Robert Bartlett, Professor emeritus der Chirurgie der Universität von Michigan in Ann Arbor, USA, hat neben seiner wissenschaftlichen und klinischen Tätigkeit Werke der Weltliteratur (Charles Dickens: A Christmas Carol, Lewis Carroll: Alice in Wonderland) neu interpretiert und in Lehrstücke für die Fortbildung in der Intensivmedizin transformiert [13]. Gleichermaßen von Person, Persönlichkeit und dem Schriftwerk Ernest Hemingways fasziniert (Infobox 1; Abb. 1), hat er sich kürzlich seinem wohl bekanntesten Werk zugewandt: der mit dem Nobelpreis gekrönten Novelle The Old Man and the Sea (Infobox 2; [4]).

Abb. 1
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Ernest Hemingway mit Pauline (Journalistin und 2. Ehefrau), Gregory (Kind von Pauline), John (Kind aus 1. Ehe) und Patrick (Kind von Pauline) Hemingway und 4 Marlinen auf einem Dock in Bimini, 20. Juli 1935. (Urheber: nicht spezifiziert, owned by John F. Kennedy Library. Genehmigung: Public domain. Quelle: [66])

Der alte Mann und die „I sea U“

Er war ein alter Mann, der alleine fischte, aber heute würde er nicht hinausfahren. Sein Finger war rot und geschwollen; also ging er ins Krankenhaus. Das Krankenhaus war aus warmem rotem Backstein gebaut. Es war ein sauberes, gut beleuchtetes Krankenhaus; es vermittelte ein Gefühl von Ordnung und Vernunft.

Dr. Manolin beobachtete den alten Mann, wie er unbehaglich auf einer Krankentrage saß. Der Mann war alt, aber beweglich; dünn, aber stark; höflich, aber direkt. Er war ein guter alter Mann. Sein Finger war rot und geschwollen und schmerzte empfindlich. Er hatte einen Angelhaken erst durch das Stück einer Sardine und dann in seinen Finger gespießt (Abb. 2). Das war ihm schon Hunderte von Malen passiert, aber diesmal war sein Finger rot und angeschwollen. Dr. Manolin gab ihm einige Tabletten, eine Dosis Penicillin und eine Dosis Tetanustoxoid.

Abb. 2
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Fingerverletzung beim Aufspießen des Köders. (Zeichnung: R.H. Bartlett, mit freundl. Genehmigung)

Am nächsten Tag fuhr der alte Mann nicht aufs Meer hinaus, sondern ging stattdessen in Harrys Bar. Er trank ein kaltes Bier aus einem geeisten Glas. Es schmeckte gut an diesem heißen, schwülen Tag. An der Theke stand eine Frau in einem Seidenkleid. Sie hatte dunkle Haare und sehr dunkle Augen und sah ihn verheißungsvoll und provozierend an. Aber sein Finger schmerzte erneut, und er ging wieder ins Krankenhaus.

„Diese roten Streifen auf ihrem Arm könnten gefährlich sein“, sagte Dr. Manolin. „Ich werde sie für eine intravenöse Antibiotikatherapie einweisen.“ Der alte Mann hatte die roten Streifen gesehen. Er wusste, dass das Krankenhaus sie bessern würde. Die Schwester, die den intravenösen Zugang legte, hatte die süße weiche Haut der Jugend. Sein Blut wirbelte ins Schlauchsystem.

Es hatte die Konsistenz von Honig und die Farbe von Cabernet. Gutes, gehaltvolles Blut. Sie reckte sich, um die Infusion zu starten. Instinktiv grapschte er nach ihrem verführerisch runden Hintern (Abb. 3). Sie schob seine Hand beiseite und sagte: „In deinen Träumen alter Mann …“

Abb. 3
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Die attraktive Schwester fasziniert den alten Mann. (Zeichnung: R.H. Bartlett, mit freundl. Genehmigung)

Später brachte sie ihm einen Becher voller Tabletten. „Dies hier ist Ihr Antibiotikum, dies Ihr Aspirin; dies ist Colace [Docusat-Natrium, ein Abführmittel], und dies (sie schwang eine kleine Spritze und stach sie ihm in die Haut der Bauchdecke) ist Lovenox [Enoxaparin-Natrium], damit sie keine Gerinnsel in Ihren Beinen kriegen. Das kann einem alten Mann im Krankenhaus schon einmal passieren.“

In der Jugend hatte der Mann beim Boxen seine Nase gebrochen. Gelegentlich litt er unter Nasenbluten, so auch diese Nacht. Es blutete stärker nach der Lovenox-Morgendosis. Unmittelbar vor dem Mittagessen erbrach er eine Schale voll von etwas, das wie verfaulte Weintrauben schmeckte und aussah wie Kaffeesatz. Die Schwester rief Dr. Manolin, der eine Endoskopie des oberen Gastrointestinaltrakts anordnete.

In der Endoskopieabteilung war es kalt, und der Boden war befleckt mit getrocknetem Blut. Er verspürte ein Brennen in seinem Arm und dann einen bitteren Geschmack. Eine halbe Stunde später wachte er auf; sogleich erbrach er eine große Menge salzigen Wassers, vermischt mit Blut und Magensaft. Wieder verspürte er ein Brennen im Arm, und er erwachte mit einem dicken Plastikschlauch in seinem Mund und in seiner Luftröhre. Jemand, den er nicht sehen konnte, zwang mit einem Plastikbeutel Luft in seine Lungen.

Ein Gesicht wurde erkennbar. „Alter Mann, ich bin Dr. Yungensmart. Sie befinden sich auf der ICU [„intensive care unit“, Intensivtherapiestation]. Die gute Nachricht ist: Ihre Endoskopie war unauffällig. Die schlechte Nachricht ist, dass sie Erbrochenes in ihre Lungen eingeatmet haben. Aber wir haben alle Mittel, die bewirken, dass es Ihnen wieder besser geht, und in ein paar Tagen sind Sie wieder so gut wie neu.“ Der alte Mann versuchte zu sprechen, aber es kam kein Laut.

Er sah, wie aus großen Plastikbeuteln über durchsichtige Schläuche klare Flüssigkeit in seinen Arm lief. Der Arzt beobachtete, wie der alte Mann sich das anschaute. „Das ist Salzwasser. Das kriegt hier jeder auf der ICU.“ Der alte Mann fühlte sich besser. Er hatte sein Leben auf dem Meer verbracht, und er mochte Salzwasser. „Alter Mann, Ihr Blutdruck ist hochgeschossen, und wir haben mit β‑Blockern angefangen. Ein Typ wie Sie sollte auf jeden Fall mit β‑Blockern behandelt werden.“ Schon bald verlangsamte sich sein Herzschlag, sogar, wenn er versuchte sich zu bewegen oder wenn er hustete.

Er konnte feststellen, dass seine Lungen besser wurden. Jedes Mal, wenn er es versuchte, konnte er mehr Luft in seine Lungen saugen. Selbst ein alter Mann weiß, dass dies gut ist. Später war Dr. Yungensmart sehr aufgeregt. „Wer hat den alten Mann auf CPAP [„continuous positive airway pressure“] umgestellt?“ schrie er in den Raum. „Sein Atemzugvolumen ist 1200 ml. Wollen Sie seine Lungen ruinieren?“ Er schraubte an den Drehknöpfen des Beatmungsgerätes. Nun war es so, dass, wann immer der alte Mann versuchte, einzuatmen, der Luftstrom stoppte, bevor die Lungen richtig gefüllt waren. Er empfand Luftnot, also atmete er schneller. Als er schon 20-mal/min atmete, hatte er immer noch Luftnot und geriet in Panik. „Er ist nicht synchronisiert und überholt die Atemzüge der Maschine“, sagte der Arzt. „Gebt ihm etwas Morphin und Ativan [Lorazepam]. Besser noch, relaxiert ihn einfach, bis wir die Beatmungsmaschine ans Laufen kriegen.“ Er wandte sich dem alten Mann zu. „Beruhige dich, alter Mann, bald wird es dir besser gehen.“ Dem alten Mann ging es nicht besser.

In seinen Träumen trieb er weit draußen auf dem Meer; kein Land war in Sicht (Abb. 4). Ein gewaltiger Fisch war an seinem Kopf angebunden. Die Frau aus Harrys Bar saß auf seinem Schoß. Haie nagten an seiner Haut. Jedes Mal, wenn er versuchte wachzuwerden, öffnete ein Matador seine Augenlider, schaute und signalisierte den Picadores, dass sie eine weitere Lanze in seinen Nacken stoßen sollten. Der Matador trug einen weißen Kittel und war aalglatt und arrogant. Er versuchte zu rufen, aber irgendetwas startete den Traum erneut.

Abb. 4
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Kein Land in Sicht. (Zeichnung: R.H. Bartlett, mit freundl. Genehmigung)

Jeden Samstag führte Dr. Yungensmart evidenzbasierte Lehrvisiten auf der ICU durch. Dr. Manolin nahm stets daran teil, da er hoffte, ein Intensivmediziner zu werden. Als sie am letzten Bett ankamen, sagte Dr. Yungensmart:

„Dieser alte Mann ist seit 3 Tagen hier mit Aspirationspneumonie und ARDS [„acute respiratory distress syndrome“]. Wir mussten die FIO2 [„fraction of inspired oxygen“, inspiratorische Sauerstofffraktion] und den PEEP [„positive endexpiratory pressure“, positiver endexspiratorischer Druck] hochstellen, um seine Sättigung über 90 zu halten.“

„Das ist der alte Mann, den ich letzte Woche eingewiesen habe“, sagte Dr. Manolin. „Er ist ein tapferer und zäher alter Mann.“

„Nun, wir wenden bei ihm alle evidenzbasierten Protokolle an, aber er geht den Bach runter. So ist er z. B. auf volumenkontrollierte Beatmung mit einem Atemzugvolumen von 6 ml/kg eingestellt. Wir mussten die Frequenz bis auf 30 hochdrehen, aber sein pCO2 [Kohlendioxidpartialdruck] ist immer noch 55.“

„Ist das die beste Art und Weise den Respirator einzustellen?“ fragte Dr. Manolin.

„Aber ja. Das ARDSNet hat bewiesen, dass dies die beste Beatmungsform bei ARDS ist.“

„Verglichen mit was?“

„Verglichen mit einem doppelt so großen Atemzugvolumen.“

„Wäre ein Vergleich mit druckkontrollierter Beatmung nicht sinnvoller?“

„Das ist nicht nötig. Die haben bewiesen, dass 6 ml/kg bei volumenkontrollierter Beatmung genau das richtige Verfahren ist.“

„Wäre es nicht besser, ihn aufzusetzen und auf der Seite zu lagern? Er liegt nun schon seit 3 Tagen flach auf dem Rücken!“

„Keine Evidenz.“

„Und wäre es nicht besser, ihn wach werden zu lassen und ihm Spontanatmung zu ermöglichen?“

„Keine Evidenz. Es gibt sogar Studien, die zeigen, dass es besser ist, die Patienten zu relaxieren.“

„Er ist ausgeprägt anämisch. Sein Hämoglobinwert ist nur halb so hoch wie der Normalwert. Sein arterieller Sauerstoffgehalt beträgt nur 10.“

„Ich mache mir keine Sorgen über den Sauerstoffgehalt, solange der paO2 [arterieller Sauerstoffpartialdruck] über 60 ist. Und es gibt keine Evidenz dafür, dass eine Anämie die Letalität erhöht. Eine Studie bewies sogar, dass es besser ist, anämisch zu sein, wenn man schwer erkrankt ist. Und übrigens, wie würden Sie eine Anämie behandeln? Es gibt mehr als eine Tonne schwerer Evidenz, die belegt, dass je mehr man transfundiert, desto höher die Sterblichkeitsrate.“

„Aber das ist doch nur so, weil Bluten die Sterblichkeitsrate erhöht. Transfusionen sind lediglich ein Maß für die Schwere der Blutung.“

„Kann ja sein, aber es gab eine Studie, die belegt hat, dass die Transfusion selbst nicht die Überlebensrate verbessert. Einige Patienten wurden von 7 auf 9 g% auftransfundiert und wurden nicht besser. Ja, einigen ging es sogar schlechter.“

„Aber damit werden doch nur 2 verschiedene Grade der Anämie verglichen. Und noch was: War das nicht die Studie, in der uraltes Blut transfundiert wurde?“

„Ja, aber es gibt nun mal diese Evidenz, und wir halten uns daran. Und dann zählt auch noch Folgendes: Unser Krankenhaus verfolgt die Strategie, niemanden mit einem Hämatokrit über 21 zu transfundieren. Das ist evidenzbasiert!“

In seinen Träumen trieb der alte Mann immer noch auf dem offenen Meer. Der Fisch war weg. Lediglich Knochen waren übrig. Einmal, als er begann, wach zu werden, saugte ein Hai Blut aus seiner Leiste. Das Blut hatte die Konsistenz von Wasser und die Farbe von Roséwein. Der Matador schnitt sich seine Ohren ab und überreichte sie einer dünnen, blassen Frau, die Roséwein liebte. Er konnte nicht atmen. Die Sonne hing am Horizont und strahlte. Er konnte nicht sagen, ob die Sonne auf- oder unterging. Dann frischte der Wind auf, und er trieb in Richtung der strahlenden Sonne.

Jeweils Montagmorgens wiederholt sich in Krankenhäusern ein Ereignis, das sehr gut oder sehr schlecht sein kann. Man nennt es „Übergabe“. Diesen Montag war es ein sehr gutes Ereignis. Dr. Yungensmart (der das ganze Wochenende Dienst gehabt hatte) übergab die Verantwortung für die ICU an Dr. Oldenwise, der die gesamte Woche bleiben würde.

„Dieser alte Mann ist seit 5 Tagen wegen ARDS hier. Letzte Nacht musste ich Noradrenalin einsetzen. Er hat das Beatmungsgerät an seine Grenzen gebracht und bereitet sich nun darauf vor, mit ihm zu kämpfen.“

„Warum wird er mit Noradrenalin behandelt?“ fragte Dr. Oldenwise.

„Niedriger Blutdruck. Keine Urinausscheidung.“

„Aber er ist anämisch, mit nur der halben normalen Blutviskosität, sein mittlerer intrathorakaler Druck ist 20 cm H2O und behindert so den venösen Rückstrom zum Herzen, und er erhält β‑Blocker. Warum wird er mit einem β‑Agonisten und einem β‑Blocker behandelt?“

Dr. Yungensmart sagte: „Es gibt gute Evidenz dafür, alte Männer mit Herzproblemen mit β‑Blockern zu behandeln. Und es gibt Evidenz dafür, dass man den Blutdruck mit Noradrenalin anheben kann. Also gibt es gute Evidenz für den kombinierten Einsatz. In unserem Krankenhaus wird die Strategie verfolgt, alte Männer mit β‑Blockern zu behandeln. Das ist sehr evidenzbasiert.“

„Warum erhält er Insulin?“

„Wir haben mit totaler parenteraler Ernährung begonnen, dann schoss sein Blutzucker nach oben. Ich behandele ihn nach einem Stufenschema, das den Blutzucker in einen Bereich zwischen 110 und 120 bringt. Ich bin sicher, Sie kennen die gesamte Evidenz für eine strenge Blutzuckerkontrolle.“

„Sein letzter Blutzucker war aber nur 40.“

„Ja, uns ist die Synchronisation zwischen der totalen parenteralen Ernährung und meinem Stufenschema nicht gelungen. Ich musste ihm eine Ampulle mit 50 %iger Glucose geben.“

„Hier steht, dass sein Gewicht in den letzten 6 Tagen um 13,6 kg zugenommen hat.“

„Haben die ihn schon wieder gewogen? Ich habe das nicht angeordnet. Schauen Sie, seine Knöchel sind nicht geschwollen.“

„Aber er liegt ja auch seit 5 Tagen flach auf dem Rücken.“

„Also dann ist sein Ödem im Rücken. Es gibt keine Evidenz dafür, dass ein Ödem die Sterblichkeitsrate erhöht. Es handelt sich lediglich um eine Verschiebung in den dritten Raum.“

„Aber sogar die vom ARDSNet sagen: Trocken ist besser als feucht.“

„Das war nur ein Trend, aber keine richtige Evidenz. Wie dem auch sei, diese Woche werde ich im Labor verbringen.“

„Was werden Sie tun im Labor?“

„Ich glaube, ich habe das Molekül entdeckt, das das Kapillarleck beim ARDS verursacht.“

„Histamin?“

„Vielleicht, aber ich werde es CD 66 nennen, verstehen Sie? Sechsundsechzig. Diese Woche werde ich den Transkriptionsfaktor isolieren. Ich werde monatelang nicht mehr für die ICU verantwortlich sein müssen!“

„Interessiert mich nicht“, sagte Dr. Oldenwise.

Drei Tage später kam Dr. Manolin, um den alten Mann zu sehen. Er saß aufrecht im Bett und trank ein Bier, das ihm von einer jungen Frau aus Harrys Bar gebracht worden war. Die Frau hatte sehr dunkle Augen, und das Bier war kalt und gut. Dr. Manolin traf Dr. Oldenwise im Konferenzraum, wo er eine Tasse Kaffee mit Schwester Seenital trank und ihr dabei eine Geschichte erzählte.

„Was haben Sie für den alten Mann getan? Er wäre beinahe gestorben.“

„Nein, wir haben ihn beinahe umgebracht. Das ist ein Unterschied.“

„In der Tat“, bemerkte Schwester Seenital mit einem rätselhaften Lächeln. „Zuerst haben wir ihn in Bauchlage gebracht, um seinen pulmonalen Blutfluss in den letzten Rest seiner gesunden Lunge zu leiten, den er vorne in der Brust hatte. Daraufhin stieg seine Sättigung auf 95 für 6 h, lange genug, um seine FIO2 auf 0,5 runterzustellen. Seine FIN2 („fraction of inspired nitrogen“, inspiratorische Stickstofffraktion) stieg dann auch auf 0,5 an.“

„Es ist immer das Gleiche: Wir brauchen den Stickstoff, um die Alveolen offen zu halten“, sagte Dr. Oldenwise.

„Dann gaben wir ihm so lange Lasix, bis er ein paar Liter verloren hatte“, sagte Schwester Seenital. „Das schaffte Platz für 4 Erythrozytenkonzentrate. Nun war es möglich, das Noradrenalin abzustellen. Der arterielle Sauerstoffgehalt war dann 19. Selbstverständlich haben wir den β‑Blocker abgesetzt, um sein Herzzeitvolumen zu steigern.“

„Wir haben ihn auf druckkontrollierte Beatmung mit einem Plateaudruck von 25 cm H2O umgestellt und die ganze Sedierung rausgenommen; wir haben ihm sogar Narcanti [Naloxon] gegeben. Schon am nächsten Tag stieg sein Atemzugvolumen von 5 auf 15 ml/kg, seine Atemfrequenz ging von 30 auf 12 runter und sein CO2 von 60 auf 40.“ Dr. Oldenwise erzählte all dies so, als wäre es reine Routine.

„Aber warum soll man druckkontrollierte statt volumenkontrollierte Beatmung anwenden?“ fragte Dr. Manolin. „Die gesamte Evidenz weist darauf hin, dass eine volumenkontrollierte Beatmung mit einem Atemzugvolumen von 6 ml/kg der ideale Modus für das ARDS ist.“

Dr. Oldenwise musste nun wirklich lachen.

„Was für eine Evidenz? Denken Sie einmal nach. Sie und ich atmen im druckkontrollierten Modus. Wir bauen genügend Druck auf, um ein von uns gewünschtes Atemzugvolumen zu generieren. Wir tun dies oft genug, um unseren pCO2 bei 40 zu halten, und wir atmen mehrfach in der Stunde unsere totale Lungenkapazität ein. Dies benötigt lediglich einen Inspirationsdruck von 20 cm H2O, aber das ist Spontanatmung. Während maschineller Ventilation besteht das Risiko, dass so viel Druck generiert wird, dass die Alveolen geschädigt werden. Und beim ARDS ist die FRC [funktionelle Residualkapazität] klein, wie eine Babylunge. Je kleiner die FRC, desto schlechter die Compliance und desto größer das Risiko der Überdehnung von Alveolen. Plateaudruck ist der beste Parameter zur Feststellung alveolärer Überdehnung. Also sollte maschinelle Ventilation druck- und nicht volumenkontrolliert durchgeführt werden. Neonatologen wissen das schon seit Ewigkeiten. Erwachsenen-Intensivmediziner können eine Menge Physiologie lernen, wenn sie eine neonatologische ICU besuchen.“

Später setzte sich Dr. Manolin neben den alten Mann und die Frau.

„Sie sehen gut aus, alter Mann. Was ist passiert?“

„Ich habe etwas Blut erbrochen, dann bin ich hier aufgewacht. Ich hatte einige furchtbare Träume. Welcher Tag ist heute?“

„Heute ist Freitag. Sie wären beinahe gestorben.“

„Wir sterben alle. Erst leben wir gut, dann sterben wir. Ich bin aber froh, dass ich nicht gestorben bin. Nächste Woche kann ich zu einem Baseball-Spiel oder zum Fischen gehen. Es ist noch genügend Zeit, um gut zu leben.“ Er lächelte die Frau an. Dr. Manolin ging die Straße neben dem Krankenhaus entlang. Er dachte bei sich: „Das Meer ist nur so gut wie das Wetter und die Haie. Das Krankenhaus ist nur so gut wie die Menschen, die darin arbeiten. Hierfür habe ich die Evidenz gesehen.“

Zwei Wochen später schien die Sonne warm, und das Meer war ruhig. In der Kapelle läuteten die Glocken. Der alte Mann beschloss, fischen zu gehen. Als er eine Sardine auf den Angelhaken spießte, verletzte er sich seinen Finger. Er steckte seinen Finger in den Rum und saugte ihn dann trocken. Es fühlte sich warm und gut an. Er ging nicht ins Krankenhaus.

Infobox 1 Biografie von Hemingway

Am 21. Juli 1899 wird Ernest Miller Hemingway in Chicago geboren. Erste schriftstellerische Bemühungen sind schon ab 1916 zu erkennen: Für die Schülerzeitung The Trapez der Oak Park and River Township Highschool schreibt er Beiträge. Gegen den Willen seiner Eltern, die ein Medizin- oder Musikstudium vorgesehen hatten, nimmt er ab 1917 eine Arbeit als Volontär beim Kansas City Star an. Im Juni 1918 meldet er sich freiwillig beim amerikanischen Roten Kreuz und wird bei Fronteinsätzen der italienischen Infanterie in Oberitalien schwer verletzt. Hierfür wird er mit der Medaglia d’Argento al Valor Militare und dem Croce al Merito di Guerra ausgezeichnet. Während er sich in einem Krankenhaus in Mailand erholt, verliebt er sich dort in die Krankenschwester Agnes von Kurowsky. Die unglückliche Liebesaffäre verarbeitet er 1929 in seinem Roman A farewell to arms [61].

Hemingway war einer der bekanntesten Menschen des 20. Jh., berühmt als literarisches Genie. Für seine Novelle Der alte Mann und das Meer wurde ihm 1953 der Pulitzer-Preis und 1954 der Nobelpreis für Literatur verliehen. Hemingway repräsentierte wie kein anderer den amerikanisch geprägten Hypermaskulinismus: Er trank viel, war Frauenheld, Großwildjäger, Hochseefischer (Abb. 1), „Stierkampf-Aficionado“ und Boxer – alles in einer Person. Sein abenteuerliches Leben führte zu zahlreichen Verletzungen und Unfällen. Mindestens 6 Schädel-Hirn-Traumen, wahrscheinlich oft unter Alkoholeinfluss erlitten, sind dokumentiert. Psychiatrische Analysen kommen zu dem Schluss, dass er an einer bipolaren Störung, Alkoholabhängigkeit, Borderline-Erkrankung, narzisstischen Persönlichkeitszügen und den Folgen der Schädel-Hirn-Traumen litt [62]. Als Hemingway am 26. Juni 1961 nach 7‑wöchiger psychiatrischer Behandlung aus der Mayo-Klinik (Rochester, Minnesota) entlassen wurde, sagte er in einer letzten Unterredung mit seinem behandelnden Arzt Dr. Steinhilber: „You and I both know what I am going to do to myself one day“ („Sie und ich wissen, was ich mir eines Tages antun werde“) [63]. Tatsächlich sollte sich diese düstere Prophezeiung nur 6 Tage später erfüllen: Am 2. Juli 1961 um 7.30 Uhr setzte Hemingway seinem Leben durch 2 Schüsse in den Mund ein Ende. Seine letzte Ruhestätte fand er 4 Tage später auf einem Friedhof in Ketchum, Idaho. Hat Hemingway mit seinem Suizid sein prägnantestes Zitat selbst widerlegt? „A man can be destroyed but not defeated“ (deutsche Übersetzung: „Ein Mann kann zerstört werden, aber nicht besiegt“) [64]. Wir meinen nein.

Infobox 2 Zusammenfassung von Hemingways Novelle Der alte Mann und das Meer. (Nach Hemingway [64, 65])

Santiago, ein alter Mann, arbeitet seit Jahrzehnten als Fischer im Golfstrom nahe Havanna, Kuba. Er ist sehr arm, schläft auf einem rostigen, nur mit alten Zeitungen gepolsterten Bett und lebt im Wesentlichen nur davon, was ihm Manolin besorgt. Manolin ist ein Junge, den er vor langer Zeit das Fischen gelehrt hat und der seitdem als Gehilfe zusammen mit ihm ausfährt. Der Junge kümmert sich rührend um die Bedürfnisse des alten Mannes. Seit 84 Tagen nun kehrt Santiago mit leeren Händen in seinen Heimathafen zurück; er ist „salao“ (spanisch, umgangssprachlich: vom Pech verfolgt). Schon seit dem vierzigsten erfolglosen Tag haben Manolins Eltern dem Jungen verboten, weiter mit dem alten, glücklosen Mann hinauszufahren. Sie haben ihn auf das Boot eines weitaus erfolgreicheren Fischers vermittelt. Der Junge jedoch hält die Freundschaft.

Tag 85 soll ein Glückstag werden. Schon im Morgengrauen fährt der alte Mann weit auf das Meer hinaus und wirft seine mit Ködern versehenen Leinen aus. Tatsächlich beißt ein riesiger Marlin an, und Santiago kämpft mit ihm bis an die äußersten Grenzen seiner psychophysischen Leistungsfähigkeit. Schließlich gelingt es ihm, den Fisch mit einer Harpune zu töten. Er bindet ihn seitlich an sein Boot, hisst das Segel und tritt die lange Heimreise an. Das Blut des Fisches jedoch lockt erst einzelne Haie an, dann ein ganzes Rudel. Unter Ausschöpfung seiner letzten Energiereserven bekämpft der alte Mann die Haie und tötet sogar einige. Die Haie sind aber übermächtige Gegner, und Santiago kann nicht verhindern, dass sie das Fleisch des Marlins bis auf das Skelett abfressen. Resigniert und vollständig erschöpft erreicht Santiago seinen Heimathafen, schleppt sich zu seiner Hütte und fällt in einen Erschöpfungsschlaf.

Am nächsten Morgen sammeln sich zahlreiche Fischer um Santiagos Boot und bestaunen das an das Boot gebundene Skelett des Marlins. Irrigerweise halten es Touristen für das Skelett eines Haies, nachdem ein Kellner ihnen zu erklären versucht hat, dass Haie den erlegten Marlin abgefressen haben. Manolin, der sich auch bei der staunenden Menge aufhält, sorgt sich um den alten Mann. Er geht zu seiner Hütte und sieht, wie der alte Mann tief schläft, seine Hände sind zerschunden und blutig. Er kann seine Tränen nicht zurückhalten. Er bringt ihm Kaffee und die Zeitungen der letzten Tage. Schließlich wacht Santiago auf, und der Junge und der alte Mann versprechen sich gegenseitig, dass sie von nun an wieder zusammen zum Fischen auf das Meer hinausfahren werden. Zum Ende der Geschichte schläft der alte Mann wieder ein und träumt von spielenden Löwen an einem afrikanischen Strand.

Hintergrundinformationen und Kommentare zu den intensivmedizinischen Problemen

Delirium

Der Begriff Delirium ist aus dem Lateinischen abgeleitet: „delirare“ bedeutet „aus der Furche geraten“, „Irresein“, „Verwirrtheitszustand“. Das Delir gehört zu den Leitsymptomen organischer Psychosen. Es stellt keine eigene Erkrankung dar, sondern ein Syndrom mit einem breiten Spektrum möglicher Ätiologien [5]. Die aktuelle 5. Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) der „American Psychiatric Association“ legt folgende Diagnosekriterien fest [6]:

  • akute Störung der Aufmerksamkeit oder der räumlichen Orientierung,

  • Entwicklung des Deliriums innerhalb kurzer Zeit,

  • Veränderung der Aufmerksamkeit und des Bewusstseins im Vergleich zur Ausgangslage,

  • typisch sind tageszeitliche Schwankungen,

  • Störung der kognitiven Leistungen wie Gedächtnis, Orientierung, Sprache und Wahrnehmung,

  • die genannten Störungen können nicht auf bestehende, diagnostizierte oder sich entwickelnde neurologische Störungen zurückgeführt werden.

Delire auf der Intensivtherapiestation treten bei mehr als 80 % der dort behandelten Patienten auf [7]. Sie erhöhen Morbiditäts-, Sterblichkeitsrate sowie Dauer der maschinellen Ventilation und beeinträchtigen langfristig kognitive Funktionen [8]. Unmittelbar gefährdet ist der delirante agitierte Patient auch durch Selbstextubation, Verlust von Kathetern und Sturz.

Die große Zahl von Risikofaktoren für ein Delir kann in 4 Kategorien eingeteilt werden: akute Erkrankung, vom Patienten ausgehende Faktoren (z. B. Alter oder chronische Erkrankungen) und iatrogene (z. B. Sedativa) oder Umweltfaktoren (z. B. Schlafentzug durch Lärm) [9]. Speziell die auf Intensivtherapiestationen als Sedativum häufig eingesetzten Benzodiazepine erhöhen das Delirrisiko [10], besonders dann, wenn sie als Dauerinfusion und nicht als Bolusinjektion verabreicht werden [11]. Als Alternative bietet sich die kontinuierliche Infusion von Dexmedetomidin oder Propofol an [10].

Wegen der Komplexität des facettenreichen Syndroms Delir ist nicht zu erwarten, dass einzelne Maßnahmen zu einer entscheidenden Senkung seiner Inzidenz führen. Maßnahmenpakete jedoch, die mehrere der zurzeit als aussichtsreich geltenden Optionen vereinen, erscheinen durchaus vielversprechend. So konnten beispielsweise Balas et al. zeigen, dass eine Kombination aus Aufwachversuch, Spontanatmungsversuch, Monitoring und Therapie des Delirs sowie Frühmobilisierung eine Reduktion der Beatmungsdauer und der Delirinzidenz sowie auch eine bessere Frühmobilisierung bewirkt als eine Standardbehandlung [12].

Evidenzbasierte Medizin

Vor fast einem Vierteljahrhundert wurde die evidenzbasierte Medizin eingeführt (EbM) [13]. Die Methode ist wie folgt definiert:

EbM ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der EbM bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestverfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung. (Cochrane Deutschland [14])

Kritiker befürchten aber, dass bei der Generierung der Evidenz der Grundlagenmedizin und dem über Jahre erworbenen medizinischen Erfahrungsschatz der Anwender zu wenig Bedeutung zugemessen wird. Sie fragen sich auch, ob die mit EbM gewonnenen Ergebnisse auf individuelle Patienten anwendbar sind. Die Krankheiten Letzterer unterscheiden sich ja oft von den Lehrbuchbeschreibungen, und auch die Patienten sind nicht – wie in den Studien – streng selektiert.

Es gibt sogar Stimmen, die die EbM in einer Krise sehen. In einer viel beachteten, virtuos geschriebenen Arbeit mit dem Titel „Evidence based medicine: a movement in crisis“ haben Greenhalgh et al., allesamt Mitglieder der „Evidence Based Medicine Renaissance Group“, folgende Kritikpunkte identifiziert [15]:

  • Das Gütezeichen „EbM“ wurde von der Pharmaindustrie und von Geräteherstellern in zu großem Umfang zu eigenem Nutzen verwendet. Ihr Einfluss auf Forschungsthemen und -programme ist zu groß.

  • Die aktuell zur Verfügung stehende Menge an evidenzbasierten Materialien, wie z. B. Metaanalysen und Leitlinien, ist so umfangreich, dass sie von klinisch tätigen Ärzten nicht mehr überblickt werden kann. Ein plastisches Beispiel dafür ist die Mitteilung von Allen und Harkins aus einem größeren akademischen Lehrkrankenhaus in Manchester, Vereinigtes Königreich [16]: Der Arzt sah in einem eher ruhigen Dienst 18 Patienten mit 44 Diagnosen. Er hätte Leitlinien im Umfang von 3679 Seiten gelesen und präsent haben müssen. Die reine Lesezeit hätte 122 h betragen (2 min/Seite).

  • In aufwendigen Studien nachgewiesene statistische Vorteile sind in der Praxis kaum oder nicht erkenn- und nachvollziehbar.

  • Es wird befürchtet, dass die Konzentration zu stark auf die Abarbeitung von computergestützten Algorithmen (z. B. zur Diagnosestellung), das Ausfüllen umfangreicher Formulare oder andere formale Abläufe gerichtet wird und Ärzte nicht mehr patientenzentriert arbeiten.

  • Evidenzbasierte Leitlinien sind oft nur schlecht auf multimorbide Patienten anwendbar.

Als Konsequenz werden von den Autoren der „Evidence Based Medicine Renaissance Group“ nachstehende Maßnahmen gefordert [15]:

  • Patienten sollen bessere Evidenz einfordern, die ihnen verständlich erklärt und individuell auf sie angewandt wird.

  • In der klinischen Ausbildung soll nicht nur die Suche nach und anschließende Bewertung der Evidenz allein im Vordergrund stehen, sondern es sollen auch ausgefeilte Experteneinschätzung und interaktive Entscheidungsprozesse gelehrt und gelernt werden.

  • EbM-Schriftstücke sollen benutzerfreundlicher verfasst werden.

  • Herausgeber sollen verlangen, dass Studien ausreichend benutzerfreundlich und methodisch akzeptabel sind.

  • Politische Entscheidungsträger sollen darauf achten, dass Generierung und Verbreitung evidenzbasierter Ergebnisse nicht zu eigennützigen Zwecken durchgeführt werden.

  • Die Generierung und Verbreitung evidenzbasierter Ergebnisse soll zunehmend durch unabhängige Geldgeber erfolgen.

  • Die Forschungsprogramme sollen breit und interdisziplinär ausgerichtet sein und das Krankheitserleben, die Psychologie der Evidenzinterpretation, den Wissensaustausch zwischen Arzt und Patient sowie die Risiken von Überdiagnosen stärker berücksichtigen. Erst die Zukunft wird zeigen, ob diese Maßnahmen zu einer breiteren Akzeptanz der EbM beitragen.

Beatmungsstrategie

Für die maschinelle Ventilation von ARDS-Patienten wird die lungenprotektive Beatmung nach den Vorschlägen des US-amerikanischen ARDS-Netzwerks (ARDSNet) empfohlen. Diese gehen letztlich zurück auf eine nun 16 Jahre alte Meilensteinarbeit, in der 807 Patienten in 2 Gruppen randomisiert wurden: Die eine Gruppe wurde mit einem Atemzugvolumen („tidal volume“, VT) von 6 ml/kgIBW („ideal body weight“, ideales Körpergewicht) beatmet, die andere mit einem VT von 12 ml/kgIBW. Die mit den kleinen VT beatmeten Patienten wiesen eine signifikant niedrigere Sterblichkeitsrate, signifikant mehr Tage ohne maschinelle Ventilation, signifikant mehr Tage ohne Organdysfunktionen und niedrigere Interleukin-6-Spiegel auf [17]. Das Beatmungsprotokoll sieht vor:

  • Ziel: paO2 = 55–80 mmHg oder pulsoxymetrisch gemessene Sauerstoffsättigung (SpO2) = 88–95 %,

  • Modus: „volume assist control“ (eine Spielart der volumenkontrollierten Beatmung),

  • VT: 6 ml/kgIBW.

  • Plateaudruck (pplat): ≤30 cm H2O,

  • Frequenz: 6–34/min (pH = 7,3–7,45),

  • Verhältnis von Inspiration zu Exspiration (I:E): 1:1 bis 1:3,

  • PEEP: Einstellung nach Tabelle des ARDSNet [17].

Im Laufe der letzten 16 Jahre hat dieses Protokoll weite Akzeptanz gefunden; es haben sich aber auch folgende neue Sichtweisen und Modifikationen ergeben:

Die Grenzen für das Oxygenierungsziel sind möglicherweise zu niedrig angesetzt. Von den Überlebenden eines ARDS weisen 78 % eine eingeschränkte kognitive Funktion mit eingeschränktem Erinnerungsvermögen sowie reduzierter Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit auf. Diese Veränderungen korrelieren mit Häufigkeit und Dauer der Phasen von mithilfe der Plethysmographie gemessenen Sättigungswerten von <90, <85 und <80 % [18]. Möglicherweise ist der während der Akutphase gemessene paO2 ein besserer prognostischer Parameter [19].

Beatmungsmodus: Es ist bisher der Nachweis nicht gelungen, dass die druckkontrollierte der volumenkontrollierten maschinellen Ventilation überlegen ist [20, 21].

Die Einstellung des V T, bezogen auf das IBW, berücksichtigt nicht das momentan tatsächlich für den Gasaustausch verfügbare Lungenvolumen. Letzteres kann mithilfe apparativer Methoden wie z. B. Computertomographie oder Lungenfunktionsuntersuchungen ermittelt werden. Es gibt aber auch relativ einfach anwendbare bettseitige Verfahren, wie z. B. die Bestimmung der inspiratorischen Kapazität (Summe aus VT und inspiratorischem Reservevolumen) [22].

Es wird infrage gestellt, ob der Plateaudruck der geeignete Parameter zur Festlegung der Beatmungsdrücke ist. Eine mögliche Alternative stellt der transpulmonale Druck (Atemwegsdruck minus Pleuradruck) dar. Ziele sind ein transpulmonaler Druck von 25 cm H2O in der Endinspiration und ein positiver endexspiratorischer transpulmonaler Druck von 0 bis 10 cm H2O. Zu seiner Bestimmung ist allerdings die Messung des Ösophagusdrucks (Surrogatparameter für den Pleuradruck) über eine spezielle Magensonde erforderlich [23].

Bei Auswahl hoher Beatmungsfrequenzen ist zu berücksichtigen, dass sich ein relevanter Auto-PEEP aufbauen kann [24]. Die Flow-Kurve sollte regelmäßig überprüft und der Auto-PEEP wiederholt gemessen werden.

Die PEEP-Tabelle ist hinterfragt worden, da lediglich der pulmonale Gasaustausch, nicht aber zusätzlich Hämodynamik und Atemmechanik zur individuellen PEEP-Titration herangezogen werden [25].

Unter Recruitment versteht man die Wiedergewinnung (Eröffnung) nichtbelüfteter Alveolen für den Gasaustausch, unter Derecruitment den Verlust von vormals belüfteten Alveolen durch Kompressions-, Resorptionsatelektasen, intraalveoläres Ödem oder Konsolidierung. Um einen möglichst guten pulmonalen Gasaustausch zu erzielen, ist die parallele Anwendung von Recruitment-Manövern (RM) und Maßnahmen zur Vermeidung von Derecruitment erforderlich. Recruitment-Manöver waren im ursprünglichen ARDS-Netzwerk-Protokoll nicht vorgesehen, haben sich aber in der Zwischenzeit als wichtige Komponente einer lungenprotektiven Beatmungsstrategie etabliert. Allerdings ist ihre Effizienz in der Intensivmedizin nicht vollständig klar: Zwar verbessern Beatmungsstrategien, die RM als Komponente beinhalten, oft den pulmonalen Gasaustausch und die thorakopulmonale Compliance günstig, ohne das Risiko für das Auftreten von Barotraumen zu erhöhen. Ein eindeutiger Einfluss auf die Überlebensraten konnte aber noch nicht unstrittig nachgewiesen werden [26]. Eine mögliche Klärung wird in der Zukunft durch das „Alveolar Recruitment for ARDS Trial“ (ART) [27] erwartet.

Permissive Hyperkapnie als Bestandteil einer lungenprotektiven Beatmungsstrategie wird bei Patienten mit ARDS, Status asthmaticus, chronisch obstruktiver Lungenerkrankung und bei Frühgeborenen mit Atemversagen eingesetzt. Es wird ein erhöhter Wert des arteriellen Kohlendioxidpartialdrucks (paCO2) mit dem Ziel akzeptiert, einen ventilatorinduzierten Lungenschaden zu reduzieren. Solch ein Vorgehen kann die Sterblichkeitsrate von ARDS-Patienten senken [17, 28]. Die Herausforderung für den Intensivmediziner besteht nun darin, für jeden einzelnen Patienten einen gelungenen Kompromiss zwischen den Vorteilen, die sich aus der Anwendung kleiner VT und der Hyperkapnie selbst ergeben, und auch den Nachteilen der Letzteren zu finden [29]. Zur Vorsicht mahnt ein aktueller systematischer Review, einschließlich einer Netzwerkmetaanalyse, von Wang et al. [30]: Bei einem Vergleich von 26 (sic!) Beatmungsregimen schnitt die Kombination aus permissiver Hyperkapnie, RM und niedrigen Atemwegsdrücken hinsichtlich ihres Einflusses auf das Überleben am schlechtesten ab. Der endgültige Stellenwert der permissiven Hyperkapnie kann noch nicht abschließend eingeschätzt werden, insbesondere da sich in den letzten Jahrzehnten die verschiedenen Spielarten des extrakorporalen Gasaustausches zu einem effektiven und sicheren Instrument der Kohlenstoffdioxidelimination entwickelt haben. Die Anwendung kleiner VT in der Größenordnung von 3 ml/kgIBW ist damit möglich [31].

Muskelrelaxierung bei Acute respiratory distress syndrome

Eine Metaanalyse, die 3 randomisierte, kontrollierte Studien („randomized controlled trial“, RCT) der gleichen Arbeitsgruppe einschloss, ergab, dass die Kurzzeitanwendung (48 h) von Cisatracurium bei ARDS-Patienten zu einer Verbesserung der Krankenhaussterblichkeitsrate und zu einem niedrigeren Risiko für die Entwicklung eines Barotraumas führt. Das Risiko für die Entstehung einer „ICU-acquired weakness“ steigt nicht [32].

Aktuell werden neuromuskulär blockierende Substanzen („neuromuscular blocking agents“, NMBA) bei 37,8 % der Patienten mit schwerem ARDS eingesetzt [33]. Zu den therapeutischen Zielen dieses Vorgehens zählen Verhinderung von Patient-Respirator-Dyssynchronie, Reduktion der Atemarbeit, Verbesserung der Oxygenierung, Verbesserung der Brustwand-Compliance, Anwendung niedrigerer Beatmungsdrücke, Reduktion ventilatorassoziierter Lungenschäden und Ausnutzung eines antiinflammatorischen Effekts. Insbesondere die Patient-Respirator-Dyssynchronie ist wieder verstärkt in den Blickpunkt gerückt. Sie wird üblicherweise verursacht durch nichtangepasste Einstellung der Inspirationszeit, nichtangepassten Atemgasfluss in der Inspiration, ungeeigneten Zeitpunkt des Umschaltens von In- zu Exspiration und Dauer der Inspiration. Chanques et al. konnten zeigen, das eine fehlende Patient-Respirator-Synchronisation bei 26 % aller maschinell beatmeten Patienten auftritt [34]. Eine unerwünschte Folge kann sein, dass das VT im Mittel 2,3-mal/min Werte von 10,1 ml/kgIBW erreicht (statt der gewünschten von 6 ml/kgIBW) [35]. An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass es in vielen Fällen möglich sein sollte, durch Veränderung von Atemfrequenz, I:E-Verhältnis, Atemgasfluss, VT, Anpassung der Sedierung oder Änderung des kompletten Beatmungsmodus die Patient-Respirator-Dyssynchronie zu unterbrechen.

Weiterhin haben viele Intensivmediziner konzeptionelle Schwierigkeiten damit, in der Akutphase des ARDS auf die positiven Effekte der Spontanatmung zu verzichten [36].

Gattinoni und Marini sprechen sich dafür aus, NMBA nicht als Standardtherapie für alle ARDS-Patienten zu verwenden, sondern nur für solche mit schweren Verlaufsformen und ausgeprägter Patient-Respirator-Dyssynchronie trotz tiefer Sedierung [37]. Wen wundert es, dass diese Ansicht nicht unwidersprochen bleibt [38]? Panta rhei!

Transfusionen

Im Rahmen der samstäglichen evidenzbasierten Lehrvisite kommt es zu einer Diskussion über die Frage, ob bei einem Patienten mit auf die Hälfte reduziertem Hämoglobinwert, verbunden mit einem arteriellen Sauerstoffgehalt (CaO2) von 10 ml/dl, die Transfusion von Erythrozytenkonzentraten (EK) notwendig ist. Zum besseren Verständnis sind folgende Betrachtungen hilfreich:

(1) Die Formel für die Berechnung des CaO2 lautet:

$$\mathrm{C_aO_{2}}\,[\mathrm{ml/dl}]\,=\, (\mathrm{S_aO_{2}}\,[\%/100]\,\cdot\, \mathrm{Hb}\, [\mathrm{g/dl}]\, \cdot \, 1,34)\, +\, (\mathrm{PaO_{2}}\,[\mathrm{mmHg}]\,\cdot\,0,0031)$$

Der Normalwert für Männer beträgt 20,4 ml/dl, der für Frauen 18,6 ml/dl. Werden die Normalwerte des CaO2 unterschritten, sprechen wir von arterieller Hypoxämie. Als kritisch anzusehen sind CaO2-Werte unter 12 ml/dl.

(2) Die alleinige Betrachtung des paO2 zur Feststellung einer ausreichenden Oxygenierung ist unzureichend.

Weltweit werden alljährlich 85 Mio. Einheiten EK transfundiert [39]. Die Transfusion von EK ist mit inhärenten Risiken verbunden. Hierzu zählen durch Transfusion von Blutprodukten übertragene Infektionen („transfusion transmitted infections“, TTI), wie z. B. Syphilis, Infektionen mit humanem Immundefizienzvirus, humanem T‑lymphotropem Virus oder Hepatitis-B- oder Hepatitis-C-Virus, eine Schwächung der Immunabwehr („transfusion-related immunomodulation“, TRIM), transfusionsassoziierte Volumenüberladung („transfusion-associated circulatory overload“, TACO), transfusionsassoziierte Lungeninsuffizienz nach EK-Gabe („transfusion-related acute lung injury“, TRALI) sowie allergische und hämolytische Transfusionsreaktionen [40]. Auch die Einjahreslebensqualität nach Operation und Intensivstationsaufenthalt wird durch Gabe von Blutprodukten negativ beeinflusst [41].

Metaanalysen haben inzwischen gezeigt, dass restriktive Transfusionsregime – im Vergleich zu liberalen – von den Patienten in den meisten klinischen Situationen gut toleriert werden und auch tatsächlich einen geringeren Verbrauch nach sich ziehen [42]. Uneinigkeit herrscht jedoch darüber, ob restriktive Transfusionsregime für alle Patientenkollektive empfohlen werden können. Möglicherweise profitieren beispielsweise Patienten mit akutem Koronarsyndrom, chronischen Herzerkrankungen, maligner hämatologischer Erkrankung oder Knochenmarkinsuffizienz eher von liberalen Transfusionsregimen [43].

Das in der Geschichte angesprochene Problem der Transfusion von länger gelagerten EK konnte zwischenzeitlich aufgelöst werden: Shah et al. kommen nach der Analyse von RCT mit Patienten aus den Fachgebieten Intensivmedizin, Kardiochirurgie, Pädiatrie und solchen, die im Krankenhaus EK erhielten, zu der Schlussfolgerung, dass es für die Bevorzugung „frischer“ EK keine Indikation gibt [44].

Für den unmittelbar am Krankenbett tätigen Intensivmediziner ist die Entscheidung, EK zu transfundieren oder nicht zu transfundieren, nach wie vor schwierig. Diese muss nach gründlicher Evaluation des physiologischen Zustands des kritisch kranken Patienten erfolgen; sie kann nicht allein an einem bestimmten Grenzwert für Hämoglobin oder Hämatokrit festgemacht werden [45]. Spinelli und Bartlett schlagen in solchen Entscheidungssituationen folgendes Vorgehen vor [46]: Es soll ein Verhältnis von Sauerstoffangebot („oxygen delivery“, DO2) zu Sauerstoffverbrauch (VO2) von wenigstens 3:1 angestrebt werden. Das DO2/VO2-Verhältnis kann auf der Intensivtherapiestation leicht gemessen oder geschätzt werden. Die vollständigen Formeln lauten:

$$\mathrm{DO_{2}}\,[\mathrm{ml/min}]\, =\, \mathrm{C_{a}O_{2}}\, [\mathrm{ml/dl}]\, \cdot \, \text{Herzzeitvolumen}\, (\text{HZV} )\, [\mathrm{l/min}]\, \cdot \, 10\, (\text{Normalwert:} 800-1000\, \mathrm{ml/min})$$
$$\mathrm{VO_2}\,[\mathrm{ml/min}]\,= (\mathrm{C_{a}O_2}\, [\mathrm{ml/dl} ]\, -\, \mathrm{CvO_{2}}\, [\mathrm{ml/dl}])\, \cdot \, \text{HZV}\, [\mathrm{l/min}]\, \cdot \, 10\, (\text{Normalwert:}\,\, 250\, \mathrm{ml/min} )$$

Wenn keine Messung des Herzzeitvolumens (HZV) notwendig ist, kann hilfsweise die zentralvenöse Sauerstoffsättigung herangezogen werden. Wenn keine Messung der VO2 durch Spirometrie oder keine Berechnung wegen fehlender Werte für gemischtvenöse Sauerstoffsättigung und gemischtvenösen Sauerstoffpartialdruck (zur Berechnung der CvO2) zur Verfügung steht, kann sie bei Erwachsenen mit 3 ml/kgKG (Ruhe) oder 6 ml/kgKG (Sepsis) angenommen werden.

β-Rezeptoren-Blocker

In den vergangenen Jahren ist zunehmendes Interesse am Einsatz von β‑Rezeptoren-Blockern bei Sepsis zu beobachten. Die hierzu gehörenden Substanzen können sepsisinduzierte hämodynamische Veränderungen günstig beeinflussen. Die pathophysiologische Rationale lässt sich wie folgt darstellen: In der Akutphase der Sepsis ist oft das HZV erhöht, es besteht eine Tachykardie, der Gefäßwiderstand ist erniedrigt und die Myokardkontraktilität beeinträchtigt [47]. Der Sympathikotonus ist hoch. Die Gabe von β‑Rezeptoren-Blockern senkt die Herzfrequenz, reduziert den myokardialen Sauerstoffverbrauch, verlängert die Diastole und verbessert die Koronarperfusion. Das Risiko einer Minderperfusion des Myokards nimmt ab. Weiterhin können β‑Rezeptoren-Blocker auch vorteilhafte metabolische und immunologische Veränderungen induzieren sowie die Gerinnung modulieren [48].

Studien belegen, dass dieses Therapieprinzip auch greift: Morelli et al. verabreichten im Rahmen einer RCT Patienten mit schwerem septischen Schock den β‑Rezeptoren-Blocker Esmolol. Verglichen mit der Kontrollgruppe (Standardtherapie des schweren septischen Schocks) zeigten mit Esmolol behandelte Patienten gesteigerte Schlagvolumina, einen unbeeinflussten arteriellen Mitteldruck und einen reduzierten Noradrenalinbedarf. Es bestand kein erhöhter Bedarf an positiv-inotropen Substanzen. Negative Effekte auf verschiedene Organfunktionen wurden nicht beobachtet. Die 28-Tage-Sterblichkeitsrate war niedriger (49,4 % in der Esmolol- vs. 80,5 % in der Kontrollgruppe, bereinigte „hazard ratio“ 0,39; 95 %-Konfidenzintervall [95 %-KI] 0,26–0,59; p < 0,001) [49].

Christensen et al. verglichen 1556 kritisch kranke Patienten mit einer β‑Rezeptoren-Blocker-Therapie, die schon vor Aufnahme auf die Intensivtherapiestation bestand, mit der gleichen Patientenzahl, die keine β‑Rezeptoren-Blocker erhalten hatte. Die Autoren dokumentierten eine niedrigere 30-Tage-Sterblichkeitsrate in der β‑Rezeptoren-Blocker-Gruppe (25,7 % vs. 31,4 %, „odds ratio“ [OR] 0,74, 95 %-KI 0,63–0,87) [50]. Die Ergebnisse dieser Studie sind vielversprechend und werden aktuell in einer interventionellen Studie im Detail analysiert und überprüft (Esmolol Effects on Heart and Inflammation in Septic Shock [ESMOSEPSIS] Trial, NCT02068287).

Blutzuckereinstellung

Im Jahr 2001 wiesen Van den Berghe et al. im Rahmen einer RCT nach, dass eine strenge Blutzuckereinstellung mit Insulin (80–110 mg/dl) im Vergleich zu einer liberalen (180–200 mg/dl) zu niedriger Morbidität und Letalität bei maschinell beatmeten kritisch Kranken führt [51]. In Folgeuntersuchungen konnten diese günstigen Ergebnisse jedoch nicht reproduziert werden, sodass zur finalen Klärung die Studie „Normoglycemia in Intensive Care Evaluation – Survival Using Glucose Algorithm Regulation“ (NICE-SUGAR) [52] initiiert wurde. Diese RCT wurde in 42 Zentren durchgeführt und es nahmen 6104 kritisch kranke Patienten an der Studie teil. Als Ziele für die Blutzuckereinstellung waren 81–108 mg/dl vs. 140–180 mg/dl vorgegeben. Überraschenderweise war die 90-Tage-Sterblichkeitsrate in der Gruppe mit der strengen Blutzuckereinstellung höher (27,5 % vs. 24,9 %, p = 0,02). Schwere Hypoglykämien (Blutzuckerkonzentrationen ≤ 40 mg/dl) traten bei 6,8 % der Patienten mit strenger und bei 0,5 % mit liberaler Blutzuckerkontrolle auf (p < 0,001).

Heute ist die Frage nach der idealen Blutzuckereinstellung weiter ungeklärt. Folgende 6 Domänen, die interagieren, sind zu berücksichtigen:

  • Vermeidung von Hyperglykämien,

  • Vermeidung von Hypoglykämien,

  • Berücksichtigung der Blutzuckervariabilität (Variabilität der Blutzuckersenkung bei gleicher Insulindosis),

  • Berücksichtigung eines vorbestehenden Diabetes mellitus,

  • Häufigkeit der Blutzuckermessung,

  • Zeitdauer des Aufenthalts im Zielbereich [53].

Bis weitere Forschungsergebnisse vorliegen, kann sich der Intensivmediziner an aktuellen Leitlinien orientieren [54]:

  1. 1.

    Der Zielwert von 110 mg/dl soll nicht unterschritten werden.

  2. 2.

    Blutzuckerkonzentrationen von 140–200 mg/dl können toleriert werden; 3 bis 4 Blutzuckerkontrollen/Tag. Unter Insulintherapie soll die Überwachungsfrequenz in Abhängigkeit von der Dosis erhöht werden.

Lagerung

Bei kritisch kranken Patienten, insbesondere bei solchen mit ARDS, hat die flache Rückenlage zahlreiche ungünstige Auswirkungen auf die Hämodynamik und den pulmonalen Gasaustausch. Sie sollte daher gar nicht, oder bei zwingend notwendigen therapeutischen Maßnahmen, so kurz wie möglich zugelassen werden [55].

Die maschinelle Ventilation in Bauchlage ist eine von 3 in den beiden letzten Dekaden entwickelten Therapieoptionen, die die Sterblichkeitsrate von ARDS-Patienten günstig beeinflussen können [56]. Die beiden anderen sind: Beatmung mit kleinen Atemzugvolumina [17] und Gabe von NMBA [57]. Die Wirkweise ergibt sich über folgende Mechanismen: Homogenisierung von Atemgasverteilung und Lungenperfusion, Recruitment, Reduktion des intrapulmonalen Rechts-links-Shunt, Reduzierung der Fehlverteilung von Ventilation und Perfusion, Veränderungen der Geometrie des Zwerchfells, Reduktion des Pleuradruckgradienten, Erhöhung des transpulmonalen Drucks, Verbesserung von Sekretolyse und Sekretdrainage, Reduktion des ventilatorassoziierten Lungenschadens sowie durch Druckveränderungen, die durch Massenverlagerungen des Abdomens und des Herzens hervorgerufen werden. Mit hohem Evidenz- und Empfehlungsgrad wird der unverzügliche Beginn der Bauchlagerung für 16 h bei mäßig bis schwerem ARDS (paO2/FIO2 < 150 mmHg) dem Intensivmediziner nahegelegt [55].

Flüssigkeitsrestriktion

Das „Fluid and Catheter Treatment Trial (FACTT)“ des ARDS-Netzwerks ist die Meilensteinarbeit auf dem Gebiet der Flüssigkeitstherapie des ARDS [58]. Es wurden 2 Flüssigkeitsregime verglichen:

  1. 1.

    Ein konservatives Flüssigkeitsregime mit einem Ziel für den zentralvenösen Druck (ZVD) unter 4 mmHg oder einem pulmonalkapillären Verschlussdruck („pulmonary capillary wedge pressure“, PCWP) unter 8 mmHg und

  2. 2.

    ein liberales Flüssigkeitsregime mit einem ZVD zwischen 10 und 14 mmHg oder einem PCWP von 14 bis 18 mmHg.

Das konservative Regime wies nach 7 Tagen eine kumulative Flüssigkeitsbilanz von minus 136 ± 491 ml auf. Das liberale Regime generierte eine Flüssigkeitsbilanz von plus 6992 ± 502 ml (p < 0,001). Das konservative Regime führte zu besserem Oxygenierungsindex und „lung injury score“, zu mehr Tagen ohne maschinelle Ventilation und kürzerer Verweildauer auf der Intensivtherapiestation. Erstaunlicherweise war die Notwendigkeit zur Hämodialyse in der konservativ behandelten Gruppe beinahe statistisch signifikant niedriger (p < 0,06). Die 60-Tage-Sterblichkeitsrate war allerdings nicht unterschiedlich: 25,5 % in der konservativ behandelten Gruppe und 28,4 % in der liberal behandelten Gruppe (p = 0,30). Ein weiterer interessanter Befund ergab sich aus einer Post-hoc-Analyse [19]: Hypoxämie und eine konservative Flüssigkeitstherapie waren beide unabhängig mit einem schlechten neuropsychologischen Outcome nach einem Jahr assoziiert. Schlussfolgerungen lassen sich hieraus noch nicht ziehen; prospektive Untersuchungen sind notwendig.

Aktuelle Leitlinien empfehlen eine konservative Flüssigkeitstherapie [59]. Die Umsetzung in die klinische Praxis ist allerdings noch nicht vollständig gelungen: Nur 48 % der deutschen ARDS-Zentren wenden eine restriktive Flüssigkeitstherapie an [60].