Anamnese

Ein 13 Jahre alter Junge fiel mit einer Glukosurie im Rahmen einer Routinekontrolle beim Kinderarzt auf. Es bestanden keinerlei Beschwerden, insbesondere keine Polyurie oder Polydipsie. Die Bestimmung des Nüchternblutzuckers ergab einen pathologischen Wert von 137 mg/dl; der HbA1c (Hämoglobin A1c) lag bei 6,5 %. Daraufhin wurde die stationäre Einweisung in eine Kinderabteilung mit diabetologischem Schwerpunkt wegen des Verdachtes auf einen Diabetes mellitus Typ 1 veranlasst.

Es ergaben sich keinerlei Hinweise auf einen Diabetes mellitus in der Familie. In der Eigenanamnese ist ein Shigatoxin-positives hämolytisch-urämisches Syndrom (STEC-HUS) mit akutem Nierenversagen im Alter von 3 Jahren erwähnenswert. Es bestanden keinerlei extrarenale Manifestationen des HUS. Nach einer Peritonealdialysetherapie über 8 Tage kam es im weiteren Verlauf zu einer kompletten und anhaltenden Remission der Nierenfunktion.

In den jährlichen Nachkontrollen zeigten sich eine altersentsprechende Nierenfunktion (GFR [Glomeruläre Filtrationsrate] 96 ml/min und 1,73 m2 KOF nach Schwartz), eine persistierende kleine Proteinurie von 19 mg/m2 KOF und h sowie ein altersentsprechender Blutdruck.

Klinischer Befund

Das Gewicht lag bei Aufnahme bei 54,8 kg (P [Perzentile] 50–75), die Körpergröße bei 168,0 cm (P 50–75), der BMI (Body Mass Index) betrug 19,4 kg/m2 (P 50–75). Der übrige körperliche Untersuchungsbefund war unauffällig.

Diagnostik

Im Rahmen der stationären Aufnahme war eine Glukosurie nachweisbar. Dabei zeigte sich weder eine Ketonurie noch eine Acidose in der Blutgasanalyse. Der HbA1c betrug 6,5 %; Elektrolyte und Blutfette waren normwertig. Während des stationären Aufenthaltes wurden Blutzuckertagesprofile erstellt, die inkonstant hyperglykämische und, insbesondere nachts, auch normoglykämische Werte zeigten. Der orale Glucosetoleranztest (oGTT) ergab jedoch eindeutig pathologische Werte (0 min: 140 mg/dl, 60 min 326 mg/dl, 120 min 394 mg/dl), sodass die Diagnose eines Diabetes mellitus gesichert war.

Die bei Manifestation bekannten, mit einem Typ-1-Diabetes zu erwartenden Antikörper (Glutamatdecarboxylase‑, Tyrosinphosphatase-2-, Insulin‑, Inselzellenantikörper) waren negativ. Hinweise für eine Autoimmunthyreoiditis oder Zöliakie ergaben sich ebenfalls nicht.

Auf eine für einen Diabetes Typ 2 sprechende Insulinresistenz gab es bei unauffälligem HOMA(Homeostasis Model Assessment)-Index von 2,28 (normal <2,0) und fehlender Adipositas keinen Hinweis [1].

Aufgrund der ungewöhnlichen Blutzuckerverläufe mit nur leicht erhöhten Morgenwerten bei relativ guten Gelegenheitsblutzuckerwerten und nach Durchführung des deutlich pathologischen oGTT wurde zunächst die Verdachtsdiagnose eines „maturity-onset diabetes of the young“ (MODY) gestellt. Molekulargenetisch konnte jedoch keine kausale Mutation in den mit den MODY-Typen 1–13 assoziierten Genen nachgewiesen werden.

Therapie und Verlauf

Eine Therapie mit Insulin wurde bei Manifestation aufgrund der meist normoglykämischen Stoffwechsellage nicht eingeleitet. Der Patient wurde nach ausführlichen Gesprächen entlassen. Regelmäßige Blutzuckerkontrollen im Alltag und ambulante Verlaufskontrollen wurden vereinbart.

Neben einer von der Familie selbst initiierten kohlenhydratarmen Diät erfolgte keine Therapie. In Verlaufskontrollen nach einem und 4 Monaten zeigten sich zunächst eine Stabilisierung der Blutzuckerwerte und ein Rückgang des HbA1c auf minimal 5,8 % (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Durchgeführte Diagnostik und Therapie bezüglich des Diabetes mellitus. oGTT Oraler Glucosetoleranztest, HbA1c Hämoglobin A1c, C-Peptid Connecting peptide,HOMA Homeostasis Model Assessment, IA2 Thyrosinphosphatase-2-Antikörper, GAD Gutamatdecarboxylaseantikörper, TPO Thyreoperoxidaseantkörper, tTGA Gewebstransglutaminaseantikörper, MODY Maturity Onset Diabetes of the Young

Weitere 3 Monate später wurde der Patient wegen deutlich ansteigender Blutzuckerwerte bei völlig unbeeinträchtigtem Befinden erneut stationär aufgenommen. Die Blutzuckerwerte lagen zwischen 200 und 400 mg/dl, und der HbA1c war mit 10,8 % nun eindeutig pathologisch und behandlungsbedürftig. Die Diabetes-Typ-1-spezifischen Antikörper waren weiterhin negativ. Der HOMA-Index war mit 1,85 weiterhin normwertig. Ein Insulinmangel war mit einem C‑Peptid von 0,53 ng/ml wahrscheinlich, sodass eine intensivierte konventionelle Insulintherapie (ICT) mit dem Basalinsulin Glargin und dem Bolusinsulin Lispro begonnen wurde. Nach ausführlicher Schulung und Stabilisierung der Blutzuckerwerte unter Insulintherapie erfolgte die Entlassung nach Hause.

Eine ambulante Verlaufskontrolle 3 Monate nach Beginn der intensivierten konventionellen Insulintherapie zeigte eine komplette Stabilisierung der Blutzuckerwerte sowie eine Normalisierung des HbA1c auf 5,4 %.

Diskussion

Die ätiologische Einordnung der Diabeteserkrankung war in diesem Fall schwierig. Nach ISPAD-Leitlinie liegt ein Typ-1-Diabetes bei Insulinmangel aufgrund einer autoimmunen β‑Zell-Zerstörung vor [2]. Ein kleiner Teil (<5 %) der Diabetes-Typ-1-Patienten hat eine sog. idiopathischen Typ-1-Diabetes, ohne nachweisbare Inselzellantikörper.

In dem vorliegenden Fall lagen typische Befunde weder für einen Typ-1-Diabetes noch für einen Typ-2-Diabetes (Insulinresistenz) vor. Ein MODY-Diabetes konnte molekulargenetisch nicht nachgewiesen werden.

Typische mit einem Diabetes Typ 1 assoziierte Antikörper wurden in der Initialdiagnostik nicht gefunden. Einschränkend sei erwähnt, dass der kürzlich beschriebene Zinktransporterantikörper (ZnT8A), der mit 3 % der Fälle eines Diabetes mellitus assoziiert ist, noch nicht analysiert wurde [3]. Ebenso ist bekannt, dass in ungefähr 10 % der pädiatrischen Fälle eines Diabetes mellitus auch nach umfassender Analyse keine pathogenen Antikörper gefunden werden, sodass der beschriebene Patient auch in diese Kohorte gehören könnte [4]. Allerdings beschreibt die Leitlinie der American Diabetes Association diese Patienten häufig als afrikanischen oder asiatischen Ursprungs, mit einer Neigung zu Ketoacidose und schwankendem Insulinmangel bzw. Insulinbedarf. Zudem ist eine ausgeprägte familiäre Häufung vorhanden. Auf unseren Patienten trifft allerdings keines dieser Merkmale zu, sodass wir einen HUS-assoziierten Diabetes mellitus für die wahrscheinlichste Differenzialdiagnose halten [5].

Ein Diabetes mellitus kann aber auch als Manifestation eines HUS auftreten: Im Rahmen der akuten Phase eines STEC-HUS entwickeln laut einer Metaanalyse 3,2 % der pädiatrischen Patienten insulinpflichtige Hyperglykämien. Bei etwa einem Drittel dieser Kinder persistierte ein insulinpflichtiger Diabetes auch nach der Akutphase des HUS. Über den relativ kurzen Nachverfolgungszeitraum von 12 Monaten trat zudem bei 2 von 34 Kindern nach einer Phase der Remission erneut ein insulinpflichtiger Diabetes auf [6].

Pathophysiologisch liegt dem HUS eine thrombotische Mikroangiopathie (TMA) zugrunde, die alle Organe betreffen kann. Auch im Pankreas resultiert die TMA in der Thrombosierung der kleinen Gefäße und somit einer Nekrose der Inselzellen und entsprechend verringerten Insulinproduktion [7]. Interessanterweise wurden bei Patienten mit EHEC-assoziierter Gastroenteritis keine Fälle eines Diabetes mellitus beschrieben, sodass nicht der Erreger selbst, sondern die resultierende TMA ursächlich für das Auftreten des Diabetes mellitus ist [8].

Neben der Komplikation eines Diabetes mellitus in der Akutphase eines HUS wurden zuletzt auch Fälle eines insulinpflichtigen Diabetes mit teils erheblicher zeitlicher Verzögerung nach STEC-HUS berichtet. So berichten Peña et al. von 2 Kindern, die 8 Jahre nach einem STEC-HUS an einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus erkrankten. Die Ergebnisse der Diagnostik decken sich mit dem hier beschriebenen Fall: Eine Insulinresistenz war nicht nachweisbar, ebenso waren die diabetesspezifischen Antikörper negativ [9]. Weitere Fallberichte dokumentieren ein Auftreten von Diabetes mellitus mit einem Abstand von 7, 10 und 11 Jahren zu einem STEC-HUS. In all den genannten Fällen traten allerdings bereits in der akuten Phase des HUS therapiepflichtige Hyperglykämien auf, die sich nach spätestens 2 Monaten normalisierten (Tab. 1; [9,10,11,12,13]).

Tab. 1 Fallberichte eines Diabetes mellitus als Spätmanifestation eines hämolytisch-urämischen Syndroms (HUS)

In dem vorliegenden Fall traten hingegen in der Akutphase nur wenige moderate Hyperglykämien (max. 180 mg/dl) und wiederholte Glukosurien bis 100 mg/dl unter Dialyse auf, die keiner Therapie bedurften.

Auch wenn die Genese des Diabetes mellitus bei unserem Patienten als Spätfolge des STEC-HUS kausal nicht beweisbar ist, erscheint aufgrund des ungewöhnlichen Verlaufes und des Fehlens von beweisenden Befunden für einen klassischen Diabetes mellitus die Genese als Spätfolge des STEC-HUS möglich und wahrscheinlich.

Somit ist der vorliegende Fall aus zwei Gründen hervorzuheben: Zum einen ist dies der erste Bericht über eine mögliche Spätmanifestation eines Diabetes mellitus nach HUS bei einem Patienten, der in der Akutphase des HUS nur moderate, nichttherapiepflichtige Hyperglykämien aufwies. Zum anderen ist die Latenz mit Auftreten des Diabetes mellitus 10 Jahre nach initialer Erkrankung mit STEC-HUS sehr lang.

Dieser Fall betont somit die Notwendigkeit einer umfassenden Nachkontrolle nach HUS. Die Spätfolgen eines HUS wurden in den letzten Jahren in mehreren Studien eindrücklich beschrieben. So berichteten beispielsweise Rosales et al. (2012), dass bei 30 % der Erkrankten über den Nachbeobachtungszeit von 5 Jahren Folgeschäden (Nierenfunktionseinschränkung, Proteinurie, arterielle Hypertonie, neurologische Auffälligkeiten) auftraten. Von großer Bedeutung ist, dass Spätfolgen teils auch nach initialer kompletter Remission im weiteren Langzeitverlauf auffielen [14]. Ähnliche Daten zeigten auch Loos et al. (2017): Infolge der EHEC-Epidemie im Jahr 2011 entwickelten 47 % der 72 Kinder eine Einschränkung der GFR innerhalb von 3 Jahren, 28 % eine Proteinurie und 19 % eine arterielle Hypertension [15].

Der hier geschilderte Fall illustriert, dass eine regelmäßige und langfristige Nachsorge nach HUS nicht nur hinsichtlich renaler Spätfolgen von großer Bedeutung ist. Die Urinkontrollen sollten die Bestimmung der Glucoseausscheidung unbedingt beinhalten. Bei auffälligen Werten ist, wie im geschilderten Fall, eine weitere Diagnostik mit einem oGTT dringend zu empfehlen. Diese Empfehlungen beziehen sich selbstverständlich auf alle Formen eines HUS (bzw. pneumokokkenassoziiertes HUS, komplementvermitteltes HUS, sekundäres HUS) bzw. letztlich alle Formen einer TMA, da diese ursächlich für die Spätkomplikationen ist.

Fazit für die Praxis

Folgeschäden nach einem HUS können auch mit großer Verzögerung auftreten und sind keinesfalls nur auf renale Komplikationen beschränkt. Ein Glukosuriescreening sollte unbedingt Teil der regelmäßigen Nachkontrollen sein, da auch ein Diabetes mellitus als seltene aber gravierende Spätmanifestation auftreten kann. Hier ist ein engmaschiges interdisziplinäres Management unerlässlich, da der Diabetes mellitus bestehende renale Symptome aggravieren oder seinerseits renale Komplikationen nach sich ziehen kann.