Einleitung

In der Öffentlichkeit sind Diskussionen um Impfungen ein Dauerthema. Oft werden dabei ethisch relevante Aspekte benannt. Dazu gehört, dass die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen auf der einen Seite, aber auch der Schutz vor Krankheit des Individuums und der Gesellschaft auf der anderen Seite hohe Werte und Güter darstellen. In der Fachöffentlichkeit wird zudem diskutiert, ob verpflichtende Impfmaßnahmen für Deutschland ein probates und akzeptables Mittel sein können. Dabei müssen Impfstrategien auch aus ethischer Sicht in Bezug auf konkrete Kontexte diskutiert werden. Hierzu soll dieser Artikel beitragen: Skizziert wird eine allgemeine Impfethik, die ethische Herausforderungen sowie normative Kriterien und Gesichtspunkte beleuchtet und die auf dem herausragenden Artikel von Marckmann aufbaut [1].

Im Folgenden werden zuerst kurz die Gründe für Impfungen differenziert und die Impfempfehlungen in Deutschland grob umrissen. Anschließend werden normativ-ethische Gesichtspunkte benannt, die ethische Argumentationen und Rechtfertigungen leiten können. Ethische Entscheidungshilfen werden aufgeführt und abschließend Implikationen für das Verhalten verantwortlicher Akteure und öffentlicher Institutionen diskutiert.

Gründe für Impfungen

Prinzipiell wird zwischen aktiver und passiver Immunisierung unterschieden. In diesem Beitrag geht es vor allem um aktive Impfformen, bei denen Impfstoffe appliziert werden (zumeist durch Injektionen, teilweise aber auch niederschwelliger oral oder sogar als Nasenspray), um Antikörper zu bilden. Ein Standardbeispiel, auf das hier immer wieder zurückkommen werden soll, ist die Masern-Mumps-Röteln-(MMR-)Impfung. Diese ist aus ethischer Sicht ein geeignetes Beispiel, weil sie in der Öffentlichkeit prominent diskutiert und bei Eltern teilweise – anders als die Tetanusimpfung – als optional angesehen wird. Dabei sind Masern eine hoch ansteckende und potenziell tödliche Krankheit und zugleich ist die Wirksamkeit der Impfung in Fachkreisen unumstritten. Des Weiteren ist durch das begrenzte Erregerreservoir (nur Menschen erkranken an Masern) eine Masernausrottung möglich.

Die Gründe, warum geimpft wird, sind vielfältig. Einer der wichtigsten Gründe ist zumeist der Selbstschutz der zu impfenden Person, wobei Impfschutz und Impfrisiken gegeneinander abgewogen werden. Die Nutzen-Risiko-Abwägung bei MMR ist dabei eine andere als beispielsweise bei saisonaler Influenza. Bei Letztgenannter ist die Wirksamkeit der Impfung weniger hoch und je nach Alter der Person das Krankheitsrisiko verschieden.

Ein weiterer, ethisch gesehen wesentlicherer Grund für Impfungen ist der Fremdschutz. Es geht darum, diejenigen zu schützen, die sich nicht impfen können (oder wollen). Beispielsweise wird mit dem MMR-Impfstoff auch gegen Röteln geimpft, was vor allem dem Schutz des ungeborenen Kindes, also nicht der zu impfenden Person, dienlich sein soll.

Gründe, warum nicht geimpft werden kann, sind mögliche Impfstoffunverträglichkeiten, Immunsuppression (z. B. bei Chemotherapie) und das Alter (zu jung oder, beispielsweise bei Diphtherie, auch zu alt, um die normale Antigendosis zu erhalten). Dass Personen trotz fehlender Kontraindikation nicht geimpft sind, kann auch andere Gründe haben, die ihnen in unserem Gesundheitssystem bisher nicht zum Nachteil gereichen. So sind Patienten oder Eltern oft nicht hinreichend informiert, sind nicht gesundheitskompetent oder es bestehen religiöse Gründe, die zum Verzicht auf eine Impfung führen können.

Letztlich ist ein Ziel der Schutzimpfungen der Bevölkerungsschutz, der im Idealfall durch Ausrottung der Krankheitsviren oder zumindest Herdenimmunität erreicht wird. Für Herdenimmunität müsste beispielsweise eine MMR-Durchimpfungsrate von 83–94 % erreicht sein, um die Verbreitung von Masern zu verhindern, selbst wenn Masernfälle eingeschleppt werden. Wenn Herdenimmunität erreicht ist, kann es immer noch Trittbrettfahrer geben, die von der Impfung anderer profitieren wollen, ohne sich selbst zu impfen.

Mitunter wird beim Impfschutz auf Bevölkerungsebene, besonders bei Herdenimmunität, von einem öffentlichen Gut gesprochen, da jeder in der Bevölkerung davon profitiert. Dazu zählen neben dem Infektionsschutz auch Spareffekte in der Gesundheitsversorgung oder die Vermeidung von volkswirtschaftlichem Schaden, beispielsweise durch Fehlarbeitsstunden [2]. Marckmann spricht von Herdenimmunität als öffentlichem Gut, weil sie sich durch folgende Merkmale auszeichnet: Weite Teile der Bevölkerung müssen kooperieren, um dieses Gut zu erreichen, und haben dadurch nicht bloß einen privaten Nutzen. Niemand in einer Bevölkerung ist von der Herdenimmunität ausgeschlossen. Letztlich wird die Herdenimmunität nicht dadurch geschwächt, dass sie in Anspruch genommen wird [1, 3].

Impfen in Deutschland

Standardimpfungen zielen auf bestimmte Altersgruppen ab. Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt, manche Impfungen früh im Leben zu verabreichen (z. B. Masernimpfung mit dem Ende des ersten Lebensjahres und Auffrischung sechs Monate später), andere Impfungen sollten relativ spät – aber nicht zu spät – gegeben werden (z. B. HPV-Impfung im späten Kindesalter und vor dem ersten Geschlechtsverkehr). Weitere Impfungen sind nur im frühen Kindesalter relevant und sollten bei nichtgeimpften älteren Individuen nicht verabreicht werden oder sind sogar kontraindiziert (z. B. ist die Pneumokokkenimpfung für Kinder ab dem 5. Lebensjahr redundant und wird entsprechend nicht empfohlen). Ab einem Alter von 60 Jahren gehört die saisonale Influenzaimpfung auch zu diesen Standardimpfungen.

Neben individuell relevanten Reiseimpfungen werden bei beruflicher Exposition und entsprechenden Risikoprofilen von der STIKO weitere Impfungen empfohlen: z. B. die saisonale Influenzaimpfung bei chronisch kranken Menschen, bei Mitarbeitern im Gesundheitswesen oder bei Beschäftigung mit Vögeln. Die Finanzierung solcher Indikationsimpfungen durch die gesetzliche Krankenversicherung erfolgt nur für diese Risikogruppen.

Auch gegen nicht von Mensch zu Mensch übertragbare Krankheiten wird geimpft, z. B. gegen Tetanus. Gegenwärtig werden ferner auch hypothetisch sogenannte Lifestyleimpfungen diskutiert [4], beispielsweise Impfungen zur Prävention des Verlangens nach Tabak.

Ethische Kriterien

Ethik stellt die Frage nach dem „Sollen“. Was soll ich tun? Oder, konkret auf den hier vorliegenden Zusammenhang bezogen: Wie sollen öffentliche Institutionen und Einzelpersonen in Bezug auf Impfen ethisch überzeugend handeln? Hier spielen nicht allein medizinische Evidenz und epidemiologische Daten eine Rolle – aus diesen Deskriptionen, die mitunter auch auf Wertentscheidungen beruhen, kann kein „Sollen“ abgeleitet werden [5, 6]. „Sollen“ braucht Begründungen – Argumente und Rechtfertigungen. Für eine Impfethik können verschiedene normative Gesichtspunkte benannt werden, die hier eine Rolle spielen. Konkret kann die Frage nach dem „Sollen“ aus Sicht öffentlicher Institutionen heißen: Welche Impfung wird empfohlen und von der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert? Genauer: Wem soll wie Zugang zu welcher Impfung gegeben werden? Aus individueller Sicht heißt es aber auch, zu fragen, ob eine persönliche Impfpflicht vorliegt – ob man sich also aus moralischen Gründen, zum Schutz anderer und nicht aus Eigeninteresse, impfen lassen sollte.

Die hier verwendete Systematik folgt public-health-ethischen Prinzipien [7] und berücksichtigt Forschungsfelder, die von Kries von einer Tagung zum Thema Impfethik berichtet [8].

Autonomie, Gesundheitskompetenz und der Wert des Wissens

Autonomie ist in der Diskussion um Impfungen ein zentraler Gesichtspunkt [8]. Autonomie bezeichnet den Wert, Entscheidungen für sich treffen und eigenverantwortlich handeln zu können sowie frei von Zwang zu sein. Autonome Personen können und sollen selbstbestimmt handeln, das gebietet der Wert der Menschenwürde. Eingriffe in den hohen Wert der Selbstbestimmung von Personen sind rechtfertigungspflichtig [9]. In der öffentlichen Diskussion erscheint der Begriff der „Entscheidungsfreiheit“, die gewährleistet werden muss, als hinreichende Begründung, sich für oder gegen eine Impfung entscheiden zu können. Aber ist diese „Entscheidungsfreiheit“ identisch mit dem ethischen Wert der Autonomie?

Für eine wirklich freie, autonome Entscheidung muss man wissen, was die möglichen Folgen einer Handlung oder Unterlassung sind. Wer wirklich autonom handelt, handelt so, dass die Handlungs- oder Unterlassungsfolgen die Freiheit anderer Menschen nicht ungerechtfertigt einschränken [7]. Wer Autonomie schätzt, muss letztlich auch Wissen hochachten. Mit „Wissen“ ist hier nicht nur beliebige Information, sondern wissenschaftlich gesichertes Wissen gemeint. Es bedarf eines hohen Grades an Autonomie, um kritisch mit Wissen umzugehen und eine gute informationelle Handlungsbasis zu gewinnen. So geht die Idee der Gesundheitskompetenz („health literacy“; [10]) mit der Idee der wirklichen Autonomie einher, wobei das genaue Verhältnis der beiden Konzepte in gesundheitswissenschaftlichen Diskursen noch vermessen werden muss [7]. Wer sich gut über die saisonale Grippeimpfung informiert und sagt, dass ihm der Impfstoff dieses Jahr ggf. nicht hinreichend wirksam erscheint, und sich demzufolge gegen die Impfung entscheidet, entscheidet sich autonomer als jemand, der behauptet, die MMR-Impfung würde Autismus hervorrufen können [3], und deshalb sein Kind nicht impfen lässt.

Es ist der Autonomie nicht zuträglich, dass Informationen über Impfungen, die über Internetsuchdienste oder sonstige Medien transportiert werden, oft unfundiert und tendenziös, wenn nicht gar manipulierend und verschwörerisch gegen Impfungen sprechen [11]. Ebenso lassen sich Echokammereffekte bei sozialen Medien beobachten: Unfundiert informierte Impfkritiker diskutieren nur untereinander und verstärken so ihre unhaltbare Kritik [12]. Zugleich können aber natürlich auch Proimmunisierungsinformationen im Internet (und anderen Medien) tendenziös sein, bspw. auf Webseiten, die von der Pharmaindustrie gesponsert werden. Kurzum, es ist wichtig, dass Personen gut über die Vor- und Nachteile von Impfungen für sich selbst und andere aufgeklärt werden, um wirklich autonome Entscheidungen treffen zu können.

Bei Impfungen muss ferner berücksichtigt werden, dass Adressaten der Impfung oft Kinder sind, deren (sich entwickelnde) Autonomie zusammen mit der Entscheidungsfreiheit der Eltern tangiert wird. Dies macht es komplexer, in diesem Kontext von Autonomie zu sprechen. Was ist die Autonomie der Kinder? Kinder in einem Alter, in dem die MMR-Impfung indiziert ist, sind noch nicht als autonom anzusehen. Ältere Kinder und Jugendliche, die beispielsweise für die HPV- und die Influenzaimpfung in Betracht kommen, sind hingegen häufig kompetent, Entscheidungen über ihre Gesundheit zu treffen. Mit der Entwicklung dieser Kompetenzen steigen auch das Recht und die Pflicht zur Mitbestimmung. Die Verfahren der informierten Einwilligung („informed consent“) bzw. je nach Entwicklungsstand des Kindes zumindest die informierte Zustimmung („informed assent“) müssen hier berücksichtigt werden [13].

Non-Malefizenz, Benefizenz und Paternalismus

Weitere relevante normative Aspekte beziehen sich auf die impfenden Akteure, beispielsweise die Ärzteschaft. Im ärztlichen Ethos ist seit dem hippokratischen Eid das Schadensverbot (Non-Malefizenz) und das Gebot, Gutes zu tun (Benefizenz), enthalten. Das Non-Malefizenz-Gebot begründet eine moralische Pflicht von Ärzten – bzw. allgemeiner: von in Gesundheits- und Sozialberufen Tätigen –, sich selbst impfen zu lassen, um ihre Patienten oder Klienten nicht zu infizieren. Bei der eigentlichen ärztlichen Impfhandlung ist die jeweils individuell zu impfende Person (nicht ihre Sorgeberechtigten) Adressat des zu vermeidenden Schadens und des Guten. Hier müssen Entscheidungen getroffen werden, die die folgenden Fragen betreffen: Wie hoch ist der durch eine Impfung oder Nichtimpfung ausgelöste mögliche Schaden bei der Person? Wie wahrscheinlich sind individuelle Impfreaktionen, Impfkrankheiten, Impfkomplikationen oder gar ein Impfschaden? Wie kann dieses Risiko minimiert werden? Welchen Nutzen und Schutz hat die einzelne Person durch die angedachte Impfung?

Die Abwägungen von Schaden und Nutzen müssen mit den zu Impfenden (oder ihren Entscheidungsbevollmächtigten) erörtert werden, um diesen autonome Entscheidungen zu ermöglichen. Würde der Arzt die zu Impfenden beeinflussen oder ihnen keinen Entscheidungsraum lassen, weil er vom Nutzen der Impfung für die jeweilige Person überzeugt ist und durch die Impfung das Wohl der Person fördern will, ohne deren Entscheidungen einzubeziehen oder eine gegenläufige Meinung zu respektieren, wäre dies eine paternalistische Handlung. Paternalismus ist aus ethischer Sicht als kritisch bzw. mindestens als rechtfertigungspflichtig anzusehen [9].

Ein besonderes Konzept in diesem Zusammenhang ist der „libertäre Paternalismus“, der eine Entscheidungsarchitektur vorschlägt, die dem Individuum bestimmte Entscheidungen eher nahelegt als andere – beispielsweise indem die Impfung als Standard in der Arztpraxis vorgesehen wird. Diese Standardprozedur müsste dann von dem Patienten ablehnt werden. Dies käme eher einem „opt out“ statt einem „opt in“ nahe [13]. Dieses „Anschubsen“ (engl. „to nudge“) erlaubt aus Sicht seiner Befürworter noch Entscheidungsfreiheit, gleichwohl wird eine Person gelenkt, die gesundheitsförderliche Wahl zu treffen [9].

Utilitarismus und Kosten

Die Idee, das Prinzip der Benefizenz auf die kollektive Ebene zu übertragen, weist Parallelen zur ethischen Idee des Utilitarismus auf: Bei diesem steht zu Gebote, das Gute (inklusive des Werts der Gesundheit und des damit verbundenen Nutzens) zu maximieren [7]. Dieses Prinzip würde eine Impfung des Einzelnen verlangen, sofern der zu erwartende Schaden und die Kosten für den Einzelnen den Schaden und die Kosten für die Bevölkerung nicht aufwiegen [2]. Bei diesen Abwägungen spielen das Kosten-Wirksamkeits- und das Kosten-Nutzen-Verhältnis des Impfprogramms sowie das Nutzen-Risiko-Verhältnis des Impfstoffs eine Rolle, indem zwischen den vom Utilitarismus in den Vordergrund gestellten – und jeweils genauer zu bestimmenden – Kosten und dem Nutzen abgewogen wird [1, 3].

Aus utilitaristischer Sicht sind all die Impfungen geboten, die effektiv, verhältnismäßig günstig und sicher sind. Demgemäß hat hier eine Verteilungseffizienz den Vorrang: Ressourcen, die für Impfprogramme aufgewendet werden müssen, sollen im Verhältnis zu den Kosten möglichst effektiv sein [14]. Dabei dürfen allerdings nicht nur die in Geldeinheiten ausgedrückten Kosten der Impfungen und mögliche Behandlungs- und volkswirtschaftliche Kosten berücksichtigt werden. Relevant sind vielmehr auch indirekte Kosten, etwa Opportunitätskosten – der durch die Handlungswahl möglicherweise entgangene Nutzen, der entstanden wäre, wenn beispielsweise Ressourcen für Impfprogramme anderweitig investiert worden wären. Die utilitaristische Sicht spricht dem Autonomierespekt keinen Wert an sich zu. Gesundheitliche Zwangsmaßnahmen können ohne prinzipiellen Vorbehalt immer in Betracht gezogen werden. Sollten allerdings Zwangsimpfungen verordnet werden, könnte das das Vertrauen in öffentliche Institutionen unterminieren oder zu anderem, nicht gesundheitlich zuträglichem Verhalten führen [15].

Auch für impfende Akteure können hier ethische Konflikte bestehen. Wem sind beispielsweise die Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) verpflichtet: dem ärztlichen Ethos (Non-Malefizenz, Benefizenz, Autonomierespekt) oder dem staatlichen Auftrag, der stark von Kosten-Nutzen-Erwägungen und dem Streben nach einer Maximierung des Allgemeinwohls getragen wird? Hier sind weitere ethische Differenzierungen und Abwägungen notwendig [16].

Pflicht zur einfachen Rettung

Abwägend ist auch das Argument, dass es eine moralische Pflicht zur einfachen Rettung gibt. Wenn ein Mensch mit wenig Aufwand – d. h. mit im Vergleich zum Verlust von Leben oder Gesundheit geringen Kosten – gerettet werden kann, besteht die moralische Verpflichtung, dies auch zu tun; beispielsweise wenn ein Kind vor dem Ertrinken gerettet werden kann und dem nur die Kosten der nassen Kleidung und einer unbrauchbaren Uhr beim Retter gegenüberstehen. Philosophen gehen weithin davon aus, dass die Begründung einer solchen Pflicht akzeptiert wird [17]. Giubilini et al. sind der Ansicht, dass dieses Argument analog auf Impfungen übertragbar ist [2]. So gibt es für Personen, bei denen es nicht medizinisch kontraindiziert ist, eine moralische Pflicht zur Impfung ihrer selbst oder der ihnen Anvertrauten, obwohl eine einzelne Impfung wie die MMR-Impfung letztlich wenig zum Schutz anderer beiträgt. Trotz des allgemein geringen Effekts, den die individuelle MMR-Impfung für die Bevölkerung hat, sind der Aufwand und die Kosten der Impfung sehr gering. Hier gebietet es die Fairness der Verteilung von Nutzen und Lasten, dass Individuen an diesen kollektiven Handlungen teilnehmen [2].

Gerechtigkeit und Solidarität

Gerechtigkeit will Gleichheit in Bezug auf ein genauer zu bestimmendes Gut. Norman Daniels’ weithin diskutierte Gesundheitsgerechtigkeit [18] beispielsweise will faire Chancen auf normale Lebensmöglichkeiten. Normale Lebensmöglichkeiten bezeichnen dabei die Handlungsmöglichkeiten, die eine Person in einer bestimmten Gesellschaft typischerweise im Vergleich zu anderen Personen gleichen Alters und Geschlechts hat [19]. Für diese Form der Chancengerechtigkeit ist eine faire Verteilung von Gesundheit [20] – und ihrer Determinanten – wichtig. Dieses Prinzip steht besonders dafür ein, vulnerablen und benachteiligten Gruppen Chancen zu eröffnen. Dazu gehört die Herdenimmunität zum Wohl der Schwachen und der aufgrund von Kontraindikationen Nichtgeimpften. Dazu gehören aber auch die richtige Aufklärung und aktive Befähigung derjenigen, die wenig Gesundheitskompetenz besitzen, autonome Entscheidungen zu treffen. Letztlich ist es eine gemeinschaftliche Aufgabe und eine Frage der Befähigungsgerechtigkeit [21], Gesundheitskompetenz zu fördern.

Vertreter von Gerechtigkeitsbegriffen, die den Aspekt der Befähigung in den Vordergrund stellen, gehen davon aus, dass es verschiedene Dimensionen des Wohlergehens gibt, die durch die Gerechtigkeit geschützt werden und die für alle Personen gefördert werden sollen [22]. Es wird argumentiert, dass die einzelnen Dimensionen des Wohlergehens (wie bspw. Gesundheit und Bildung) nicht gegeneinander aufgerechnet werden dürfen: Ein „Mehr“ an Gesundheit darf beispielsweise nicht durch ein „Weniger“ an Bildung kompensiert werden. Aus einem solchen Gerechtigkeitsverständnis folgt, dass nichtgeimpften Kindern und Jugendlichen der Zugang zu Bildungsinstitutionen wie Kindergärten und Schulen nicht verweigert werden sollte, wenn diese Verweigerung nicht primär dem Schutz anderer dient, sondern Eltern zur Impfung drängen soll [23]. Wenn es darum geht, den Gesundheitszustand besonderer Bevölkerungsgruppen, wie beispielsweise Migranten, zu verbessern und diese im Rahmen gezielter Programme zu impfen, erinnert die Gerechtigkeitsperspektive besonders daran, Impfprogramme unter Vermeidung von öffentlicher Stigmatisierung durchzuführen.

Aspekte prozeduraler Gerechtigkeit sind ebenfalls wichtig: Der Anspruch, jeder Person Chancen auf die Verwirklichung normaler Lebensmöglichkeiten anzutragen, kann nicht immer erfüllt sein. Dann sollten jedoch zumindest Entscheidungsprozesse öffentlicher Akteure fair sein. Das bedeutet für Daniels, dass Entscheidungsträger Rechenschaft über die Angemessenheit der von ihnen getroffenen Entscheidungen ablegen können müssen. Kriterien für diese Angemessenheit sind, dass die Begründungen öffentlich zugänglich wie auch nachvollziehbar und auch für unparteiliche Personen annehmbar sind und dass die Entscheidungen revidiert werden können (z. B. nach Einspruch oder bei Vorliegen neuer wissenschaftlicher Evidenz; [18, 19]).

Zur Gerechtigkeit komplementäre Erwägungen der Solidarität zielen darauf ab, dass Menschen bereit sind, nicht nur aus jeweiligem Eigennutz heraus gemeinsam Kosten und Lasten zu tragen [24]. Gerechtigkeit und Solidarität wollen Lasten und Nutzen fair verteilt sehen. Aus dieser Perspektive soll jeder, der kann, einen Beitrag zum Wohl aller leisten. So können andere, die sich selbst nicht impfen lassen (können) oder bei denen die Impfung nicht effektiv ist, geschützt werden. Das bedeutet aber auch, dass derjenige, der sich – bei sehr geringem Risiko und versprochenem hohen Schutz für andere bzw. die Allgemeinheit – impfen könnte, dies aber nicht tut, seiner Gerechtigkeits- und Solidaritätspflicht gegenüber anderen nicht gerecht wird.

Ethische Entscheidungshilfen

Bei der Erwägung, welche Impfungen wie angeboten werden sollten, können und sollten die oben genannten ethischen Aspekte beachtet werden. Bei der ethischen Erörterung und Rechtfertigung in interdisziplinären und praxisorientierten Diskursen und Entscheidungsgremien können konkret verschiedene Entscheidungshilfen (so genannte Ethiktools) helfen [25].

Als erstes Werkzeug für ethische Diskussionen könnten hier Listen mit Prüfkriterien genannt werden, wie die oben genannten Prinzipien und eine Reihe von konkreten Gesichtspunkten, die daraus folgen. Diese Gesichtspunkte oder Kriterien können abgeprüft werden, wenn die ethischen Aspekte einer Intervention abgeschätzt werden sollen. Die Gesichtspunkte helfen dabei, ethische Implikationen, Dilemmata oder Wertungswidersprüche zu entdecken. Diese müssen dann jedoch weiter erörtert und davon ausgehend überzeugende Rechtfertigungen entwickelt werden.

Ähnlich auf praktische Anwendbarkeit zielend, entwickelt Marckmann eine Liste ethischer Legitimationsvoraussetzungen, die von den hier genannten Kriterien mitgetragen werden [1, 3]. Impfprogramme sind demnach ethisch zu rechtfertigen, wenn sie mindestens: 1) nachweisbar wirksam sind, 2) ein günstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis aufweisen, 3) ein akzeptables Kosten-Nutzen-Verhältnis versprechen, 4) die Entscheidungsfreiheit möglichst wenig einschränken und 5) auf einem fairen und transparenten Entscheidungsverfahren aufbauen.

Stufenschema möglicher Interventionen

Wenn Wirksamkeit und Kosten-Nutzen- bzw. Nutzen-Risiko-Verhältnis dafür sprechen, ein Impfprogramm einzuführen (s. Marckmanns Legitimationsvoraussetzungen 1–3), können Aspekte der möglichst restriktiven Entscheidungsfreiheitseinschränkung (Legitimationsvoraussetzung 4) mit einem Stufenschema konkreter Handlungsoptionen erörtert werden. Die vom unabhängigen britischen Gremium „Nuffield Council for Bioethics“ entwickelte „Interventionsleiter“ [26] kann hier als Strukturierungshilfe dienen. In der folgenden Übersetzung dieser „Leiter“ wurden bereits konkrete Anpassungen für den Kontext der Impfung vorgenommen (s. auch [1, 3, 13]).

  1. 1.

    Impfungen nicht aktiv, sondern nur auf Nachfrage anbieten, dabei nicht öffentlich finanzieren. Kein staatliches Eingreifen, die Situation aber beobachten.

  2. 2.

    Allgemeine Aufklärung über Impfungen leisten und empfohlene Impfungen finanzieren (z. B. Aufnahme in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung).

  3. 3.

    Zur Handlungsfreiheit befähigen: zielgerichtete Aufklärung für empfohlene Impfung bspw. bei Kinder- und Hausärzten oder durch den ÖGD; eventuell bis hin zur Impfberatungspflicht.

  4. 4.

    „Anschubsen“ durch Beeinflussung der Entscheidungsumstände, indem bspw. empfohlene Impfungen als Standard beim Arztbesuch angeboten werden (mit „opt out“).

  5. 5.

    Anreize für Impfungen setzen (z. B. Vergünstigungen bei den Kosten für die Kindertagesstätte, Vergabe von Gutscheinen zu Sachleistungen).

  6. 6.

    Abschreckungsmaßnahmen implementieren (z. B. Beteiligung an den Behandlungskosten bei Krankheiten, gegen die man sich hätte impfen lassen können, oder Streichung von Steuererleichterungen).

  7. 7.

    Handlungsoptionen einschränken, indem z. B. bestimmte Behandlungen oder der Zugang zu öffentlichen Einrichtungen nur denjenigen offensteht, die geimpft sind (z. B. kein Zugang zur Kinderbetreuung oder Schule).

  8. 8.

    Keine Handlungsfreiheit bieten (Impfzwang).

Dawson sieht diese „Interventionsleiter“ allerdings kritisch, da es die Metapher der Leiter nahelegt, die höheren Stufen als ethisch höherwertig anzusehen. Ferner reduziert diese Linearität alle ethische Deliberation nur auf ein Mehr oder Weniger von Entscheidungsfreiheit [27]. Als heuristisches Mittel, das „Abstufungen“ in der Abwägung der Einschränkung von Entscheidungsfreiheit veranschaulicht, hilft dieses Stufenschema – ungeachtet aller Unschärfe und Demarkationsprobleme in der Anwendung auf konkrete Beispiele – aber zur Strukturierung der Diskussion. Die anderen oben genannten Normen und Werte sind für eine überzeugende abwägende Entscheidung gleichwohl relevant und Rechtfertigungsstrategien müssen weitere Werte und normative Aspekte einbeziehen.

Diskussion

Autonome Entscheidungen von Individuen müssen gefördert werden. Staatliche Institutionen haben hier eine Pflicht zur Befähigung zu autonomen Entscheidungen, gerade auch in Zeiten entfesselter digitaler Kommunikation [11, 28, 29]. Gleichwohl kann bei günstigen Kosten-Nutzen- und Nutzen-Risiko-Verhältnissen aus Gründen der Gerechtigkeit, Solidarität und des Allgemeinwohls von einer individuellen moralischen Pflicht ausgegangen werden, sich bzw. seine Schutzbefohlenen impfen zu lassen. Wenn eine individuelle moralische Impfpflicht angenommen wird, ist unterstützendes, anschubsendes und restriktiveres staatliches Handeln im Prinzip besser ethisch zu rechtfertigen [2]. Wann genau der Schwellenwert eines günstigen Verhältnisses von Kosten und Risiko auf der einen und Nutzen auf der anderen Seite erreicht und welches staatliche Handeln akzeptabel oder gar geboten ist, ist eine kontextabhängige Entscheidung, die wissenschaftliche Fakten, epidemiologische Informationen, rechtliche Rahmenbedingungen und ethische Urteile verbindet.

In Deutschland werden solche Schwellenwerte von der STIKO festgelegt. Ihre Empfehlungen haben richtungsweisende Implikationen für öffentliche Institutionen – zum Beispiel für die Finanzierung durch die gesetzliche Krankenversicherung. Eine Kommission wie die STIKO kann dabei in ethischer Hinsicht nur legitimen Einfluss haben, solche Schwellenwerte zu bestimmen, wenn sie selbst ethische Voraussetzungen erfüllt. Bei Betrachtung von Marckmanns Legitimationsvoraussetzungen, die von den oben genannten Normen und Werten mitgetragen werden, finden sich diese auch im Standardvorgehen der STIKO wieder [30, 31]: Es wird besonders auf die ersten drei Voraussetzungen hingewiesen. Der Bezug auf ethische Normen und Werte bei der STIKO ist gleichwohl nicht explizit (es wird lediglich von „Akzeptanz“ gesprochen), Marckmanns vierte Voraussetzung wird also weniger explizit berücksichtigt. Explizite ethische Reflexionen, die in die Abschätzungen der STIKO einfließen, sollten ihre Arbeitsweise komplementieren.

Dass sowohl das Bewertungsverfahren als auch die Konstitution und Arbeitsweise der STIKO sehr transparent sind und persönliche Interessenkonflikte minimiert werden (inkl. Selbstauskünften und des Ausschlusses von Mitgliedern bei Abstimmungen, bei denen schwerwiegende Interessenkonflikte entstehen könnten), erfüllt Marckmanns fünftes Kriterium und spiegelt letztlich Aspekte der von der Gerechtigkeit geforderten Rechenschaft für die Angemessenheit ihrer Entscheidungen wider.

Gerade wegen der hohen methodischen und schon erreichten ethischen Standards dieser Institution verschieben ihre Urteile zumindest aus ethischer Sicht die Beweislast für individuelles Verhalten: Wer Impfempfehlungen der STIKO in Deutschland individuell nicht nachkommt, ist aus ethischer Sicht höhergradig rechtfertigungspflichtig für sein Unterlassen. Jedoch können auch Impfungen, die über STIKO-Empfehlungen hinausgehen, für Individuen ethisch geboten oder zumindest lobenswert sein (z. B. Impfung gegen saisonale Influenza auch ohne ein entsprechendes persönliches Risikoprofil).

Fazit

In diesem Beitrag wurde dafür plädiert, bei Impfentscheidungen ethische Reflexionen zu berücksichtigen, um Gründe für Handeln und Unterlassen explizit und transparent zu machen. Staatliches Handeln (und Unterlassen) ist dabei aus ethischer Sicht genauso rechtfertigungspflichtig wie individuelles. Mit den oben genannten Normen, Werten, Entscheidungshilfen und Argumenten wurde ein grober normativer Rahmen für solche Reflexionen gespannt, der weitere Erörterungen zum Thema anleiten kann.