Aufgrund der Besonderheiten der pädiatrischen Therapie (z. B. „off-label use“, komplexe Dosisberechnungen etc.) gelten Kinder als besonders gefährdet für Nebenwirkungen (NW) und Medikationsfehler (MF). Ziele der vorliegenden Übersichtsarbeit sind es, zur Pharmakovigilanz i. Allg. sowie anschließend zu NW und MF bei Kindern zu informieren und Ansätze zur Vermeidbarkeit vorzustellen.

Pharmakovigilanz – Definition und Aufgaben

Laut der Definitionen von Weltgesundheitsorganisation (WHO, [1]) und Europäischer Arzneimittelbehörde (EMA, [2]) umfasst die Pharmakovigilanz die Gesamtheit der Maßnahmen zu Entdeckung, Erfassung, Bewertung und Vorbeugung von NW sowie anderer arzneimitteltherapiebezogener Probleme, die bei der Anwendung von Arzneimitteln auftreten.

Mit der 2012 durch die Richtlinie 2001/83/EG erfolgten Änderung der pharmazeutischen Gesetzgebung [3, 4] wurde der Begriff der NW neu gefasst. Eine NW wird allgemein definiert als eine Reaktion auf ein Arzneimittel, die schädlich und unbeabsichtigt ist (vgl. dazu auch § 4 Nr. 13 des Arzneimittelgesetzes, AMG). Daraus folgt, dass explizit NW eingeschlossen werden, die bei Anwendung des Arzneimittels auch außerhalb der Zulassungsbedingungen auftreten, wie z. B. bei Überdosierung, Fehlgebrauch, Missbrauch, MF und bei beruflicher Exposition [5, 6]. Damit wurden Fragestellungen und Probleme der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) neben der Arzneimittelsicherheit in der Europäischen Union wichtiger Bestandteil der Pharmakovigilanz [6]. Die Begrifflichkeiten zur AMTS werden näher in einem „Good-pharmacovigilance-practice“-Dokument der EMA erklärt [7].

Zu NW zählen auch außerhalb der Zulassungsbedingungen auftretende schädliche und unbeabsichtigte Reaktionen

Um Berichte zu MF von anderen AMTS-Szenarien abzugrenzen, wurde in Europa 2015 der Begriff MF definiert. Ein MF setzt laut EU-Definition ein unabsichtliches Handeln im Medikationsprozess voraus, das zu einer Schädigung der Patienten führt oder aber führen könnte [8]. Der Off-label use grenzt sich vom MF deutlich ab, da er ein beabsichtigtes, bewusstes Handeln voraussetzt. Im Folgenden sollen NW und MF, ihre Häufigkeiten, klinische Relevanz sowie Vermeidbarkeit bei Kindern dargestellt und diskutiert werden. In der Tab. 1 finden sich wichtige Begriffsbestimmungen zur Pharmakovigilanz.

Tab. 1 Wichtige Definitionen in der Pharmakovigilanz

Nebenwirkungen

Wie ist die Häufigkeit?

Einer Studie aus Deutschland zufolge erlitten 1,7 % der Kinder im Untersuchungszeitraum 2003–2006 unter ambulanter Arzneimitteltherapie eine NW [12]. Dahingegen zeigten Studien, die die NW-Häufigkeit bei Kindern im stationären Bereich untersuchten, dass 14,1 % [13] bzw. 9,2 % [14] der Patienten während eines Krankenhausaufenthalts eine NW erleiden. Smyth et al. gehen davon aus, dass 3–5 % aller stationären Aufnahmen von Kindern aufgrund einer aufgetretenen NW erfolgen [15]. Zudem stellten sie fest, dass aufgrund des häufigen Off-label use das Risiko, während einer stationären Behandlung eine NW zu erleiden, um den Faktor 2,25 erhöht ist [15].

Welche Wirkstoffe sind häufig involviert?

Literaturangaben zufolge sind v. a. Antiinfektiva und Antiepileptika bei hospitalisierten Kindern sowie nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) und Antiinfektiva bei ambulant behandelten Kindern mit NW assoziiert [16].

An dem Forschungsprojekt „KiDSafe – Verbesserung der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Arzneimitteln durch Erhöhung der Arzneimitteltherapiesicherheit“ war das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) als einer der Konsortialpartner beteiligt. Innerhalb dieses Projekts wurden 20.854 Spontanberichte zu Kindern aus Deutschland im Zeitraum 01.01.2000–28.02.2019 v. a. in Bezug auf Meldecharakteristika, demografische Parameter, beschuldigte Wirkstoffe und häufig berichtete NW untersucht. Auf Ebene der konkreten Wirkstoffe lagen am häufigsten NW-Meldungen zu Methylphenidat (MPH, 5,5 %), Ibuprofen (2,3 %) und Atomoxetin (2,0 %) vor. Unter den am häufigsten zu MPH berichteten NW waren „suicide attempt“ 3,2 % (37/1151), „intentional overdose“ 2,9 % (33/1151) und „hallucination“ 1,6 % (18/1151). Die Auswertung erfolgte auf der „Preferred-term“(PT)-Ebene gemäß der Kodierung des Medical Dictionary for Regulatory Activities (MedDRA, [17]).

Aufgrund der bekannten Limitierungen des Spontanberichtssystems lassen sich jedoch keine verlässlichen Aussagen zur anwendungsbezogenen Häufigkeit dieser NW für die oben genannten Wirkstoffe treffen [18].

Welche Organsysteme sind betroffen?

Literaturangaben zufolge waren unter den am häufigsten betroffenen Systemorganklassen „Erkrankungen der Haut und des Unterhautgewebes“ (14–66 %), „Erkrankungen des Nervensystems“ (5–46 %) sowie „allgemeine Erkrankungen und Beschwerden am Verabreichungsort“ (4–71 %; [19, 20]). Diese Zahlen decken sich z. T. mit der Auswertung von Spontanberichten aus der NW-Datenbank EudraVigilance, die im Rahmen des KiDSafe-Projekts analysiert wurden. Dort ergab sich, dass die Systemorganklassen „allgemeine Erkrankungen und Beschwerden am Verabreichungsort“ (24,1 %), „Erkrankungen des Nervensystems“ (20,7 %) und „Verletzung, Vergiftung und durch Eingriffe bedingte Komplikationen“ (18,1 %) am häufigsten gemeldet wurden. Zur Systemorganklasse „Erkrankungen der Haut und des Unterhautgewebes“ lagen 17,2 % der NW-Berichte vor [17]. Ein möglicher Grund für die teilweise unterschiedlichen Ergebnisse könnte sein, dass die beiden referenzierten Studien [19, 20] zu einem Zeitpunkt erhoben wurden, bevor die NW-Definition im Jahr 2012 erweitert wurde.

Welche Kosten werden verursacht?

Gemäß einer orientierenden Recherche zu den Kosten, die durch NW bei Kindern in Deutschland verursacht werden, sind praktisch keine publizierten Arbeiten verfügbar. Für die USA schätzten Tundia et al. 2006 direkte Kosten in Höhe von 252,9 Mio. Dollar, bezogen auf 104.230 Tage, durch pädiatrische NW [21]. Eine weitere Review-Arbeit über 51 weltweit eingeschlossene Studien zu Kindern und Erwachsenen betiteln die Gesamtkosten für einen stationär behandelten Patienten durch eine im Krankenhaus aufgetretene NW auf 2401 $/Patient [22].

Gibt es Risikofaktoren?

Es gibt interne und externe Faktoren, die mit NW bei Kindern assoziiert sind. Interne Faktoren sind z. B. die kontinuierlichen physiologischen Veränderungsprozesse, die von pharmakokinetischer und pharmakodynamischer Relevanz sein können [23] sowie weibliches Geschlecht, beeinträchtigte Leber- oder Nierenfunktion und genetische Polymorphismen [24]. Zu den externen Faktoren zählen u. a. Off-label use, Polypharmazie, [24], die Anwendung von Arzneimitteln zur allgemeinen Anästhesie [24, 25] sowie von Opioidanalgetika [25].

Fallbericht Methylphenidat.

Beispielgebend soll im Folgenden ein Fallbericht zu dem Wirkstoff MPH geschildert werden, der Risikofaktoren bei der Arzneimitteltherapie bei Kindern veranschaulicht. Der NW-Bericht wurde der NW-Datenbank EudraVigilance entnommen.

Falldarstellung. Ein Apotheker berichtet über einen 12-jährigen Jungen, der im Krankenhaus initial mit einer Retardtablette MPH in der Stärke 36 mg behandelt wurde. Der Patient nahm an 3 aufeinanderfolgenden Tagen täglich eine Retardtablette MPH in der Stärke 36 mg ein. Der Wirkstoff war aufgrund eines Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) verschrieben worden. Am 3. Tag entwickelte der Patient Halluzinationen und Suizidgedanken, woraufhin der Wirkstoff abgesetzt wurde und der Patient sich im Anschluss von den gemeldeten NW erholte.

Im November 2008 wurde der Patient laut eines Follow-up-Berichtes erneut in der Klinik vorstellig, um sich mit MPH einstellen zu lassen. In der medizinischen Vorgeschichte des Patienten gab es weder Vorerkrankungen, noch nahm der Patient weitere Wirkstoffe ein.

Bewertung. Laut Fachinformation ist MPH im Rahmen einer therapeutischen Gesamtstrategie zur Behandlung des ADHS bei Kindern ab einem Alter von 6 Jahren indiziert, wenn sich andere therapeutische Maßnahmen allein als unzureichend erwiesen haben. Die Behandlung muss unter Aufsicht eines Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern durchgeführt werden. Zu Beginn der Behandlung mit MPH ist eine sorgfältige Dosistitration erforderlich. Retardierte MPH-Formulierungen stehen in Dosisstärken von 18, 27, 36 und 54 mg zur Verfügung. Die Dosistitration sollte mit der niedrigst möglichen Dosis beginnen [26]. Nach den vorliegenden Informationen wurde bei dem MPH-naiven Patienten nicht mit der niedrigst möglichen Dosis begonnen.

Die Tatsache, dass der Patient laut Follow-up-Bericht zur MPH-Einstellung stationär vorstellig wurde, zeigt, dass erst im Nachgang Maßnahmen zur Vermeidbarkeit des Auftretens neuer NW aufgrund von Überdosierungen sowie zu einer sorgfältigen Beobachtung während der Einstellung getroffen wurden.

Medikationsfehler

Seit 2012 erfasst, kodiert und bewertet das BfArM Meldungen über MF, die u. a. durch die Arzneimittelkommissionen der Heilberufe berichtet werden.

Wegfall von ärztlicher Beratung und ärztlichem Monitoring bei Selbstmedikation erhöht MF-Risiko

Auf der Grundlage dieser ebenfalls spontan berichteten Fälle sowie aufgrund von Hinweisen zu MF aus anderen Quellen werden Maßnahmen zur Minderung des Anwendungsrisikos geprüft und eingeleitet, sofern die im Fallbericht geschilderten Umstände des eingetretenen MF ergeben, dass diesen durch regulatorisches Handeln begegnet werden kann. Dabei berücksichtigt das BfArM auch Fallberichte, die (noch) nicht zu einem Schaden bzw. einer NW beim Patienten geführt haben.

Bei der Bewertung von MF sind neben den Informationen zum betroffenen Arzneimittel auch Informationen zur Art des Fehlers (potenzieller Fehler, Beinahe-Fehler, Fehler mit oder ohne Schaden), den eingetretenen, möglichweise schwerwiegenden Konsequenzen, den Angaben zum Patienten sowie zum Medikationsprozess selbst (Verschreibung, Abgabe, Anwendung etc.) von besonderer Bedeutung. Eine Übersicht über den Ablauf eines Medikationsprozesses und damit auch zu möglichen Fehlerquellen ist in Abb. 1 für die ambulante Versorgung dargestellt. Für die Selbstmedikation ergeben sich durch den Wegfall der ärztlichen Beratung und des ärztlichen Therapiemonitorings besondere Herausforderungen.

Abb. 1
figure 1

Medikationsprozess. aEinfluss des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte auf Produktinformation, Risikokommunikation und Studien

Wie ist die Häufigkeit?

Die in der Literatur beschriebenen Häufigkeiten für das Auftreten von MF bei Kindern sind sehr heterogen, was auf verschiedene Definitionen und Settings zurückzuführen ist [27,28,29]. Ein systematischer Review aus Großbritannien beschreibt Inzidenzen zwischen 0,15 und 17,2 MF/100 stationären Aufnahmen [27, 28]. Ein aktueller Review zur Häufigkeit von MF auf pädiatrischen und neonatologischen Intensivstationen beschreibt, dass bei 14,6 % der Verordnungen auf einer pädiatrischen Intensivstation [30] und 5,5–77,9 % der Verordnungen auf einer Intensivstation für Neugeborene [29] MF auftraten. Eine Studie auf einer allgemeinpädiatrischen Station einer Universitätskinderklinik in Deutschland beobachtete 653 Patienten und identifizierte bei 4,6 % der Patienten einen MF, der zu einer NW führte [31].

Welche Kosten werden verursacht?

Eine genaue Aufstellung der Kosten durch MF speziell bei Kindern in Deutschland ist aufgrund fehlender Zahlen nicht möglich. In Großbritannien werden jedes Jahr Kosten von etwa 98 Mio. GBP mit MF in Verbindung gebracht – zu dieser Zahl tragen auch zahlreiche MF im Kindesalter bei. Wie hoch der genaue Anteil der Kinder am Gesamtanteil ist, lässt sich nicht ableiten [32].

Risikofaktoren und betroffene Wirkstoffklassen

Kinder sind Studien zufolge dreimal häufiger von potenziellen MF betroffen als Erwachsene [33]. Als größter Risikofaktor für MF bei Kindern wird das intensivmedizinische Setting genannt – hierbei insbesondere die Neugeborenenintensivstation und die Onkologie [30, 34]. Dies ist nachvollziehbar, da Kinder, die dort aufgenommen werden, kritisch erkrankt sind. Erschwerend ist auch der Mangel an geeigneten Wirkstoffformulierungen und Dosierungsempfehlungen, da die Arzneimittel bei Zulassung nicht speziell an Kindern geprüft wurden. Der häufige Einsatz von Arzneimitteln ohne solche Empfehlungen erhöht aus Sicht der Autoren das Risiko für Über- oder Unterdosierungen substanziell (Off-label use).

Im Jahr 2017 wurden ungefähr 25–30 % der Arzneimittel für Kinder mangels Alternative off-label verordnet, in einzelnen Bereichen wie der Intensivmedizin und Neonatologie waren es bis zu 90 % [35]. Nach einer Studie, die Medikationen für Kinder in fünf Ländern in Europa untersuchte, erhielten 69 % der Kinder Arzneimittel, die nicht für diese Altersgruppe zugelassen waren [34]. Kinder sind bereits aufgrund ihrer physiologischen Unterschiede im Vergleich zu Erwachsenen (Gewicht, Alter, Pharmakokinetik) einem höheren Risiko für klinisch bemerkbare MF ausgesetzt [36], da die Dosierungen für Kinder patientenindividuell zu berechnen sind und dies nicht ausreichend erfolgt [37]. Doch auch eigentlich leicht vermeidbare Risikofaktoren, wie z. B. unvollständige Verschreibungen (41 % der Fehler) oder nichtsinnvolle Abkürzungen in der Verschreibung (24 %), spielten laut Ghaleb et al. eine große Rolle bei MF in pädiatrischen Kliniken [27, 32].

Zu den im Hinblick auf MF genannten Wirkstoffgruppen zählen v. a. Antiinfektiva, Analgetika und auf das Nervensystem gerichtete Wirkstoffe, wie z. B. Sedativa oder Antiepileptika [27, 30]. Sedativa und Antiinfektiva werden wiederum häufig im intensivklinischen Setting eingesetzt, in dem das Risiko für MF generell erhöht ist [30, 34].

Ergebnisse aus der Fallsammlung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte

Von knapp 1000 Verdachtsfällen, die dem BfArM von den Arzneimittelkommissionen der Heilberufe im Berichtszeitraum 2014–2020 gemeldet worden sind, waren in insgesamt 256 Fällen Kinder betroffen (26 %). Von diesen waren 151 Berichte Meldungen über MF (59 %) und davon wiederum 40 Fälle (26 %) mit einer NW verbunden. In den restlichen 111 Fällen ohne NW wurden in 75 Meldungen (68 %) potenzielle Gefahren (potenzielle MF) für Kinder beschrieben. Dies wird in Abb. 2 veranschaulicht.

Abb. 2
figure 2

Beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte direkt eingegangene Meldungen, die Kinder betrafen, spezifiziert nach nicht vorliegendem und vorliegendem Medikationsfehler (MF) sowie MF mit und ohne Nebenwirkungen (NW)

Von den 151 vorliegenden Berichten zu MF machten Dosierungsfehler bei Kindern den größten Anteil (66 %) der gemeldeten Fälle aus. Ein großer Anteil davon waren nicht korrekt ausgeführte Arzneimittelzubereitungen durch die Eltern oder andere Angehörige, z. B. Zubereitungsfehler bei der Herstellung von Antibiotikasäften. Diese führen überwiegend zu fehlerhaften Dosierungen. Ein noch größerer Teil, nämlich mehr als 70 % der gemeldeten Dosierungsprobleme, führte neben anderen Szenarien (wie Anwendungsfehlern) zu Krankenhauseinweisungen.

Im ambulanten Setting wurden dem BfArM 70 % der Verdachtsfälle bei Kindern von der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) gemeldet. Das spricht dafür, dass in den Apotheken ein überwiegender Anteil dieser Fälle erstmalig entdeckt, gesammelt und weitergeleitet wurde. Die Apotheken nehmen daher bei der Verhinderung von MF bei Kindern eine zentrale Rolle ein.

Von den 105 Berichten (41 %) ohne MF betrafen ca. 16 % (40 Fälle) die versehentliche Einnahme oder Anwendung von Arzneimitteln durch Kinder. Es bezogen sich 28 Fälle (11 %) auf die Nichtadhärenz („treatment noncompliance“), und 14 Fälle (6 %) waren Missbrauchsfälle, die Suizidversuche einschlossen. Das Gesamtbild der AMTS-Meldungen zeigt Abb. 3.

Abb. 3
figure 3

Beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eingegangene Meldungen zur Arzneimitteltherapiesicherheit bei Kindern, differenziert nach Meldequelle und -ursache. AkDÄ Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, AMK Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker, KiDSafe Forschungsprojekt „Verbesserung der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Arzneimitteln durch Erhöhung der Arzneimitteltherapiesicherheit“

Ansätze zur Vermeidbarkeit von NW und MF

Bereits 2015 wurden in der Zeitschrift Deutsches Ärzteblatt International Strategien beschrieben, wie eine sichere Arzneimitteltherapie für Kinder etabliert werden könnte [33]. Demnach sollten v. a. klinische Studien mit pädiatrischen Patientengruppen gefördert werden. Zudem werden ein anerkanntes nationales Standardwerk und dessen Umsetzung in entsprechende Datensätze für elektronische Verordnungssysteme gefordert, um evidenzbasierte Dosisberechnungen zu ermöglichen [33].

Datenbanken und Leitlinien

Das Paediatric Drug Information System (PDIS) ist ein webbasiertes pädiatrisches Arzneimittelinformationssystem [38]. Das System ist aus dem 2016 durch das Bundesministerium für Gesundheit geförderten Projekt „Aufbau und Betrieb einer evidenzbasierten Dosisdatenbank und eines Dosishandbuches für Kindermedikamente in Deutschland (PaedDos)“ hervorgegangen [38]. Das PDIS wurde in den letzten Jahren zur Online-Plattform Kinderformularium.de [39] weiterentwickelt, auf die Angehörige von Fachkreisen Zugriff haben. Kinderformularium.de ist eine unabhängige Datenbank für evidenzbasierte Informationen zur Anwendung von Arzneimitteln bei Kindern. Aktuell sind in der Datenbank 420 Monografien aufgenommen. Die Datenbank enthält Informationen zu Zulassungsstatus, Anatomical Therapeutic Chemical (ATC) Code, Dosierungsempfehlungen, NW, Kontraindikationen, evidenzbasiertem Off-label use, besonderen Hinweisen sowie Literaturreferenzen. Die Daten beruhen auf Primärliteratur, Fachinformationen sowie Leitlinien und werden durch unabhängige Expertinnen und Experten überprüft. Weitere in diesem Kontext relevante UAW-Datenbanken bzw. Informationsportale sind das Kinderformularium.nl [40] und Kindermedika.at [41].

Ferner existiert in der Schweiz eine nationale Datenbank zur Dosierung von Arzneimitteln bei Kindern (SwissPedDose, [42]), mit dem Ziel, die Anwendungssicherheit von Arzneimitteln bei Kindern zu erhöhen. Hierauf kann die deutsche Ärzteschaft ebenfalls zugreifen [43].

Eine weitere nützliche Datenbank mit der Angabe zu altersgerechten Darreichungsformen für Kinder stellt die Arzneimitteldatenbank „Zugelassene Arzneimittel für Kinder“ (ZAK®; [44]) dar. Die ZAK® ist ein Projekt der gemeinnützigen Initiative Arzneimittel für Kinder e. V. (IKAM). Mit dieser Datenbank werden wichtige Informationen aus den Fachinformationen zu Dosierung und Anwendung bereitgestellt.

S2k-Leitlinie „Medikamentensicherheit bei Kindernotfällen“ der DGKJ wurde 2021 erstveröffentlicht

Des Weiteren wurde eine S2k-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V. (DGKJ) mit dem Titel „Medikamentensicherheit bei Kindernotfällen“ entwickelt und im März 2021 erstveröffentlicht. Beteiligt waren zahlreiche Berufsverbände und Gesellschaften. Die wichtigsten Empfehlungen sind auf S. 4 zusammengefasst [45].

Einsatz pädiatrischer Pharmazeuten

Ein weiteres Instrument zur Vermeidbarkeit von NW und MF stellt die Einbindung pädiatrischer Pharmazeuten dar. Diese waren in den letzten 3 Jahrzehnten an vielen wichtigen Erkenntnissen im Bereich der Arzneimittelsicherheit für Kinder beteiligt [24]. Kinder profitieren besonders von der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Apothekern und Ärzten, da die klinische Expertise der Kinderärzte mit der Expertise zur Auswahl geeigneter Arzneimittel und v. a. geeigneter Arzneiformen durch die Apotheker verknüpft werden [24, 46].

Meldungen

Wimmer et al. empfehlen zudem, dass Ärzte und Apotheker ihrer Verpflichtung zur Meldung von NW, Off-label use oder bei MF verstärkt nachkommen sollten [33]. Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) hat 2007 zusammen mit der DGKJ einen Leitfaden zur Meldung unerwünschter Arzneimittelwirkungen bei Kindern veröffentlicht [47]. Dieser Leitfaden beschreibt, warum es dringend notwendig ist, gerade NW bei Kindern zu melden, welche Informationen für die Meldung besonders relevant sind und bei welchen Institutionen gemeldet werden kann.

Darüber hinaus können die Behörden resp. die Pharmakovigilanz selbst direkt Einfluss nehmen. Wie am folgenden Beispiel zu „Otriven gegen Schnupfen 0,025 % Nasentropfen“ gezeigt werden soll, können MF-Meldungen – wie hier durch die Meldungen der Ärzte- und Apothekerschaft gezeigt werden konnte – dazu beitragen, dass auch bei bereits lange etablierten Arzneimitteln neue Entwicklungen zu besser geeigneten Kinder- und Neugeborenenformulierungen möglich werden [48].

Daher verfolgt der vorliegende Beitrag auch die Intention, nachdrücklich zur Meldung von NW- und MF-Verdachtsfällen bei den entsprechenden Stellen aufzurufen [49,50,51].

Beispiel eines Medikationsfehlers bei Säuglingen.

Nachfolgend soll über Medikationsfehler berichtet werden, die Probleme im Zusammenhang mit der Anwendung von Otriven gegen Schnupfen 0,025 % Nasentropfen bei Säuglingen beschreiben. Diese wurden dem BfArM erstmalig durch die AkdÄ gemeldet und stellen in der Konsequenz eine Dosierungsproblematik dar. Die Zusammenfassung der MF-Berichte sowie die hierzu eingeleiteten Gegenmaßnahmen hatte das BfArM bereits in der 2020 erschienenen 4. Ausgabe des Bulletin zur Arzneimittelsicherheit vorgestellt [48].

Das BfArM hat seit 2017 mehrere Berichte erhalten, die Anwendungsprobleme im Zusammenhang mit der Applikation von Otriven gegen Schnupfen 0,025 % Nasentropfen bei Säuglingen beschreiben. Die Nasentropfen enthalten den Wirkstoff Xylometazolinhydrochlorid. Bei diesem handelt es sich um ein α‑Sympathikomimetikum, das sich aufgrund seiner vasokonstriktorischen und abschwellenden Wirkung zur Behandlung von Entzündungszuständen der Schleimhäute im Nasen-Rachen-Raum eignet. Eine Zulassung hatte das Arzneimittel bisher zur Anwendung bei Säuglingen und Kleinkindern unter 2 Jahren. Bei korrekter Anwendung sind die systemischen Wirkungen gering, allerdings kann eine unbeabsichtigte Überdosierung bei Säuglingen erhebliche NW, u. a. Somnolenz bis hin zum Koma, auslösen.

Bewertung. Die Fehldosierungen können auftreten, wenn nicht, wie vorgesehen, nur 1 Trpf./Nasenloch appliziert wird, sondern eine höhere, nichtdefinierte Tropfenzahl durch den Pipettenapplikator verabreicht wird. Die vorliegenden Meldungen machen deutlich, wie leicht diese Fehldosierungen auftreten können und wie wenig den Eltern oder anderen Betreuungspersonen über das Risiko einer Überdosierung dieser Nasentropfen bekannt ist.

Gegenmaßnahmen. Daraufhin wurde in Abstimmung mit dem Zulassungsinhaber die Anwendung bei Säuglingen unter einem Jahr als temporäre Maßnahme kontraindiziert. Die aktualisierte Fach- und Gebrauchsinformation enthält darüber hinaus verbesserte Hinweise zur Applikation der Tropfen bei Kleinkindern. Die Firma GSK entwickelt derzeit einen Applikator, der speziell für die Anwendung bei Säuglingen geeignet ist. Nach Einführung des Applikators ist geplant, die aus Gründen der AMTS vorsorglich eingeführte Kontraindikation aufzuheben und diese Altersgruppe als Anwendungsgruppe wieder einzuschließen.

Fazit für die Praxis

  • In Bezug auf die Anwendungssicherheit von Arzneimitteln bei Kindern sollten mehr Studien durchgeführt werden.

  • Berichte zu Nebenwirkungen (NW) und Medikationsfehlern (MF) sind wichtige Instrumente in der pädiatrischen Pharmakovigilanz. Angehörige der Heilberufe sollten die Arzneimitteltherapie möglichst sorgfältig überwachen sowie NW und MF an die vorgesehenen Stellen melden (Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker [AMK], Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft [AkdÄ], Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte [BfArM]).

  • Bei Arzneimittelverschreibungen für Kinder sollte auf evidenzbasierte pädiatrische Dosistabellen zurückgegriffen werden.

  • Angehörige der Heilberufe sollten vor der Abgabe von Arzneimitteln auf die richtige Zubereitung, Applikation und auch auf potenzielle Gefahren einer fehlerhaften Dosierung hinweisen. Dies gilt umso mehr bei Arzneimitteln mit höherem Risiko für NW und MF.

  • Vielversprechend ist der Einsatz von Pharmazeuten, die im ambulanten und im stationären Setting bezüglich Arzneimitteltherapien bei Kindern beraten und unterstützen können.

  • Die Zusammenarbeit zwischen den Arzneimittelkommissionen der Heilberufe und dem BfArM soll intensiviert werden.