Während der COVID-19-Pandemie werden weltweit Einschränkungen sozialer Kontakte durchgesetzt. Deutschlandweit traten die weitreichendsten Maßnahmen, der sog. Lockdown, am 16.03.2020 in Kraft. Die Gefahr steigender Zahlen von Kindesmisshandlung, -missbrauch und -vernachlässigung wurde medial und in Fachkreisen schon früh diskutiert. Der folgende Beitrag gibt die Ergebnisse einer Umfrage an allen deutschen Kinderkliniken und Kinderschutzambulanzen bezüglich der Fallzahlen, -schwere und -qualität während des Lockdowns wieder.

Steigender Stress für Familien

Kinder und Jugendliche sind keine Risikogruppe für schwere Verläufe der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) [17], aber waren durch die Schließung von Kitas, Schulen und Freizeitangeboten sowie durch minimierte Kontakte in besonderem Maß vom Lockdown betroffen. Das eingeschränkte Angebot der Jugend- und Familienhilfe stellte besonders für belastete Familien eine Herausforderung dar [9, 26]. Kindern fehlte es an Möglichkeiten, sich Entlastung, Beratung oder außerfamiliären Schutz zu suchen [24]. In vielen Familien kam es zu Konflikten; fast jedes vierte Kind fühlte sich einsam [15]. Die Inanspruchnahme von telefonischen Beratungsstellen für Kinder und Eltern erhöhte sich [27].

In Krisen aufgrund von Naturkatastrophen oder Wirtschaftsrezession stieg in der Vergangenheit das Risiko für Kindesmisshandlung häufig über das Ende der Krisen hinaus an [2, 6, 11, 25]. Befürchtet wird daher, dass sich das Misshandlungsrisiko insbesondere in den Familien, die bereits vor der COVID-19-Pandemie sehr belastet waren, während des Lockdowns erhöhte [4, 5], insbesondere wenn von Gewalt betroffene Kinder in der zum Schutz der Bevölkerung verordneten Kontaktsperre mit den TäterInnen zusammenlebten [7].

Wegfall sozialer Kontrolle

Während die Gefahr für Misshandlungen in den Familien anstieg, entfielen gleichzeitig wichtige Mechanismen der sozialen Kontrolle. Verletzungen oder Verhaltensänderungen, die sonst in der Kita oder Schule aufgefallen wären, könnten während des Lockdowns häufig unentdeckt geblieben sein. Betroffenen Kindern fehlten wichtige AnsprechpartnerInnen, um sich anzuvertrauen und Übergriffe zu melden. Während Kinder im Schulalter häufig noch mit ihren LehrerInnen in Kontakt standen, sahen Kleinkinder und Kinder insbesondere aus sozioökonomisch benachteiligten Familien u. U. über Wochen nur ihre engsten Familienmitglieder. Dementsprechend verzeichneten etwa 25 % der deutschen Jugendämter in diesem Zeitraum einen Rückgang an Gefährdungsmeldungen [16]. Vermutet werden muss, dass die Isolationsmaßnahmen nicht nur vulnerable Kinder aus Familien mit hoher Stressbelastung oder in prekären Lebensverhältnissen gefährdeten, sondern auch Kinder, die bis dahin nicht zur Risikogruppe für Kindeswohlgefährdung gehörten.

Mangel an empirisch fundiertem Wissen

Weltweit wurde von steigenden Zahlen häuslicher Gewalt v. a. gegen Frauen berichtet, die sich bislang v. a. aus einer Zunahme lokaler Polizeieinsätze diesbezüglich sowie steigenden Anrufzahlen bei Hilfetelefonen ableiten [3, 14, 18]. Über die Häufigkeit von Gewalt gegen Kinder in diesem Zeitraum ist ebenfalls wenig bekannt. In einer bevölkerungsrepräsentativen Umfrage in Deutschland gaben etwa 7 % der befragten Frauen an, dass mindestens eins ihrer Kinder während des Lockdowns Opfer von körperlicher Gewalt geworden ist [23]. Während die Zahlen erwachsener PatientInnen in Krankenhäusern bezüglich lebensbedrohlicher Krankheiten während des Lockdowns zurückgingen [19], zeigten anekdotische Berichte steigende Zahlen von in Krankenhäusern versorgten nichtakzidentellen Schädel-Hirn-Traumata auf [21]. Die Medizinische Kinderschutzhotline verzeichnete nach einem Rückgang der Anrufe in den Monaten März und April ab Mai 2020 einen Anstieg der Anrufe über das Vorjahresniveau hinaus [1].

Medizinischer Kinderschutz in Deutschland

Die deutschen Jugendämter führten 2019 etwa 6 % ihrer Gefährdungseinschätzungen nach Meldungen von Kinderschutzfällen aus dem Gesundheitswesen durch [22]. Da in Deutschland keine Meldepflicht für Fälle von vermuteter Kindeswohlgefährdung besteht, ist von einer hohen Zahl nichtgemeldeter und daher nichtregistrierter Kinderschutzfälle, die in der medizinischen Versorgung aufgefallen sind, auszugehen. Nachdem die Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) und die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) ein strukturiertes und multiprofessionelles Vorgehen im medizinischen Kinderschutz gefordert haben, steigt die Zahl der Kinderschutzambulanzen und -gruppen kontinuierlich an [20]. Ein Register und eine einheitliche Dokumentation von Kinderschutzfällen fehlen in Deutschland jedoch bisher. Die Abrechnung der Diagnostik bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung ist seit 2018 über eine Aufnahme der OPS-Kinderschutzprozedur 1‑945 in den Fallpauschalenkatalog möglich. Eine spezifische Verschlüsselung ist über das Klassifikationssystem ICD-10 zwar möglich, wird aber wenig genutzt, sodass die Anzahl der Kinder, die aufgrund von Misshandlung oder Vernachlässigung medizinisch versorgt wurden, nicht den Abrechnungsdaten der Krankenkassen entnommen werden kann. Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, anhand der in deutschen Kinderkliniken und Kinderschutzambulanzen dokumentierten Kinderschutzfälle während der ersten 2 Monate des pandemiebedingten Lockdowns Aussagen über die Häufigkeit und Schwere von Gewalt gegen Kinder während des Lockdowns zu treffen.

Methodik

Mittels eines Onlinesurveys wurden in einer Vollerhebung deutschlandweit kinderversorgende Kliniken und Ambulanzen zur Entwicklung der Kinderschutzfälle während des COVID-19-Lockdowns befragt.

Stichprobe

Eingeladen wurden 365 kinderversorgende Kliniken und Ambulanzen in Deutschland, die im Mai 2020 auf der Homepage oder im E‑Mail-Verteiler der DGKiM eingetragen waren. Aufgrund fehlerhafter Kontaktdaten wurden 22 Einrichtungen nicht erreicht. Von den 343 erreichten Kliniken und Ambulanzen nahmen 159 Einrichtungen mit insgesamt 188 Versorgungsbereichen an der Befragung teil, sodass eine Teilnahmequote von 46 % erreicht wurde.

Instrumente

Zur Befragung wurden Online-Fragebogen mithilfe der Computer-Software SoSci Survey erstellt. Diese enthielten 13 selbstentwickelte Items zur Beschreibung der Einrichtung, zur nach Alter, Gewaltform und Schweregrad differenzierten Anzahl von Kinderschutzfällen im März und im April in den Jahren 2019 und 2020, zu Besonderheiten sowie zu Ideen und Wünschen für den Kinderschutz während der COVID-19-Pandemie. Die Gewaltformen wurden differenziert nach etablierten Unterformen erfasst, wobei angesichts der unterschiedlichen Dokumentationssysteme auf Operationalisierungen der Kategorien verzichtet wurde. Der Schweregrad wurde abgefragt als Fälle, die schon allein aufgrund der Schwere auftretender Verletzungen stationärer Behandlung bedurft hätten. Die Fragen waren über Multiple-Choice-, dichotome oder freitextliche Antwortformate zu beantworten. Die durchschnittliche Bearbeitungsdauer der Fragebogen ließ sich nicht ermitteln, da die Befragung zur Recherche der Fallzahlen unterbrochen werden konnte.

Durchführung

Zur Prüfung von Expertenvalidität und Praktikabilität des Fragebogens wurde ein Pretest durchgeführt, in dem 4 Kliniken und Ambulanzen sowie Mitglieder der DGKiM Änderungen hinsichtlich des Inhalts und Formats vorschlugen. Die ethische Unbedenklichkeit der Studie wurde von der lokalen psychologischen Ethikkommission am Zentrum für Psychosoziale Medizin am UKE bestätigt (LPEK-0158). Die Kliniken und Ambulanzen wurden im Mai 2020 über die DGKiM zur Teilnahme an der Befragung eingeladen und nach 4 Wochen an die Befragung erinnert. Die Einrichtungen erhielten kein Incentive für die Teilnahme an der Befragung.

Statistische Analyse

Zum Vergleich der Fallzahlen zwischen 2019 und 2020 wurden deskriptive Verteilungsmaße wie Median (Md), Range sowie kumulierte absolute Häufigkeiten berechnet. Um Unterschiede auf Signifikanz zu prüfen, wurden Wilcoxon-Tests berechnet. In die Wilcoxon-Tests wurden alle Einrichtungen einbezogen, die sowohl Angaben zu 2019 wie auch 2020 machten.

Ergebnisse

Beschreibung der teilnehmenden Einrichtungen

Von den n = 159 teilnehmenden Kliniken und Ambulanzen aus allen 16 Bundesländern boten n = 120 (75 %) stationäre und n = 68 (43 %) ambulante Versorgung im Bereich des medizinischen Kinderschutzes an; n = 29 Einrichtungen (18 %) boten sowohl ambulante als auch stationäre Versorgung an (Tab. 1).

Tab. 1 Beschreibung der teilnehmenden Versorgungsbereiche (n = 188)

Die Hälfte der Kinderschutzambulanzen hatte 2019 mehr als 44 Kinderschutzfälle dokumentiert, während die Hälfte der stationären Einrichtungen mehr als 10 Kinderschutzfälle versorgt hatte.

Anzahl und Art der Kinderschutzfälle im Überblick

Die Einrichtungen berichteten für März und April 2019 insgesamt n = 1118 Kinderschutzfälle (Tab. 2). Im März und im April 2020 wurden insgesamt n = 702 Kinderschutzfälle dokumentiert (−37 %). In beiden Zeiträumen zeigte sich ein Range von 0 bis 262 Fällen pro Einrichtung. Der deskriptive Vergleich nur der Einrichtungen, die ihre Fallzahlen für beide Zeiträume angaben, ergab zwischen 2019 und 2020 eine Verringerung um n = 67 (−15 %) der Kinderschutzfälle im ambulanten bzw. um n = 61 (−20 %) im stationären Bereich.

Tab. 2 Häufigkeit der Kinderschutzfälle im Vergleich zwischen 2019 und 2020 in den teilnehmenden ambulanten und stationären Kinderschutzeinrichtungen insgesamt (n = 188)

Die Häufigkeit der Fälle in den unterschiedlichen Altersklassen unterschied sich zwischen beiden Erhebungszeiträumen. Der größte Unterschied wurde für die Altersklasse der 12- bis 17-Jährigen gefunden, für die 2020 n = 16 Kinderschutzfälle weniger als 2019 dokumentiert wurden. Für die am häufigsten dokumentierte Gewaltform „Misshandlung“ wurden während des Lockdowns 2020 n = 57 Fälle weniger als im Vergleichszeitraum 2019 registriert. Alle anderen Fallzahlen unterschieden sich im zeitlichen Vergleich marginal.

Hinsichtlich der Anzahl an dokumentierten Kinderschutzfällen, Altersgruppen und Misshandlungsformen in den Vergleichszeiträumen 2019 und 2020 zeigten sich keine signifikanten Unterschiede (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Vergleich der Häufigkeit von Kinderschutzfällen in 2019 und 2020 in ambulanten (n = 27) und stationären (n = 54) Kinderschutzeinrichtungen mit vollständigen Datensätzen zu beiden Erhebungszeiträumen

Besonderheiten im medizinischen Kinderschutz während des Lockdowns

Von den 159 Institutionen haben 78 Einrichtungen freitextliche Angaben gemacht. Etwa 31 % der Kliniken und Ambulanzen (n = 24) meldeten Veränderungen in den Fallzuweisungen während des Lockdowns zurück. Rund 12 % der Institutionen (n = 9) hatten weniger Zuweisungen durch die Jugendämter verzeichnet. Etwa 13 % der befragten Einrichtungen (n = 10) berichteten von Besonderheiten in Bezug auf die Vorstellungsgründe, zu denen vorrangig elterliche Überforderung bzw. Spannungen innerhalb der Familie zählten. Einen erhöhten Schweregrad der Verletzungen bei den während des Lockdowns vorgestellten Kinderschutzfällen beobachteten 10 % der teilnehmenden Kliniken und Ambulanzen (n = 8). Von 35 % der Einrichtungen (n = 27) wurde zurückgemeldet, dass sich infektionsprophylaktische Maßnahmen auf die Anzahl der Kinderschutzfälle ausgewirkt hatten. Beispielsweise war in 9 % der Institutionen (n = 7) der Zugang eingeschränkt.

Rund 18 % der Einrichtungen (n = 14) wünschten sich für den Kinderschutz während eines pandemiebedingten Lockdowns eine besser abgestimmte Zusammenarbeit mit den Jugendämtern, da in den Einrichtungen behandelte Patienten nicht vom Jugendamt betreut wurden (n = 7) oder die Jugendämter schlecht erreichbar waren (n = 5). Etwa 13 % der Einrichtungen (n = 10) empfahlen, die aufsuchende und ambulante Jugend- bzw. Familienhilfe früher als während des Lockdowns 2020 wieder aufzunehmen. Rund 10 % der Einrichtungen (n = 8) sprachen sich dafür aus, Betreuungsangebote für Kinder durch eine frühere und längere Öffnung sowie durch eine Ausweitung der Notbetreuung zu verbessern.

Diskussion

Die vorliegende Untersuchung auf der Grundlage einer Vollerhebung in kinderversorgenden Kliniken und Ambulanzen in Deutschland beschreibt einen Rückgang der dokumentierten Fallzahlen im medizinischen Kinderschutz während des Lockdowns im Frühjahr 2020 im Vergleich zu 2019. Die Befunde stehen im Einklang mit dem Rückgang an Gefährdungsmeldungen bei den Jugendämtern [16]. Die Ergebnisse der Befragung stützen die von KinderschutzexpertInnen geäußerte Befürchtung, dass von Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche während des pandemiebedingten Lockdowns im Frühjahr 2020 seltener erkannt wurden als vor dem Lockdown und lassen sich möglicherweise auf den Verlust von Meldern in Kitas, Schulen und dem außerfamiliären Umfeld aufgrund des „social distancing“ zurückzuführen. Auch infektionsprophylaktische Maßnahmen in den kinderversorgenden Kliniken und Ambulanzen können die Reduktion der Fallzahlen bedingt haben.

Es ist nicht auszuschließen, dass durch geringere Belastungen in der Schule und am Arbeitsplatz das Stressniveau während des Lockdowns für Kinder und Eltern in einigen Familien gesunken ist und dadurch das Misshandlungsrisiko verringert wurde. Allerdings deuten Befragungen zum COVID-19-Lockdown auf erhöhten Stress für Kinder und Erwachsene hin, z. B. durch Überforderung, finanzielle Sorgen, die schwere Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Homeoffice sowie durch die Auflösung eingespielter familiärer Abläufe [15]. Steinert et al. [23] belegten zudem hohe Raten an häuslicher Gewalt während des Lockdowns gegen Frauen und Kinder. Auch die häusliche Gewalt zwischen Eltern stellt im Übrigen eine Kindeswohlgefährdung dar [8] und muss zu den gewonnenen Erkenntnissen zu Kinderschutzfällen während des Pandemie-Lockdowns additiv verstanden werden.

Über die Schwere der Kinderschutzfälle während des Lockdowns können auf der Grundlage der erhobenen Daten keine eindeutigen Aussagen getroffen werden. Einzelne Institutionen meldeten für den Zeitraum eine erhöhte Rate an Fällen mit schweren Verletzungen zurück. Vor dem Hintergrund generell gesunkener Patientenzahlen auch bei sehr schweren Erkrankungen [19] ist zu befürchten, dass die Anzahl an Kinderschutzfällen mit schwerer Misshandlung in diesem Zeitraum mindestens gleich geblieben ist und weniger betroffene Kinder Zugang zu (medizinischer) Hilfe bekommen haben als vor der COVID-19-Pandemie. Diese Vermutung spiegelt sich jedoch nicht in den Daten der Institutionen, die für die Vergleichszeiträume Fallzahlen angegeben habe, wider.

Limitationen

Die Aussagekraft der Ergebnisse ist durch die unterschiedlichen Standards der in den Kliniken und Ambulanzen dokumentierten Daten sowie durch die unterschiedlichen Definitionen für Fälle und Misshandlungsformen limitiert. Für die Verbesserung der Qualität und Auswertbarkeit der Daten zu Fällen im medizinischen Kinderschutz sollten Standards zur einheitlichen Dokumentation und Definitionen entwickelt werden [13].

Die identifizierten Veränderungen der Fallzahlen lassen sich von jahreszeitlichen oder auf die Einrichtungsgröße zurückgehenden Schwankungen nicht mit Sicherheit abgrenzen. In die Stichprobe waren jedoch viele große Kinderschutzeinrichtungen mit relativ hohen Fallzahlen eingeschlossen (Tab. 1), in denen Schwankungen über die Jahre hinweg als wenig wahrscheinlich angenommen werden können, sodass von einem höchstens geringen Effekt auf die Veränderungen auszugehen ist.

In der Erhebung wurden Fallzahlen aus den ersten 2 Märzwochen 2020 erfasst, in denen die beschränkenden Maßnahmen des Lockdowns noch nicht in Kraft getreten waren. Die erfassten Fallzahlen müssen zudem als Verdachtsfälle betrachtet werden, denen im Rahmen des ambulanten oder stationären medizinischen Kinderschutzes nachgegangen wurde, und können daher nicht als bestätigte Fälle angesehen werden. In Betracht gezogen werden muss, dass die mediale Präsenz des Themas Kinderschutz im Frühjahr 2020 zu einer verstärkten Wahrnehmung möglicher Verdachtsfälle geführt haben könnte. Gegen diese systematische Wahrnehmungsverzerrung spricht jedoch, dass kein Anstieg an Kinderschutzfällen gefunden wurde. Die Fortführung der Datenerhebung zur Entwicklung der Fallzahlen nach dem Lockdown wird dazu weitere Erkenntnisse liefern und auch eine Bewertung der langfristigen Auswirkungen pandemiebedingter Einschränkungen ermöglichen.

Ausblick

Seit der Erhebung dieser Daten sind längst erneut weitreichende Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 beschlossen worden, die auch Kinder und Jugendliche betreffen. Langfristige psychologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen der Maßnahmen sind wahrscheinlich, in Art und Umfang aber noch schwierig abzuschätzen. Da die gesundheitlichen und sozioökonomischen Auswirkungen von Gewalt an Kindern weitreichend sind, sollte der Kinderschutz in zukünftigen Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie noch stärker berücksichtigt werden [10, 12]. Kitas und Schulen sollten während eines Lockdowns soweit wie möglich geöffnet bleiben, damit Kinder weiterhin Ansprechpartner außerhalb ihrer Familien haben. Die Kinder- und Jugendhilfe sollte als systemrelevant betrachtet und in Krisenzeiten tätig bleiben. Das Gesundheitswesen sollte Maßnahmen ergreifen, damit Kinder bei einem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung infektionssicher untersucht werden können.

Fazit für die Praxis

  • Vorbehaltlich der Limitationen der Studie sind die Fallzahlen im medizinischen Kinderschutz während des Lockdowns in März und April 2020 gegenüber dem Vorjahr deutlich gesunken.

  • Es ist zu befürchten, dass das Dunkelfeld misshandelter, missbrauchter und vernachlässigter Kinder während des Lockdowns weiter gestiegen ist.

  • Politische und infektionsprophylaktische Maßnahmen müssen v. a. belastete und benachteiligte Familien stärker als zuvor berücksichtigen.

  • Die Institutionen der Jugendhilfe sollten in Krisenzeiten als systemrelevant eingestuft werden.

  • Falldefinitionen und Dokumentationsstandards im medizinischen Kinderschutz sollten dringend vereinheitlicht werden, um die Situation von Gewalt betroffener Kinder in Deutschland besser bewerten zu können.