Zusammenfassung
Hintergrund und Fragestellung
Wenn Symptome psychischer Erkrankungen dazu führen, dass der betroffene Mensch sich selbst oder andere gefährdet, kann auf Basis der Unterbringungsgesetze bzw. Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetze der Länder gegen seinen Willen eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus richterlich angeordnet werden. Diese Landesgesetze werden seit 2011 überarbeitet. Ziel des vorliegenden Papiers ist eine Bestandsaufnahme und Analyse der Ergebnisse der Novellierungsprozesse, auf deren Basis weiterer Handlungsbedarf für die Gesetzgeber definiert werden soll.
Methodik
Recherche und vergleichende Analyse des aktuellen Stands und der Ergebnisse der Novellierungsprozesse in den einzelnen Bundesländern. Anhand ausgewählter, rechtlich und medizinisch besonders relevanter Bereiche werden die Landesgesetze verglichen.
Ergebnisse
Die Regelungen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung sind auch nach den Anpassungen höchst heterogen und entsprechen in vielen Ländern nicht vollständig den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und der höchstrichterlichen Rechtsprechung.
Diskussion
Die Landesgesetze sollten insbesondere dort, wo sie Grund- und Menschenrechte einschränken, also bei den Unterbringungsvoraussetzungen und -zielen und bei den Regelungen zu Zwangsmaßnahmen, länderübergreifend harmonisiert werden.
Abstract
Background
On the basis of mental health law, which differs between the federal states in Germany, courts can order the involuntary commitment of people with severe mental disorders in psychiatric hospitals, if they present a danger to themselves or to others. Due to decisions of the highest courts, these laws have been subject to revision since 2011. The aim of this paper is to analyze and compare the results of the revision processes in order to define the need for action for federal and state legislature.
Material and methods
Research of the current status of the revision processes in the federal states and a comparative analysis. The state laws were compared on the basis of selected particularly relevant areas with respect to human rights and treatment.
Results
In spite of the revisions the state laws are extremely heterogeneous and in many states do not fully comply with the requirements of the United Nations Convention on the Rights of Persons with Disabilities (UN-CRPD) or the highest courts’ decisions.
Conclusion
The state laws should be harmonized, particularly where they restrict basic and human rights, e. g. regarding prerequisites and objectives of involuntary commitment and coercive measures.
Notes
Die Zahl der gerichtlichen Genehmigungen wird hierbei nicht erhoben. Als Anhaltspunkt kann die Quote der Genehmigung in betreuungsrechtlichen Unterbringungsverfahren dienen, welche kontinuierlich etwa 95 % beträgt (Bundesamt für Justiz, Betreuungsverfahren 2014).
Redaktionelle Änderungen an PsychKG, die keine Anpassung an die BVerfG-Rechtsprechung enthielten, wurden hier nicht als Novellierung gewertet (z. B. Änderung des ThürPsychKG, seit 28.07.2014 in Kraft).
Zur Frage, ob Sicherungsmaßnahmen im Rahmen einer Unterbringung als „Freiheitsentziehung in der Freiheitsentziehung“ bereits richterlich genehmigt oder einer erneuten Genehmigung bedürfen, hat die Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24.07.2018 Klarheit gebracht: 5‑Punkt- und 7‑Punkt-Fixierungen, die nicht lediglich kurzfristig (Dauer unter 30 min) sind, lösen zukünftig einen Richtervorbehalt im Sinne des § 104 Abs. 2 GG aus.
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Danksagung
Die Autoren bedanken sich bei den Mitgliedern der Task-Force Patientenautonomie der DGPPN – Peter Falkai, Felix Hohl-Radke, Bettina Wilms, Manfred Koller, Jürgen Müller und Martin Zinkler – sowie bei den Mitarbeitern der DGPPN-Geschäftsstelle Alexander Brunner und Michael Wassiliwizky für die wichtigen Anregungen und konstruktive Kritik.
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Interessenkonflikt
G. Gerlinger, A. Deister, A. Heinz, M. Koller, S. Müller und T. Pollmächer geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. T. Steinert erhält Forschungsmittel vom Bundesministerium für Gesundheit, dem Ministerium für Gesundheit, Soziales und Integration Baden-Württemberg, dem Kommunalverband Jugend und Soziales Baden-Württemberg und der DGPPN.
Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
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Gerlinger, G., Deister, A., Heinz, A. et al. Nach der Reform ist vor der Reform. Nervenarzt 90, 45–57 (2019). https://doi.org/10.1007/s00115-018-0612-3
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