Entwicklung

„Das kindliche Kniegelenk“ umfasst die Lebenszeitspanne von der Geburt bis zum Verschluss der Wachstumsfugen, unabhängig vom numerischen Lebensalter. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um das Gelenk „kleiner Erwachsener“, die ein bestimmtes Lebensalter noch nicht erreicht haben, sondern um ein Gelenk mit spezifischen anatomischen und physiologischen Eigenschaften. Es sind v. a. die kniegelenknahen Wachstumsfugen, die dafür verantwortlich sind, dass man beim kindlichen Kniegelenk auch die zeitliche Dimension und hier bevorzugt das skelettale Alter bei den therapeutischen Strategien berücksichtigen muss. Etwa 2/3 des Längenwachstums der unteren Extremität stammen aus diesen Fugen. Sie haben eine hohe Wachstumsgeschwindigkeit, die während des pubertären Wachstumsschubes im Vergleich zum Wachstum des Rumpfes nur minimal zunimmt. Danach nimmt sie rapide ab und das Längenwachstum des Kniegelenks kommt vor dem Wachstum des Rumpfes zum Stillstand. Parallel hierzu kommt es zu einer Ausreifung der Kapsel- und Bandstrukturen. Vor der Pubertät ist die physiologische Gelenklaxität viel höher als beim Erwachsenen. Sie gleicht sich gegen Ende des kniegelenknahen Wachstums der von den meisten Arthroskopeuren bekannten Laxität des Erwachsenen an. Verletzungen, Entwicklungsstörungen und Fehlstellungen während des Längenwachstums unterscheiden sich dementsprechend nach Art, Prognose und Therapie deutlich von denen des Erwachsenenalters. Neben den oben genannten Faktoren liegt dies auch an der größeren Heilungs- und Korrekturpotenz des wachsenden Skeletts.

Derzeitige Lage

Ein weiterer Faktor, der es rechtfertigt, eine ganze Ausgabe dieser Zeitschrift dem kindlichen Kniegelenk zu widmen, liegt im folgenden gesellschaftlichen Paradoxon:

Einerseits sind über 7 Mio. Kinder und Jugendliche in einem der Verbände des Deutschen Sportbundes regelmäßig körperlich aktiv. Durch die zunehmende Leistungsstimulierung im frühen Alter (siehe Horizont der olympischen Jugendspiele) und der steigenden Zahl an Risikosportarten sind diese Kinder besonders verletzungsgefährdet. Auf der anderen Seite sind heute bereits 30% Kinder übergewichtig und fettleibig und bei vielen sind zunehmend schlechtere motorische Fähigkeiten festzustellen. Die Konsequenzen hieraus sehen wir in unserer täglichen Praxis mit einer zunehmenden Anzahl an schweren Knieverletzungen im jugendlichen Alter. Sport- und Freizeitverletzungen stellen derzeit mit mehr als 30 % aller Verletzungen die häufigste Verletzungsursache im Kindes- und Jugendalter dar. Das Kniegelenk ist dabei das zweithäufigste verletzte Gelenk.

Beiträge in diesem Heft

Im Beitrag von Theisen et al. wird die Epidemiologie der kindlichen Kniegelenkverletzungen dargestellt und auf zahlreiche Risikofaktoren (Alter, Vorverletzung, Sportart und -kontext, Trainingsumfang, Koordination sowie psychologischer Zustand) für Sportverletzungen hingewiesen. Einige dieser Faktoren sind beeinflussbar und sollten in die primäre und sekundäre Verletzungsprävention einbezogen werden.

Osti et al. erläutern die prognostische Bedeutung und das diagnostische und therapeutische Vorgehen bei kniegelenknahen Frakturen des distalen Femurs und der proximalen Tibia im Kindes- und Jugendalter, die sich aus extraartikulären metaphysären Frakturen, Frakturen mit Beteiligung der Wachstumsfugen und knöchernen, rein epiphysären Bandausrissen zusammensetzen.

In den letzten Jahren haben sich die arthroskopischen Therapieverfahren rasant weiterentwickelt (vgl. „Arthroskopie“, Heft 11, 1998) und sind nicht mehr vergleichbar mit der bloßen diagnostischen Arthroskopie und Spülung eines posttraumatischen Hämarthros, wie sie in der frühen 80er Jahren praktiziert wurde.

Im Beitrag von Lorbach et al. werden die schwierige Diagnostik kindlicher Meniskusläsionen erläutert und die unterschiedlichen Ursachen eines instabilen Meniskus erklärt. Die Naht des kindlichen Meniskus erscheint ebenso Erfolg versprechend wie die des Erwachsenen.

Wilmes et al. sowie Kopf et al. widmen sich den immer häufiger festgestellten Rupturen des vorderen Kreuzbandes im Kindes- und Jugendalter. Diagnostische Eigenschaften, natürlicher Verlauf der Verletzung, Indikationsstellung der Operation, Rekonstruktionstechniken und postoperativer Verlauf werden eingehend dargestellt. Aufgrund der schlechten klinischen Ergebnisse nach konservativer Therapie besteht heute Konsens, dass auch bei Patienten mit offenen Wachstumsfugen eine VKB-Rekonstruktion zur Stabilisierung des Kniegelenks erfolgen sollte.

Jung et al. gehen auf neuere Erkenntnisse der nicht seltenen Osteochondrosis dissecans ein. Auch im Bereich der schwierigen patellofemoralen Problematik kommt es zunehmend zu neueren Erkenntnissen und Therapieformen. Sie werden eingehend in den Arbeiten von Schoettle et al. und Schneider et al. beschrieben.

Dieses Heft soll dem Leser einen Überblick über die Epidemiologie und Therapie kindlicher Kniegelenkverletzungen geben. Wir hoffen, dass die hervorragend ausgearbeiteten Beiträge dieses Heftes auch dem erfahrenen Orthopäden und Traumatologen in der täglichen Praxis von Nutzen sind.

Prof. Dr. Romain Seil

PD Dr. Dietrich Pape