den integrierten Segmentlinsen werden von verschiedenen Herstellern angeboten. Die Ergebnisse prospektiver Studien wurden unter Koautorenschaft der Hersteller publiziert. Randomisierte, kontrollierte Studien mit einer Beobachtungsdauer von 2 bis 3 Jahren [49, 50] zeigten eine Halbierung der Myopieprogression. Das Tragen der Gläser verursachte keine langfristig negativen Konsequenzen auf andere Sehfunktionen wie Nahsehschärfe, Phorieruhelage oder die Stereosehschwelle [51]. Bei Seitblick erzeugen die Multisegmentgläser eine Bildunschärfe, die im Alltag von vielen Kindern nicht als störend empfunden wird. Aktuell ist noch unklar, welche Relevanz bzw. welche Mechanismen asphärische gegenüber sphärischen Segmenten haben [50].

Eine aktuelle, deutschsprachige Übersichtsarbeit stellt die Erfahrungen mit den Gläsern eines Herstellers zusammen [52]. Ansonsten existieren keine Studien, die unabhängig von den jeweiligen Herstellern Wirksamkeit und Nebenwirkungen untersucht haben.

Gleitsicht- oder Bifokalgläser, wie sie z. B. vor vielen Jahren in der COMET-Studie [3] evaluiert wurden, konnten nur eine geringe Hemmung der Myopieprogression erreichen, sodass sie nicht empfohlen werden.

Fazit.

Erste Studien sprechen für die progressionsmindernde Wirkung von Multisegmentbrillengläsern, die parallel eine Myopie- bzw. Visuskorrektion erlauben. Für eine allgemeine Empfehlung sind zu diesen Brillengläsern weitere Studien wünschenswert.

6.2.3 Kombinationstherapie

Einzelne Studien belegen, dass sich die Wirkung der Orthokeratologie und Atropin synergistisch ergänzen [3, 53]. Daher ist es nicht ausgeschlossen, dass dies auch für multifokale Kontaktlinsen oder Multisegmentgläser und die Atropin-Therapie gilt. Bisher gibt es hierzu jedoch keine Publikationen.