Hintergrund und Fragestellung

Das Harnblasenkarzinom ist die zweithäufigste urologische Tumorerkrankung, Männer sind etwa 3‑mal häufiger betroffen als Frauen. Für Deutschland ergibt sich inklusive In-situ-Karzinome (Tis) und nicht-invasive papilläre Tumoren (Ta) eine Jahresinzidenz von knapp 30.000 Neuerkrankungen. Dabei liegt die Inzidenz von muskelinvasiven Harnblasenkarzinomen (MIBC; T2–4) insgesamt zwischen 7000 und 8000 Neuerkrankungen im Jahr [9]. Bei etwa > 90 % der Karzinome handelt es sich histologisch um Urothelkarzinome [4, 12].

Die im März 2020 aktualisierte S3-Leitlinie [5] empfiehlt als Therapie der ersten Wahl des MIBC eine radikale Zystektomie. Zusätzlich wird empfohlen, eine perioperative, Cisplatin-basierte Chemotherapie (POC) anzubieten, wenn die Patienten fit genug dafür sind. Bei Patienten im lokal fortgeschrittenen oder metastasierten Stadium im Progress nach Platin-basierter Chemotherapie oder bei Platin-ungeeigneten Patienten kann zudem eine immunonkologische Therapie (IO) mit einem Checkpoint-Inhibitor durchgeführt werden [10]. Bei der aktuell rasanten Entwicklung der Therapieoptionen ist eine rasche Implementierung der Evidenz in Leitlinien notwendig, um deren zeitnahe Umsetzung zu unterstützen [8].

Die von den Arbeitsgemeinschaften Urologische Onkologie (AUO) und Internistische Onkologie (AIO) in der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) initiierte Studie hatte zum Ziel, flächendeckend aktuelle und repräsentative Daten zur Versorgungssituation in Deutschland zu gewinnen.

Methodik

Die vorliegende Studie gliedert sich in 2 Phasen: In Phase 1 wurden 3585 urologische und onkologische Einrichtungen (655 Klinikabteilungen und 2930 niedergelassene Ärzte) angeschrieben, um Daten zu den entsprechenden Patientenzahlen im definierten Zeitraum Q4/2019–Q1/2020 zu gewinnen (Anzahl durchgeführter TURB und Zystektomien, Anzahl Patienten, Differenzierung nach Tumorstadien).

In der Phase 2 wurden Diagnose- und Therapieverläufe von Patienten mit MIBC und metastasierten Urothelkarzinomen (mUC) aus dem definierten Zeitraum anhand von Patientenakten dokumentiert.

Die Stichprobe wurde dabei nach der zuvor erhobenen Versorgungsstruktur ausgesteuert, d. h. den teilnehmenden Zentren wurde gemäß ihres Patientenaufkommens der Anteil der zu dokumentierenden Patienten im jeweiligen Therapiesetting zugewiesen, um die reale Versorgungssituation repräsentativ abzubilden. Details dieser Methode sind bereits mehrfach publiziert worden [6, 7].

Definitionen

  • MIBC: Stadium T ≥ 2:

    • lokal begrenztes MIBC: Stadium T2 N0 M0

    • lokal fortgeschrittenes MIBC T ≥ 3 oder N > 0 M0

  • mUC: Urothelkarzinom mit Fernmetastasen (M1b) und/oder Metastasen in den nicht-regionären Lymphknoten (M1a)

  • Cisplatin-Eignung: Die Definition der Cisplatin-Eignung richtet sich nach der S3-Leitlinie zum Harnblasenkarzinom und umfasst folgende Punkte:

    • ECOG-Performance Status ≤ 1 oder Karnofsky > 70 %

    • Nierenfunktion: Kreatinin-Clearance > 60 ml/min

    • Folgende Begleiterkrankungen sollten nicht vorliegen: Hörverlust (≥ Grad-2-CTCAE); periphere Neuropathie (≥ Grad-2-CTCAE); Herzinsuffizienz (≥ NYHA III)

    • Bei einer Nierenfunktion von 45–59 ml/min gelten die Patienten als „bedingt Cisplatin-geeignet“, wenn sie alle anderen der oben genannten Kriterien erfüllen. Bei zusätzlichen einschränkenden Kriterien gilt die Patientengruppe als „Cisplatin-ungeeignet“

  • Pre‑/Post-COVID-19-Zeitraum ist definiert durch den Zeitpunkt der ersten in Deutschland bekannt gewordenen COVID-19-Infektion am 27.01.2020

Statistische Verfahren

Es wurden drei multivariable logistische Regressionsmodelle entwickelt. In diesen wird analysiert, inwieweit sich das Chancenverhältnis (Odds Ratio [OR]) für das jeweilige Zielkriterium (POC, Therapietiming, IO) bei einer Variablenausprägung in Bezug auf die jeweilige Referenzkategorie ändert. Die OR wird jeweils mit 95 %-Konfidenzintervall (95 %-KI) angegeben und das Signifikanzniveau auf p < 0,05 festgelegt. Als Referenzkategorien wurden i. d. R. die Variablenausprägungen mit den meisten Patienten gewählt. Ausnahme bildet das Alter, bei dem die Kategorie unter 65 Jahre als Referenz gesetzt wurde.

Versorgungsstrukturanalyse (Phase 1)

An der Versorgungsstrukturanalyse haben sich insgesamt 523 Kliniken und Praxen beteiligt, 109 urologische Klinikabteilungen, 304 urologische Praxen/MVZ, 30 hämatologisch/onkologische Klinikabteilungen und 80 hämatologisch/onkologische Praxen/MVZ.

Während die Behandlung von Patienten mit NMIBC zu etwa gleichen Teilen in urologischen Praxen (49,7 %) und urologischen Fachabteilungen (45,4 %) stattfindet, ist die Therapie von Patienten mit MIBC schwerpunktmäßig in Kliniken (74,5 %) angesiedelt. Das MIBC wird dabei größtenteils in urologischen Fachabteilungen behandelt, im metastasierten Stadium spielen dann onkologische Abteilungen und niedergelassene Onkologen eine größere Rolle, insbesondere in späteren Therapielinien (Tab. 1).

Tab. 1 Verteilung der Tumorstadien bzw. Therapiesettings auf die Versorgungsstruktur

Bei einem Großteil der Einrichtungen in allen vier Behandlerkategorien (Klinik Urologen und Onkologen, Praxis/MVZ Urologen und Onkologen) werden medikamentöse Tumortherapien durchgeführt. Die molekulare Diagnostik wird allerdings seltener bei den niedergelassenen Urologen initiiert (19,1 %). An klinischen Studien zum Harnblasenkarzinom beteiligten sich insgesamt relativ wenige Zentren (Tab. 2).

Tab. 2 Medikamentöse Tumortherapie und molekulare Diagnostik in den teilnehmenden Zentren

Bei den Zentren, die medikamentöse Tumortherapien vornehmen, unterscheidet sich die Art der durchgeführten Therapie nach Fachrichtung und Versorgungsart (Tab. 3).

Tab. 3 Art der durchgeführten medikamentösen Tumortherapiena

Patientendokumentation (Phase 2)

In der zweiten Phase wurden die Daten von insgesamt 956 Patienten erhoben. Das Alter der eingeschlossenen Patienten lag im Median bei 70 (Range 36–94) Jahren. MIBC-Patienten waren im Median mit 71 (Range 36–94) Jahren etwas älter als die mUC-Patienten mit 69 (Range 40–90) Jahren. Weitere Details zu den Patientencharakteristika sind der Tab. 4 zu entnehmen.

Tab. 4 Patientencharakteristika

MIBC – Systemtherapie

Von den 576 MIBC-Patienten wurde etwa die Hälfte (49,8 %, n = 287) mit einer Systemtherapie behandelt, bei der anderen Hälfte (50,2 %, n = 289) wurde eine Zystektomie ohne POC durchgeführt. Eine POC wurde seltener bei lokal begrenzten Karzinomen (T2) durchgeführt (33,5 %) als bei lokal fortgeschrittenen Karzinomen T3/4 (58,7 %), wobei außerdem die Durchführung mit den Galsky-Kriterien für die Cisplatin-Eignung korreliert (Abb. 1). Die POC hat bei 56,8 % (n = 163) der Patienten adjuvant stattgefunden, bei 27,5 % (n = 79) neoadjuvant. Bei 4,2 % (n = 12) der Patienten wurde die Therapie neoadjuvant begonnen und dann adjuvant fortgeführt. 11,2 % (n = 33) der Patienten wurden ausschließlich systemisch therapiert. Eine Radiochemotherapie wurde bei 2,8 % (n = 16) durchgeführt. Die Therapie wurde dabei in 60,6 % der Fälle in einem interdisziplinären Tumorboard beraten.

Abb. 1
figure 1

Perioperative Systemtherapie MIBC nach Cisplatin-Eignung und Tumorstadium

Bei 36 MIBC-Patienten war die Cisplatin-Eignung nicht eindeutig/nicht zuzuordnen.

Im multivariablen Regressionsmodell wurde analysiert, welche Parameter mit der Entscheidung zu einer POC korrelieren: Alter, Tumorstadium, Cisplatin-Eignung sowie der Einbezug eines interdisziplinären Tumorboards korrelieren signifikant mit dem Einsatz bzw. Verzicht einer POC. Ein Zusammenhang zwischen POC und dem ECOG-Performancestatus oder der beginnenden COVID-19-Pandemie konnte hingegen nicht gemessen werden (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Multivariables Modell: Faktoren für oder gegen eine POC

Ältere Patienten erhielten signifikant seltener eine POC als Patienten unter 65 Jahren. Differenziert nach Altersgruppe ergab sich für über 75 Jahre: OR 4,91 (95 %-KI 3,01–8,11; p < 0,001); 65–75 Jahre: OR 1,75 (95 %-KI 1,10–2,81; p = 0,019). Patienten mit lokal begrenzten Karzinomen wurden seltener als lokal fortgeschrittene Stadien behandelt: OR 3,21 (95 %-KI 2,16–4,82). In letzterer Gruppe waren die Patienten häufiger multimorbide (11,0 % vs. 3,4 %) oder haben eine POC abgelehnt (8,6 % vs. 7,4 %), bei Patienten mit lokal begrenzten Karzinomen war hingegen häufiger dokumentiert, dass eine POC nicht indiziert sei (38,4 % vs. 7,2 %). Cisplatin-ungeeignete Patienten erhalten seltener eine POC als Cisplatin-geeignete: OR 2,15 (95 %-KI 1,30–3,59, p = 0,003). Wenn die Patienten nicht in einem interdisziplinären Tumorboard beraten werden, wird signifikant häufiger auf eine POC verzichtet: OR 2,43 (95 %-KI 1,65–3,61, p < 0,001).

Wenn die Patienten mit einer POC behandelt werden, werden 87,1 % mit einer Cisplatin-haltigen Therapie behandelt, 80,4 % mit dem „Goldstandard“ Cisplatin/Gemcitabin. Carboplatin-haltige Regime werden bei 8,0 % eingesetzt. Dabei zeigt sich, dass in Kliniken zu 86,1 % Cisplatin/Gemcitabin verordnet wird, jedoch nur zu 70,3 % in den niedergelassenen Einrichtungen (p = 0,014). Hier werden häufiger Carboplatin-haltige Regime eingesetzt (Klinik 3,1 % vs. Praxis/MVZ 10,0 %). In der Subgruppe der Cisplatin-ungeeigneten Patienten erhielt ein Drittel der Patienten eine Systemtherapie (32,3 %), davon 70,0 % mit Cisplatin-haltigen Therapien, 16,0 % Carboplatin-haltigen Therapien und IO-Monotherapien bei 14,0 %.

In einem zweiten multivariablen Modell wurde analysiert, ob die POC neoadjuvant oder adjuvant stattgefunden hat. Ein schlechter Allgemeinzustand (ECOG 2+) korreliert mit der Entscheidung für eine neoadjuvante Therapie (OR 0,42; 95 %-KI 0,17–0,98; p = 0,048). Bei positivem Nodalstatus wird häufiger eine adjuvante Therapiestrategie bevorzugt (OR 3,56; 95 %-KI 2,04–6,38; p < 0,001), ebenso bei Patienten deren Therapie nicht in einem interdisziplinären Tumorboard beraten wurde (OR 1,97; 95 %-KI 1,08–3,71; p = 0,031) und bei Cisplatin-ungeeigneten Patienten (OR 4,64; 95 %-KI 1,88–12,85; p = 0,002; Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Multivariables Modell: Faktoren für die Systemtherapie Neoadjuvanz vs. Adjuvanz

MIBC – Biomarkerdiagnostik

Eine PD-L1-Diagnostik wurde im MIBC-Setting bei 155 Patienten (26,9 %) durchgeführt, 69,0 % von den getesteten Patienten wiesen eine positive PD-L1-Expression auf. Die Cut-offs für die positive Expression sind dabei je nach verwendetem Score gemäß den Zulassungsstudien definiert. Beim Combined Positive Score (CPS) ist eine Expression von ≥ 10 positiv und beim Immune Cell Score (IC) ≥ 5 %. Beim Tumor Proportion Score (TPS) gibt es keinen zulassungsrelevanten Cut-off. Zumeist wurden hierbei mehrere PD-L1-Scores parallel getestet, in 70,3 % der Fälle CPS, in 49,0 % IC und zu 38,7 % TPS, in 23,9 % der getesteten Patienten war der verwendete Score unbekannt.

Ein Test auf eine evtl. vorliegende FGFR3-Mutation wurde nur bei 3 Patienten (0,5 %) durchgeführt, eine pathologische Mutation lag bei keinem dieser Patienten vor.

Metastasiertes Harnblasenkarzinom (mUC)

Es wurden insgesamt die Therapieverläufe von 380 metastasierten Patienten dokumentiert. Die häufigsten Metastasenlokalisationen waren dabei nicht-regionäre Lymphknoten (49,7 %), Lunge (30,8 %), Knochen (24,5 %), Leber (17,9 %) und Peritoneum (4,5 %).

Zum Zeitpunkt der Dokumentation befanden sich 257 Patienten (67,6 %) in der Erstlinientherapie, 94 (24,7 %) in der Zweitlinie und 29 (7,6 %) in der Dritt- oder einer höheren Therapielinie.

mUC – Systemtherapie

Von den 380 Patienten waren 153 (40,3 %) mit einer Platin-haltigen Chemotherapie vorbehandelt. Von den 227 nicht-vorbehandelten Patienten waren 40,5 % Cisplatin-geeignet, 10,6 % bedingt Cisplatin-geeignet, 47,1 % Cisplatin-ungeeignet und bei 1,8 % war die Zuordnung nicht möglich. Cisplatin-geeignete und nicht vorbehandelte Patienten wurden zu 78,3 % mit Cisplatin-haltigen Chemotherapien behandelt. Wenn sie bereits mit Platin-haltiger Chemotherapie vorbehandelt waren, wurde bei 75,8 % eine IO-Therapie gewählt. Bei Cisplatin-ungeeigneten Patienten ohne Platin-Vorbehandlung wurde in 43,9 % der Fälle eine IO-Therapie, bei 29,0 % Cisplatin- und bei 16,8 % Carboplatin-haltige Regime eingesetzt (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Eingesetzte Systemtherapien bei metastasierten Patienten nach Platin-Vorbehandlung und Cisplatin-Eignung

Wenn Cisplatin-haltige Regime durchgeführt wurden, dann zu 92,6 % in der Kombination mit Gemcitabin. Bei den eingesetzten Carboplatin-haltigen Regimen wurde zu 82,8 % Carboplatin/Gemcitabin verwendet und zu 13,8 % Carboplatin mono. Bei 8 mUC-Patienten war die Cisplatin-Eignung nicht eindeutig/nicht zuzuordnen.

Im multivariablen Regressionsmodell wurde untersucht, welche Faktoren mit dem Einsatz von IO-Therapien beim mUC korrelieren (Abb. 5). Eine IO wird dabei signifikant häufiger eingesetzt, wenn die Patienten mit Platin vorbehandelt sind, unabhängig davon, ob die Platin-Therapie bereits im metastasierten Setting oder vor der Metastasierung stattgefunden hat: OR 12,07 (95 %-KI 6,94–21,82; p < 0,001). Die Wahrscheinlichkeit, eine IO-Therapie zu erhalten, ist mehr als 3,5-mal höher, wenn die Patienten PD-L1-positiv getestet wurden: OR 3,72 (95 %-KI 2,21–6,67; p < 0,001). Mit zunehmendem Alter wird ebenfalls häufiger eine IO-Therapie eingesetzt; bei Patienten über 75 Jahren beträgt die OR 2,83 (95 %-KI 1,43–5,73, p = 0,003) im Vergleich zu den unter 65-jährigen. Cisplatin-ungeeignete Patienten werden ebenfalls signifikant häufiger mit IO-Therapien behandelt: OR 2,57 (95 %-KI 1,30–5,17; p = 0,007).

Abb. 5
figure 5

Multivariables Modell: Faktoren für oder gegen den Einsatz von IO-Therapien bei Patienten mit mUC

mUC – Biomarkerdiagnostik

Der PD-L1-Status wurde bei 203 (53,4 %) der metastasierten Patienten bestimmt, 130 (64,0 % der getesteten) wurden als PD-L1-positiv bewertet. Es gab dabei keine signifikanten Unterschiede, ob die Patienten sich dabei in der Erstlinientherapie (56,0 %) oder in der Zweitlinientherapie (53,2 %) befanden. Bei eingeschränkter Patientenzahl (n = 29) wurde in der Drittlinientherapie lediglich ein geringerer Anteil mit 31 % getestet. Bei den PD-L1-Tests wurden auch im metastasierten Setting häufig mehrere Scores verwendet: zu 59,1 % CPS, zu 42,4 % IC und zu 20,7 % der TPS, in 28,1 % der Fälle wurde nicht dokumentiert, welcher Score verwendet wurde.

Die FGFR3-Mutation wurde im metastasierten Bereich ebenfalls nur relativ selten untersucht: Insgesamt wurde eine Testung bei 20 Patienten (5,3 %) dokumentiert, von denen nur 2 (10,0 % der untersuchten Patienten) eine pathogene FGFR3-Mutation aufwiesen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die FGFR3-Mutation aufgrund fehlender Zulassung der FGFR3-Inhibitoren nur im Rahmen von Studien oder nach Kostenübernahmebeantragung relevant ist.

Diskussion

Die vorliegenden Daten zur Systemtherapie lassen feststellen, dass der „Goldstandard“ von Cisplatin/Gemcitabin in der klinischen Routineversorgung in Deutschland etabliert ist. Allerdings zeigen sich signifikante Unterschiede zwischen Klinken und niedergelassenen Ärzten. In der internationalen retrospektiven Analyse von Bamias et al. wird darauf verwiesen, dass zu häufig Carboplatin eingesetzt wird, obwohl dieses einer Cisplatin-Therapie in Bezug auf das Gesamtüberleben unterlegen ist [1]. Dies konnten wir in unserer Studie nicht bestätigen: der Einsatz von Carboplatin war eher selten und fand nahezu ausschließlich in dem Kollektiv von Cisplatin-ungeeigneten Patienten statt. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass die Daten zur Primärtherapie bei Bamias et al. aus den Jahren 2000–2013 stammen, sodass die Einsicht in die Überlegenheit von Cisplatin inzwischen – nicht zuletzt durch die Leitlinienarbeit – im klinischen Alltag angekommen ist.

In Einklang mit Bamias et al. zeigt sich, dass auch Cisplatin-ungeeignete Patienten teilweise mit einer Cisplatin-haltigen Chemotherapie behandelt werden (MIBC: 22,6 %; mUC: 29,0 %). Grund hierfür ist entweder die Durchführung eines Cisplatin-Splittings, oder, dass die Definition Cisplatin-ungeeigneter Patienten nicht der klinischen Realität entspricht. Der Anteil Cisplatin-ungeeigneter Patienten in unserer Studie entspricht dabei mit 26,9 % beim MIBC und 40,3 % beim mUC etwa dem in der Literatur genannten Anteil von ca. 30–50 % [2, 5, 11]. In der Literatur wird jedoch die in der S3-Leitlinie definierte Patientengruppe der bedingt Cisplatin geeigneten Patienten nicht berücksichtigt, die in unserer Auswertung zusätzlich 9,9 % (MIBC) bzw. 9,5 % (mUC) ausmachen. Das ist durchaus als Hinweis zu interpretieren, dass die in der Leitlinie genannten Faktoren ein praxisrelevantes Entscheidungskriterium darstellen können.

Bei der Analyse der POC-Daten wird ersichtlich, dass die Cisplatin-Eignung nur ein Faktor bei der Entscheidung für oder gegen eine POC darstellt. Auch bei 45,5 % der Cisplatin-geeigneten MIBC-Patienten wird auf eine POC verzichtet. Bei lokal begrenzten Tumoren (T2) erfolgte deutlicher seltener eine POC, was vor dem Hintergrund der guten Langzeitüberlebensdaten dieser Patientengruppe bei alleiniger Zystektomie erklärbar ist [3]. Zudem konstatiert die S3-LL zwar einen Vorteil sowohl im Gesamt- als auch im progressionsfreien Überleben für eine neoadjuvante Chemotherapie, jedoch unabhängig vom T‑Stadium und Nodalstatus.

Ein wichtiger Faktor gegen die Entscheidung von POC ist das fortgeschrittene Alter. Neben der im Alter häufig eingeschränkten Nierenfunktion und einem reduzierten Allgemeinzustand ist dann besonders schwierig zu prognostizieren, ob die Patienten noch von einer Chemotherapie profitieren. Der Allgemeinzustand nach ECOG hingegen korreliert nicht signifikant mit der Entscheidung für oder gegen eine POC, wohl aber damit, dass bei einem schlechteren ECOG-Performance Index von ≥ 2 eine neoadjuvante Therapie bevorzugt wird. Bei diesen Patienten ist entweder der ECOG tumorbedingt verschlechtert oder es besteht die Befürchtung, dass sich der Zustand bei diesen Patienten durch die Zystektomie noch weiter verschlechtert, sodass dann keine adjuvante Therapie mehr möglich sein wird.

Die Empfehlung der S3-Leitlinie, die Therapieentscheidungen multidisziplinär zu beraten, wird im klinischen Alltag zwar in der Mehrheit umgesetzt, jedoch entscheiden bei etwa 40 % der Fälle (sowohl bei MIBC als auch bei mUC) noch die behandelnden Ärzte (mit dem Patienten) alleine. In diesen Fällen wird häufig keine Chemotherapie eingesetzt – falls doch eine POC eingesetzt wird, dann häufiger adjuvant. An dieser Stelle gibt es in der Umsetzung der Leitlinienempfehlung noch Optimierungspotenzial.

Im metastasierten Bereich ist die IO eine in der klinischen Routine etablierte Therapieoption, insbesondere dann, wenn bereits vorher eine Platin-haltige Systemtherapie verabreicht wurde. Dies steht im Einklang mit den Empfehlungen der S3-LL, die eine IO entweder für die Zweitlinie empfehlen oder für die Erstlinie, wenn die Patienten für eine Cisplatin-Therapie ungeeignet sind. Letzteres korreliert auch in unserer Studie neben dem höheren Alter (> 75 Jahre) mit der Durchführung einer IO. Die S3-Leitlinie verweist darauf, dass es derzeit noch keine verlässlichen Biomarker zur Prädiktion des Ansprechens auf eine IO gibt, die für die klinische Praxis tauglich wären. Dies wird vor allem darauf zurückgeführt, dass die unterschiedlichen Zulassungsstudien nicht nur unterschiedliche Scores (CPS, IC) angewandt, sondern auch unterschiedliche Cut-offs gewählt haben, was z. T. zu widersprüchlichen Ergebnissen führt [5]. Im untersuchten klinischen Alltag werden dabei häufig mehrere Scores bestimmt, sodass die Therapiewahl dann ggf. davon abhängig gemacht wird, in welchem Score die höchste PD-L1-Expression festgestellt wurde. Zu beachten ist, dass neuere Therapiekonzepte für das mUC, die Platin-haltige Therapien mit Immunerhaltungstherapien kombinieren, selten zum Einsatz kamen, zum Zeitpunkt der Beobachtung aber auch noch nicht „state of the art“ waren.

Als Limitation zu nennen ist der retrospektive Charakter der durchgeführten Analyse. Auch wenn es sich um eine repräsentative Befragung handelt, erfolgte keine systematische Analyse aller Kliniken/Praxen, weshalb ein Selektionsbias nicht ausgeschlossen ist. Durch den bewusst abgeschlossen gewählten Zeitraum handelt es sich um eine Momentaufnahme der Versorgungsrealität in Deutschland.

Zusammenfassend zeigt die für die Versorgungsforschung wichtige, bundesweite Analyse, dass in vielen Punkten die S3-Leitlinie Harnblasenkarzinom bereits in den klinischen Alltag implementiert wurde. In einigen Punkten wie der seit langem diskutierten POC besteht noch Optimierungsbedarf. Mit den derzeit teilweise noch laufenden Studien zur perioperativen IO-Therapie und dem absehbaren Einzug in den klinischen Alltag dürfte sich aber auch diese Optimierungslücke hoffentlich bald schließen.