Tagtäglich nehmen Menschen die Leistungen unseres Gesundheitssystems in Anspruch. In stationären und ambulanten Einrichtungen werden Diagnosen gestellt, Behandlungen durchgeführt und vorbeugende Maßnahmen eingeleitet. Wenn ein Patient mit den eindeutigen Symptomen eines Schlaganfalls in eine Klinik gebracht wird, beginnt meist ganz automatisch der zielgerichtete Ablauf von Diagnostik und Therapie durch ein eingespieltes Team. Das schnelle und kompetente Handeln rettet oft Leben. Schwierig wird es, wenn es ganz unklar ist, woran ein Patient leidet. Wenn die Symptome nicht direkt auf eine spezifische Erkrankung hindeuten, muss nachgedacht und diskutiert werden, welche Diagnostik sinnvollerweise eingesetzt werden soll oder ob auch in Unkenntnis des Grundes der Symptome die Möglichkeit einer Therapie gegeben ist. Manchmal handelt es sich aber auch um die Symptome einer seltenen Erkrankung, die den behandelnden Ärzten nicht bekannt ist, und dann beginnt oft ein langer und unnötiger Irrweg, bis die Diagnose gestellt wird.

Laut Definition der Europäischen Union gelten Erkrankungen dann als „selten“, wenn sie maximal einen Patienten aus 2000 betreffen. Und von diesen seltenen Erkrankungen gibt es viele: Bisher wurden bereits 8000 Krankheiten in die europäische Datenbank für seltene Erkrankungen (Orphanet) aufgenommen. Viele dieser Erkrankungen haben eine genetische Ursache, und es ist aufgrund der rasanten Technologieentwicklung möglich geworden, ohne größeren Aufwand diese Veränderungen im „genetischen Code“ zu erkennen. Daraus resultiert manchmal auch, dass häufige Erkrankungen aufgrund der Kenntnis über unterschiedliche genetische Ursachen in viele einzelne neue seltene Erkrankungen unterteilt werden. Diese Erkenntnis bildet dann die Grundlage für die Entwicklung von neuen und präziseren Therapien.

In der Gesamtbetrachtung sind die Menschen, die von einer seltenen Erkrankung betroffen sind, jedoch eine relevante Gruppe: Man schätzt, dass alleine in Deutschland ca. 4 Mio. Menschen an einer seltenen Erkrankung leiden. Da das Gesundheitssystem jedoch bislang nicht angemessen auf diese Erkrankungen ausgerichtet ist, haben Politik und Wissenschaft in den letzten Jahren begonnen, Maßnahmen zu ergreifen, um die Situation für Menschen mit seltenen Erkrankungen zu verbessern. In den Jahren 2007 und 2008 konnten zwei Schwerpunkthefte des Bundesgesundheitsblatts viele wichtige Informationen zu seltenen Erkrankungen zusammentragen. Das vorliegende Heft soll nun aufzeigen, was sich seitdem verbessert hat, aber auch, dass noch immer ein erhebliches Verbesserungspotenzial besteht.

Es wurden viele Projekte und Programme auf den Weg gebracht und gute Ansätze zur Verbesserung der Versorgung erprobt: So wurde bereits Anfang 2010 in Deutschland das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen gegründet. Die 28 beteiligten Partner haben in den Jahren bis 2013 einen Plan mit 52 Verbesserungsmaßnahmen erarbeitet. Der Artikel von Halbach et al. nimmt diesen Plan und seine Umsetzung unter die Lupe und fragt: „Ist der Plan bisher eine Erfolgsgeschichte?“ Auch in Gesetzgebungsverfahren wurden in den letzten Jahren Maßnahmen zur besseren Versorgung für Menschen mit seltenen Erkrankungen eingebracht. Insbesondere im Bereich der Krankenhäuser kommen diese Gesetze zur Umsetzung. Heyder betrachtet in seinem Artikel, wie viele dieser gesetzlichen Maßnahmen bereits jetzt einen konkreten Nutzen für die Patienten gebracht haben; er zeigt aber auch auf, dass Hemmnisse durch offene rechtliche Fragen und fehlende Finanzierungsgrundlagen bestehen. So konnte die Umsetzung vieler Maßnahmen, insbesondere die Bildung von Zentren für seltene Erkrankungen, bisher nur begonnen und die spezialisierte Versorgung dieser Patienten in der Universitätsmedizin noch nicht nachhaltig abgesichert werden.

Das Schwerpunktheft stellt auch bereits umgesetzte konkrete Projekte vor: Zwei Informationsportale wurden geschaffen, um die Wissenslage zu seltenen Erkrankungen zu verbessern. Litzendorf et al. stellen das Informationsportal für qualitätsgesicherte Informationen zu seltenen Erkrankungen vor. Für Patienten, Angehörige und behandelnde Ärzte bietet darüber hinaus der von Haase et al. beschriebene se-Atlas die Möglichkeit, die nächstgelegene Anlaufstelle für eine spezifische Behandlung zu finden.

Nach einer Diagnose stellen sich für Patienten und Angehörige oft viele Fragen zur Art der Erkrankung und zur Therapie. Schaefer et al. erläutern in ihrem Beitrag eine Methodik, wie qualitätsgesicherte Informationen zu diesen Fragen so zusammengestellt und aufbereitet werden, dass sie auch für die Betroffenen gut verständlich sind.

Doch was kann das Gesundheitssystem für diejenigen Patienten leisten, für deren Beschwerdebild bislang keine Diagnose gestellt wurde? Oft durchlaufen Patienten über viele Jahre zahlreiche Stationen und Untersuchungen, bis eine seltene Erkrankung erkannt wird und eine Therapie beginnen kann. Hierzu stellen Stieber et al. einen Ansatz vor, wie durch einen standardisierten Ablauf in einem Expertenzentrum der diagnostische Prozess gelenkt und beschleunigt werden kann. Durch schnellere Einleitung einer effektiven Therapie – falls verfügbar – kann so dem Patienten geholfen und weitere unnötige, teure und belastende Diagnostik vermieden werden.

Wie viele Menschen in Deutschland tatsächlich an seltenen Erkrankungen leiden, kann man bisher nur abschätzen. Storf et al. zeigen, wie man mit einem standardisierten Registerbaukasten ein elektronisches Patientenregister aufbauen kann. Da dieses mit anderen Registern kompatibel ist, erlaubt es auch einen Vergleich der Daten. Bisher ist die genaue Anzahl der Patienten aber auch deshalb unbekannt, weil sie in den Routinedaten nur in Sammelgruppen mit anderen Krankheiten auftauchen. Marx et al. beschreiben einen Ansatz, wie mit einer Zusatzkodierung gekoppelt an die Routinekodierung eine genauere statistische Darstellung der Patientenzahlen möglich ist, ohne dabei zusätzlichen Aufwand für die Anwender zu generieren.

Auch die Europäische Union fördert Ansätze zur Verbesserung der Situation für Patienten mit seltenen Erkrankungen. In europäischen Referenznetzwerken sollen sich spezialisierte Versorgungszentren aus den europäischen Mitgliedsstaaten bündeln, um gemeinsam an der Patientenversorgung und Forschung zu arbeiten. Graessner et al. beleuchten, welche Konsequenzen das auch für die Gesundheitsversorgung in Deutschland haben kann.

Im Bereich der seltenen Erkrankungen spielt die genetische Diagnostik eine zunehmend bedeutende Rolle. Dennoch ist eine genetische Veränderung nicht immer eindeutig mit einer Erkrankung verbunden. In ihrem Artikel schauen Köhler et al. auf die Möglichkeiten der Integration von Phänom- und Genomdatenbanken in der Diagnostik von seltenen Erkrankungen.

Patientenorientierte Forschung – das heißt von der Grundlagenforschung bis zur Versorgungsforschung – ist im Bereich der seltenen Erkrankungen dringlich und entscheidend, denn nur so können ungeklärte Ursachen entdeckt, neue diagnostische Möglichkeiten und präzise Therapien entwickelt werden. Wissing et al. setzen sich mit der Frage der Forschungsförderung bei seltenen Erkrankungen auseinander und betrachten, ob diese anders sein kann als bei häufigeren Krankheitsbildern. Im letzten Artikel des Schwerpunkthefts betrachten Hasford et al. die ethischen Aspekte bei klinischen Prüfungen, u. a. mit der Fragestellung, wie mit den teilweise sehr niedrigen Fallzahlen der einzelnen Erkrankungen umgegangen werden sollte.

Seltene Erkrankungen sind in jedem Gesundheitssystem eine Herausforderung, doch hat in den letzten Jahren in vielen Ländern eine Allianz aus Wissenschaft, Politik, Ärzten und Betroffenen einen Prozess angestoßen, der die Situation bereits jetzt verbessert hat. Die Beiträge in diesem Schwerpunktheft sollen zeigen, was in den letzten Jahren bereits alles erreicht wurde, aber auch ein Denkanstoß für weitere Entwicklungen sein. Es ist schließlich der einzelne Patient, der ein Anrecht darauf hat, dass das Gesundheitswesen darauf ausgerichtet ist, eine Diagnose und adäquate Therapie zu ermöglichen, unabhängig davon, ob seine Erkrankung selten oder häufig ist. Aus Sicht der Betroffenen ist eine schnelle Diagnosestellung und Einleitung einer richtigen Behandlung das Wichtigste. Das wird für die Vielzahl von Erkrankungen nur gelingen, wenn die Situation der Patienten mit seltenen Erkrankungen auch weiterhin durch eine Institution wie das Nationale Aktionsbündnis betrachtet, analysiert und verbessert wird und hieraus Konsequenzen für die Versorgung gezogen werden. Wenn das Gesundheitssystem auf die Besonderheiten in Diagnostik und Therapie auch von seltenen Krankheiten eingestellt ist und adäquate Patientenpfade etabliert hat, wird auch die bessere Versorgung des Einzelnen daraus resultieren.

Als Koordinatorinnen dieses Schwerpunktheftes hoffen wir, dass wir durch die komprimierte Darstellung der vielseitigen Informationen zum aktuellen Stand von Projekten, Forschung und zur politischen Lage für Patienten mit seltenen Erkrankungen bei Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, weitere Ideen und Impulse zur Verbesserung der Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen anregen können.

Ihre

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Dr. Stefanie Weber

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Prof. Dr. Annette Grüters-Kieslich