Vorbemerkungen

Die Lockerung von Pedikelschrauben ist die häufigste Versagensursache dorsaler Instrumentationen im postoperativen Verlauf [1,2,3]. Jedoch kann es auch bereits intraoperativ zu einem Versagen der eingebrachten Schrauben kommen. Bei der Reposition von Frakturen oder bei Distraktions-Kompressions-Manövern, wird bereits eine relevante Kraft auf das Schrauben-Knochen-Interface ausgeübt und somit kann es bereits in diesem Stadium zu einer Schraubenlockerung kommen.

Aus biomechanischen Studien ist bekannt, dass Pedikelschrauben bei osteoporotischer/osteopener Knochenstruktur nur noch unzureichend stabil im Wirbelkörper verankert werden können und somit bei einer Knochendichte unter 80 mg/cm3 die Versagenslast im Vergleich zu einem Wirbelkörper mit normaler Knochendichte um 40 % abfällt [4].

Die Zementaugmentation von Pedikelschrauben wurde bereits vielfach biomechanisch untersucht. Sowohl aus „Pull-out“-Versuchen als auch aus Dauerbelastungstests ist bekannt, dass die Pedikelschraubenstabilität signifikant gesteigert werden kann [5,6,7]. Auch bei einer Pseudarthrose mit konsekutiv eingetretener Lockerung der einliegenden Instrumentation konnte die Schraubenstabilität mittels nachträglicher Zementaugmentation wiederhergestellt werden [8].

Bei osteopener/osteoporotischer Knochenqualität kann es, wie oben erwähnt, jedoch bereits intraoperativ zu einer Pedikelschraubenlockerung kommen. Aus unserer Sicht ist in solchen Fällen eine Zementaugmentation auch noch nachträglich, nach intraoperativ bereits eingetretener Lockerung möglich.

Ein weiteres Verfahren, um eine intraoperativ gelockerte Pedikelschraube erneut stabil im Wirbelkörper zu verankern, ist die Wahl eines größeren Schraubendurchmessers oder die Implantation in einer anderen Schraubentrajektorie [9,10,11,12].

Operationsprinzip und -ziel

Ziel des Eingriffs ist die Revision einer intraoperativ gelockerten Pedikelschraube. Die eingebrachten Pedikelschrauben sollten anschließend eine ausreichende Stabilität aufweisen, um eine gegebenenfalls durchgeführte Reposition zu halten, eine Frakturheilung zu gewährleisten oder eine knöcherne Fusion zu ermöglichen.

Vorteile

  • Stabile Verankerung der Pedikelschrauben im Wirbelkörper

  • Reduzierung der Komplikationsrate durch Verbesserung der Implantatstabilität

  • Einfach zu erlernende und anzuwendende Techniken

  • Frühfunktionelle Nachbehandlung des oftmals geriatrischen Patientenkollektivs

Nachteile

  • Allgemeine Operationsrisiken

  • Möglichkeit der Implantatfehllage und Verletzung benachbarter Strukturen

  • Möglichkeit einer Zementembolie oder einer Zementleckage, anaphylaktischer Reaktionen mit relevanten Kreislaufreaktionen sowie thermischer Schäden [13]

    • Symptomatische Komplikationen in 5,5 % der Fälle

    • Asymptomatische Zementleckage in 66,7 % der Fälle

    • Anaphylaktische Reaktion in 1,2 % der Fälle

  • Im Revisionsfall muss von einem höheren Leckagerisiko ausgegangen werden, da der Schraubenkanal erweitert ist und ggf. eine Perforation vorliegt

Indikationen

  • Intraoperativ gelockerte oder ausgerissene Pedikelschrauben

Kontraindikationen

  • Allgemeine Kontraindikationen bezüglich Anästhesie und Operation

Patientenaufklärung

  • Allgemeine Operationsrisiken

  • Verletzungen benachbarter Strukturen z. B. Spinalnerv, Dura, Myelon, Gefäße

  • Implantatfehllage, -bruch, -lockerung, -dislokation

  • Zementleckage, Zementembolie, allergische Reaktion

Operationsvorbereitungen

  • Ausführliche Anamnese und Untersuchung des Patienten.

  • Bestimmung der Knochendichte in den zu instrumentierenden Wirbelkörpern mittels quantitativer Computertomographie (qCT) oder DXA-Messung („dual energy X‑ray absorptiometry“)

  • Planung der Schraubenlänge und -dicke anhand der vorhandenen Bildgebung

Instrumentarium

  • Pedikelschraubensystem

  • Bildwandler

  • Bei Zementaugmentation kanülierte, fenestrierte Schrauben und Augmentationskit mit Knochenzement

Anästhesie und Lagerung

  • Vollnarkose

  • Bauchlage auf einem röntgendurchlässigen Tisch

  • Während der Zementaugmentation Erhöhung des PEEP („positive end-expiratory pressure“) zur Prävention einer Zementleckage

Operationstechnik

(Abb. 123456).

Diagnose der Schraubenlockerung

 

Abb. 1
figure 1

Intraoperativ kann sich eine Schraubenlockerung sowohl makroskopisch als auch im Rahmen der durchgeführten Bildwandlerkontrollen zeigen. Des Weiteren kann das intraoperative Eindrehmoment der Pedikelschraube einen Hinweis auf eine insuffiziente Verankerung geben. Im Fall einer gelockerten/ausgerissenen Schraube sollte diese zunächst vorsichtig entfernt werden

Abb. 2
figure 2

Anschließend sollte der Schraubenkanal mit der Pedikelsonde vollständig ausgetastet werden und insbesondere auf eine Perforation in den Spinalkanal untersucht werden

Zementaugmentation

 

Abb. 3
figure 3

Bei älteren Patienten oder bei Vorliegen einer Osteopenie/Osteoporose sollte eine nachträgliche Zementaugmentation der Pedikelschraube durchgeführt werden. Die Augmentation kann auf zwei unterschiedliche Art und Weisen erfolgen. Bei Vorhandensein eines kanülierten, perforierten Schraubensystems kann nun eine augmentierbare Pedikelschraube, wenn möglich mit einem um 1 mm größeren Schraubendurchmesser, eingebracht werden. Die Schraubenlage sollte mit dem Bildwandler im a.-p.- und seitlichen Strahlengang kontrolliert werden. Anschließend erfolgt die Augmentation mit Knochenzement

Abb. 4
figure 4

Bei der Zementapplikation ist zu beachten, dass das injizierte Volumen das Volumen einer Augmentation vor Lockerung übersteigen kann, da bereits ein größeres Cavum durch die Lockerung der eingebrachten Schraube entstanden ist. Das Volumen beträgt in etwa 2–5 ml. Während der Augmentation sollten regelmäßige radiologische Kontrollen durchgeführt werden, um eine Zementleckage oder eine Embolie zu verhindern

Abb. 5
figure 5

Sollte kein kanüliertes System zu Verfügung stehen, kann der entstandene Defekt im Wirbelkörper im Sinne einer Vertebroplastie aufgefüllt werden. Hierfür ist es essenziell, den Schraubenkanal auf eine mögliche Perforation zu überprüfen. Liegt eine Perforation in den Spinalkanal vor, sollte dieses Verfahren nicht angewendet werden. Nach Entfernung der einliegenden Schraube und Austasten des Schraubenkanals kann über eine Jamshidi-Nadel der entstandene Defekt im Wirbelkörper mit Polymethylmethacrylat-(PMMA-)Zement aufgefüllt werden. Anschließend wird die Pedikelschraube in den noch weichen Zement eingedreht

Wahl einer alternativen Trajektorie

 

Abb. 6
figure 6

Insbesondere bei jüngeren Patienten mit adäquater Knochendichte kann versucht werden, die gelockerte Pedikelschraube in einer alternativen Trajektorie, etwa in Cauda-Technik, einzubringen. Wie oben beschrieben, sollte auch hier zunächst die gelockerte Schraube entfernt werden und der Kanal sorgfältig ausgetastet werden. Anschließend Eingehen mit dem spitzen Pfriem bis zur Wirbelkörperhinterkante. Es sollte radiologisch kontrolliert werden, dass der Pfriem den gesamten Pedikel passiert hat, um eine Perforation zu vermeiden. Anschließend kann der Pfriem nach kaudal und medial geschwenkt werden und ein alternativer Schraubenkanal im Bereich des intakten Knochens geschaffen werden. Die Cauda-Schraube verläuft in Abhängigkeit des Wirbelkörpers 0–10° nach medial gerichtet und etwa 20° nach kaudal gerichtet. Eine weitere Möglichkeit der Revision einer intraoperativ gelockerten Pedikelschraube ist die Verwendung eines größeren Schraubendurchmessers. Dies ist aus unserer Sicht insbesondere bei gelockerten Schrauben ohne wesentliche Destruktion im Wirbelkörper, ohne relevante Dislokation und bei Patienten mit allenfalls geringfügig reduzierter Knochendichte indiziert

Postoperative Behandlung

  • Direkt postoperative Kontrolle der peripheren Durchblutung, Motorik und Sensibilität

  • Mobilisation ab dem 1. postoperativen Tag

  • Radiologische Kontrolle mit konventionellem Röntgenbild und ggf. CT

  • Funktionelle Nachbehandlung unter Vermeidung des Hebens schwerer Lasten >5 kg

  • Medikamentöse Behandlung der Osteoporose

  • Ggf. Materialentfernung im Verlauf (>6 Monate)

Fehler, Gefahren, Komplikationen

  • Zementleckage und -embolie

  • Verletzungen benachbarter Strukturen, insbesondere Spinalnerv, Dura, Myelon

  • Materialfehllage, Materiallockerung

Ergebnisse

In einer von den Autoren durchgeführten biomechanischen Studie wurde die nachträgliche Augmentation nach intraoperativer Schraubenlockerung untersucht. Es wurden 14 humane LWK 2 Wirbelkörper (Durchschnittsalter 72 ± 14 Jahre) in die Studie eingeschlossen. Bei allen Präparaten lag eine Osteopenie/Osteoporose vor (Mittelwert BMD [„bone mineral density“] 72 ± 22 mg/cm3; qCT). Es erfolgte ein sinusförmiger Dauerbelastungstest (50–100 N) mit einer zyklischen Laststeigerung um 0,1 N bis zur Lockerung der Schrauben. Die Testung erfolgte zunächst auf der einen Seite mit augmentierten und auf der anderen Seite mit nichtaugmentierten Pedikelschrauben. Nach eingetretener Lockerung der eingebrachten Schrauben, erfolgte eine nachträgliche Augmentation der gelockerten, nichtaugmentierten Schraube und es wurde ein erneuter Dauerbelastungstest durchgeführt. Die injizierten Zementvolumina richteten sich nach dem radiologischen Befund während der Augmentation und betrugen im Fall der initialen Augmentation 2–3 ml und im Falle der Augmentation nach Lockerung 2–5 ml. Ausgewertet wurden die gemessenen Steifigkeiten sowie die Zyklen und die Kraft bis zum Versagen.

Durch die initiale Augmentation zeigte sich ein Anstieg der Versagenslast um 45 % verglichen mit den nichtaugmentierten Schrauben (nichtaugmentiert 207 N, 1078 Zyklen vs. augmentiert 301 N, 2012 Zyklen; p = 0,009). Die nach bereits eingetretener Lockerung augmentierten Schrauben zeigten einen Anstieg der Versagenslast um 79 % verglichen mit den nichtaugmentierten Schrauben (370 N, 2728 Zyklen; p = 0,001). Der weitere Anstieg der Versagenslast bei den nach Lockerung augmentierten Schrauben ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass durch die Lockerung ein Cavum für den Zement geschaffen wird und die instabile Spongiosa bereits bricht. Anschließend kann ein größeres Zementvolumen appliziert werden und durch die somit größere Auflagefläche kommt es zum Anstieg der Versagenslast. Der Unterschied der Last bis zum Versagen zwischen den augmentierten und den nach Lockerung augmentierten Schrauben ist jedoch nicht signifikant (p = 0,056). Es ist daher zu schlussfolgern, dass die nachträgliche Augmentation einer intraoperativ gelockerten Schraube möglich und bezüglich der Schraubenstabilität mindestens gleichwertig verglichen mit der Augmentation nichtgelockerter Pedikelschrauben ist.

In unserem eigenen Patientenkollektiv aus dem Zeitraum April 2016 bis August 2018 zeigte sich bei 11 Patienten eine intraoperative Schraubenlockerung. Definiert wurde die Lockerung hierbei als radiologische Dislokation einer eingebrachten Schraube beziehungsweise klinisch signifikante Lockerung in Form einer wackelnden Schraube im Wirbelkörper ohne relevantes Eindrehmoment. Diese Lockerungen behandelten wir in 6 Fällen mit einer nachträglichen Augmentation über fenestrierte Pedikelschrauben und in 5 Fällen durch Auswahl eines dickeren Schraubendurchmessers. In der postoperativen Kontrolle nach 6 Wochen zeigte sich keine dieser Schrauben radiologisch erneut gelockert (konventionelles Röntgen-CT) und die Patienten berichteten nicht über eine erneut zunehmende Beschwerdesymptomatik.

Die Entscheidung, ob eine nachträgliche Augmentation der gelockerten Schrauben erfolgen oder diese durch eine dickere Schraube ersetzt werden sollte, richtet sich – nach unserer Meinung – nach der vorliegenden Knochendichte. Kiner et al. beschrieben in ihrer biomechanischen Untersuchung, dass die Wahl einer dickeren Pedikelschraube der Zementaugmentation überlegen sei [9]. Jedoch erfolgte die Zementaugmentation nicht über fenestrierte Schrauben, welche eine signifikant höhere Stabilität verglichen mit per Vertebroplastie augmentierten Schrauben aufweisen [5]. Des Weiteren wurde in den Experimenten die Knochendichte, welche aus unserer Sicht den entscheidenden Faktor darstellt, nicht ausreichend berücksichtigt und die Testung erfolgte nicht bis zur Schraubenlockerung.

Zusammenfassend sollte aus unserer Sicht im Fall einer intraoperativen Schraubenlockerung immer eine an die Pedikelweite optimierte Schraubendicke gewählt werden und in Abhängigkeit der vorliegenden Knochendichte über eine zusätzliche Augmentation entschieden werden.