1. Präambel

Die Behandlungssituation in der Intensivmedizin ist von einer hohen Abhängigkeit der Patient:innen geprägt. Dies führt nicht nur zu einer starken Einschränkung der persönlichen Freiheiten, sondern begünstigt auch die Anwendung von Zwang bzw. ermöglicht diesen und/oder ruft ihn hervor. Zwang als die Überwindung des Willens – sowohl einwilligungsfähiger als auch einwilligungsunfähiger Menschen – umfasst nicht nur die Anwendung von freiheitseinschränkenden Maßnahmen in Form von körperlicher Fixierung (wie z. B. 5‑Punkt-Fixierung, Handmanschetten, Stecktische, Bettgitter, Fixiergurte in Mobilisationsstühlen) und medikamentöser Ruhigstellung (z. B. durch Benzodiazepine), sondern ebenso Zwangsbehandlungen (wie z. B. erzwungene Ernährung und Medikamentengabe/-aufnahme; [1]). Zwang umfasst auch Situationen oder Maßnahmen, die jenseits der rein körperlichen Aspekte die individuelle Autonomie auf psychischer Ebene beeinträchtigen. Zu diesem indirekten (informellen) Zwang gehören neben Täuschungen, Drohungen und Manipulationen auch Beschränkungen der Kommunikationsmöglichkeiten mit der Folge, nicht als kommunikatives Gegenüber wahrgenommen zu werden. Die eigenen (Therapie‑)Ziele nicht mehr selbst definieren und verfolgen oder Handlungsoptionen wählen zu können/dürfen, führt zu einer Benachteiligung der Patient:innen [1, 2].

Maßnahmen, die zum Wohl der Patient:innen und zur Vermeidung von Schaden angewendet werden, jedoch zugleich Zwang auf die Patient:innen ausüben oder von ihnen als Zwang wahrgenommen werden, werden als wohltätiger oder fürsorglicher Zwang bezeichnet [1, 3]. So können mit der Intention des Helfens und Heilens, bewusst oder unbewusst, Situationen mit Zwang unterschiedlicher Ausprägung entstehen. Die Ausübung von Zwang ist im Alltag häufig das Resultat verschiedener aufeinandertreffender Faktoren, die ein breites Spektrum aus sowohl unmittelbar beeinflussbaren als auch unkontrollierbaren bzw. kurzfristig von den Behandlungsteams selbst nicht veränderbaren (z. B. Personalmangel) Umständen darstellen. Die Handlungsempfehlung möchte daher explizit nicht prinzipiell die Anwendung von Zwang durch die interprofessionellen Teams missbilligen, sondern das Ziel dieser Handlungsempfehlung ist es vielmehr, Wege aufzuzeigen, um Patient:innen mit ihren Wünschen und Bedürfnissen wahrzunehmen und sie in Behandlungskonzepte auf der Intensivstation einzubinden, um Zwang zu reduzieren und wann immer möglich zu vermeiden. Die Empfehlung soll zu einer sensiblen Wahrnehmung von Zwang und zu einem kritischen Umgang mit formellem und insbesondere informellem Zwang beitragen. Mithilfe von kurzen Falldarstellungen sollen dazu die verschiedenen Ausprägungen von Zwang verdeutlicht werden.

Zwang in der präklinischen und innerklinischen Notfallmedizin wird in dieser Empfehlung nicht adressiert, da das Gefährdungspotenzial und die Rahmenbedingungen sich zu stark von denen auf der Intensivstation unterscheiden.

2. Relevanz von Zwang auf der Intensivstation

Intensivmedizinische Maßnahmen haben einen zum Teil sehr invasiven Charakter und erfordern ein hohes Maß an Kooperation der Patient:innen. Organersatzverfahren für das Herz-Kreislauf-System und die Lunge können nicht einfach abgeschaltet oder pausiert werden. Sie müssen, solange sie für die Erreichung des Therapieziels notwendig sind, kontinuierlich toleriert werden. Dies gilt auch für Maßnahmen, die zur Überwachung notwendig sind. Abwehrreaktionen in Phasen eingeschränkten Bewusstseins gehören zum intensivmedizinischen Alltag. Ihre Interpretation ist schwierig, insbesondere bei Patient:innen in Abhängigkeitssituationen mit Bewusstseinsstörungen (z. B. Delir) und damit verbundenen Einschränkungen der Fähigkeiten zu einer autonomen Entscheidung. Diese zeigen häufig eine aktive Abwehr von Behandlungsmaßnahmen [4].

Zwang zielt darauf ab, die Individualität, den Willen oder die Bewegung der Empfängerin zu kontrollieren oder zu ignorieren. Zwang adressiert auch den natürlichen Willen (vgl. Infobox 1 und 2 Fall I), d. h. vorhandene Äußerungen, auch im Fall von Einwilligungsunfähigkeit und damit ggf. verbundenes ungerichtetes, unreflektiertes Handeln, das selbstgefährdendes Verhalten darstellt [5, 6]. Diesen abwehrenden Äußerungen kommen als (möglichen) Indikatoren für das Patient:innenwohl im Licht des Fürsorgeprinzips große Bedeutung zu [7, 8]. Sie müssen beachtet und im Behandlungsteam bewertet werden.

Infobox 1 Natürlicher Wille. Eigene Darstellung nach [8]

Natürlicher Wille …

… bezeichnet aktuelle Willensbekundungen eines Menschen, dem die Fähigkeit zur freiverantwortlichen Willensbildung fehlt (Einwilligungsunfähigkeit).

… umfasst ein breites Spektrum an Willensäußerungen; kann und darf nicht auf eine Stufe mit dem autonomen Willen von Patient:innen gestellt werden.

… ist keine autonome Willensäußerung, muss jedoch bei der Ermittlung des Patient:innenwohls berücksichtigt werden (Fürsorgeprinzip).

… muss bei der Prüfung der Zulässigkeit von Zwang beachtet und eingeordnet werden (siehe Absatz 5. juristische Rahmenbedingungen).

Die Anwendung fixierender Maßnahmen weist eine hohe länderspezifische Varianz auf (zwischen 0–100 %) und ist insbesondere abhängig vom Ausbildungsstand der Pflegenden, baulichen Voraussetzungen und Pflegepersonalschlüssel [4, 9,10,11,12]. Zum jetzigen Zeitpunkt liegen keine randomisierten Studien auf der Intensivstation vor, die die Wirksamkeit von Fixierungen und anderen Zwangsmaßnahmen zur Prävention von Selbstschädigungen beweisen [13, 14]. Dies dürfte aufgrund forschungsmethodischer und -ethischer Herausforderungen auch in Zukunft schwierig bleiben. Es gibt jedoch Hinweise für schädliche körperliche wie psychische Auswirkungen von Zwangsmaßnahmen auf die Patient:innen wie z. B. Strangulationsverletzungen, Druckstellen, längerer Aufenthalt auf der Intensivstation, vermehrte Agitation mit der Anwendung von sedierenden Medikamenten, prolongiertes Delir und posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS; [12, 14,15,16]). Negative Auswirkungen betreffen nicht nur die Patient:innen, sondern auch ihre An- und Zugehörigen (z. B. Post-Intensiv-Syndrom der Familie; PICS‑F; [17]) und das Team (z. B. „moral distress“ [18, 19]). Neben den (potenziellen) kurzfristigen und dem Team sichtbaren Schäden, wie z. B. Hautabschürfungen, werden gleichermaßen mittel- bis langfristige, ggf. bleibende Schäden beschrieben [14,15,16].

Infobox 2 Fall I: Zwangsbehandlung – Therapiezieländerung?

Eine 51-jährige Patientin wird seit 98 Tagen nach Ösophagektomie mit Magenhochzug und schwerwiegenden Komplikationen (Delir, Anastomoseninsuffizienz, Nierenversagen) intensivmedizinisch behandelt. Die mittlerweile tracheotomierte Patientin schüttelt inzwischen bei jeder anvisierten Pflegemaßnahme den Kopf, entzieht sich den Handlungen der Pflegenden und signalisiert deutliche Ablehnung. Trotz des Einverständnisses des gesetzlichen Betreuers zu den laufenden Therapiemaßnahmen ist für die Pflegenden der Wunsch nach einem Therapieverzicht eindeutig.

Der Oberarzt hingegen betont die Nachvollziehbarkeit der Ablehnung, die jedoch vor dem Hintergrund des prolongierten Verlaufs nicht ernst genommen werden könne. Man müsse die Patientin zuerst – entgegen ihrem aktuell geäußerten Willen – in einen besseren Zustand bringen, in dem sie dann ihren Willen kommunizieren kann und sicher zustimmen würde.

3. Formen von Zwang auf der Intensivstation

Grundsätzlich kann Zwang differenziert werden nach: 1) freiheitsbeschränkenden bzw. -entziehenden Maßnahmen und 2) Zwangsbehandlung [1, S. 99].

Als freiheitsbeschränkende Maßnahmen gelten erzwungene (vorübergehende) Einbußen der räumlichen Bewegungsfreiheit (vgl. Infobox 3 Fall II). Freiheitsentziehende Maßnahmen reduzieren die räumliche Bewegungsfreiheit über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig (§ 1906 Abs. 4 BGB) praktisch vollständig [20]. Zwangsbehandlung verweist auf die Vornahme diagnostischer oder therapeutischer Maßnahmen, wie z. B. bildgebende Untersuchungen, enterale Ernährung, Medikationen und Lagerungsmaßnahmen, gegen den erkennbaren Willen der Betroffenen.

Darüber hinaus kommen jedoch noch weitere Formen von Zwang zur Anwendung, die nicht gleich offensichtlich werden und in der klassischen, zweigeteilten Systematik von Zwang nicht ausreichend berücksichtigt werden. Zu diesem indirekten (informellen) Zwang (vgl. Infobox 4 Fall III), der jenseits der formaljuristischen Systematik aus Freiheitsbeschränkung/-entzug und Zwangsbehandlung auftritt, gehören jederzeitiges Zulassen von Untersuchung und Pflege durch als fremd wahrgenommene Personen sowie Freiheitseinschränkungen durch psychische Einflussnahme wie Überzeugungsversuche durch Drohungen, Erpressung, wissentliche Fehl- oder Falschinformation (Täuschung), Manipulation oder andere unzulässige Formen der Willensbeeinflussung [1, 4, 21, 22].

Diese kommen insbesondere auch im Kontext „rehabilitativ-pädagogischer“ [1, S. 169] Zwangsmaßnahmen zur Anwendung, um eine Durchsetzung pflegerischer und physiotherapeutischer Maßnahmen zu erreichen. Patient:innen, die derartige Maßnahmen ablehnen, erfahren ggf. medikamentöse Ruhigstellung oder partielle Fixierung zur Durchführung von Pflegemaßnahmen, werden zur Nahrungsaufnahme gedrängt oder ihnen werden Hilfsmittel und/oder personelle Hilfestellung vorenthalten, die ihnen den (Wieder‑)Erwerb von Kompetenzen ermöglichen bzw. vorhandene Fähigkeiten (z. B. Mobilität) erhalten würden.

Patient:innen auf der Intensivstation fühlen sich in der Situation gefangen, können sich der Intensivtherapie nicht entziehen und schildern die Abhängigkeit u. a. von lebenserhaltenden Geräten sowie vom Behandlungsteam als Ohnmacht, Kontroll‑, Freiheits- und Selbstverlust [23].

Infobox 3 Fall II: Zwangsbehandlung und Fixierung (medikamentös und körperlich)

Eine 78-jährige, kachektische Patientin mit fortgeschrittener Demenz befindet sich zur Behandlung einer Sepsis durch Pneumonie auf der Intensivstation. Fixierung und druckentlastende Lagerung bleiben erfolglos, da die Patientin sich selbstständig wieder umlagert und in Rückenlage bringt. Ebenso lehnt sie die Nahrungs- und Medikamentenaufnahme ab. Sie entwickelt einen Dekubitus am Steiß, der sich in kürzester Zeit verschlechtert.

Im Team wird der Vorschlag diskutiert, die Patientin zusätzlich zu sedieren, um eine Lagerungs- und Ernährungstherapie (Magensonde) durchzuführen.

Infobox 4 Fall III: informeller (indirekter) Zwang

Eine 42-jährige Patientin befindet sind nach einer Pneumonektomie zur Überwachung auf der Intensivstation. Um das Risiko von postoperativen Komplikationen zu minimieren, soll die Patientin schnellstmöglich mobilisiert werden und 4‑stündlich ein CPAP-Training absolvieren. Zahlreiche Versuche der Pflegenden und Physiotherapeutinnen, die Patientin zur Mitwirkung zu motivieren, schlagen fehl. Sie lehnt diese Maßnahmen ab. Sie appellieren wiederholt erst motivierend, später mit Nachdruck an ihre Mitarbeit. Einzelne Mitglieder des Teams drängen noch deutlicher mit Ermahnungen darauf, dass ihre fehlende Mitarbeit die Prognose verschlechtert und sie damit selbst verhindert, auf die Normalstation verlegt zu werden.

4. Ethische Perspektiven

4.1. Moralische Maßstäbe zur Anwendung von Zwang

Zwangsmaßnahmen als gerichtete Fürsorge müssen entweder das Ziel haben, die Selbstbestimmung in einer Form und Bandbreite, die den individuellen Vorstellungen der Patientin entspricht, wiederherzustellen, oder zumindest einer Abwehr von Gesundheitsschäden dienen.

Die legitime Anwendung von Zwang setzt voraus, dass Handlungsalternativen geprüft und bewertet werden und die eingriffsmildeste Maßnahme gewählt wird. Zudem muss der Zwang durch ein erhöhtes Gewicht der Gesundheitsgefahr gerechtfertigt sein. Diese Bewertung erfolgt anhand von moralischen Wertmaßstäben bzw. ethischen Prinzipien. Die Entscheidung über die Anwendung von Zwang resultiert aus dem Ergebnis einer begründeten Güterabwägung für den Einzelfall anhand der jeweiligen Bedingungen. Die zugrunde liegenden Güter (körper- und freiheitsbezogene Selbstbestimmung, Fürsorge) sind jedoch immer dieselben, sodass sie hier aufgezeigt und erörtert werden können.

Das Selbstbestimmungsrecht als eine Bandbreite möglicher Graduierungen zwischen der freiverantwortlichen Selbstbestimmung und dem natürlichem Willen [1] umfasst 3 mögliche Konstellationen und muss so weit wie möglich gewahrt bleiben. Dies gilt für Konstellationen bei Patient:innen,

  1. 1.

    die unzweifelhaft freiverantwortlich entscheiden können,

  2. 2.

    bei denen begründete Zweifel an der Freiverantwortlichkeit bestehen,

  3. 3.

    die unzweifelhaft nicht zur freiverantwortlichen Entscheidung befähigt sind.

Eine Überprüfung des Selbstbestimmungsrechts kann anhand folgender Fragen erfolgen:

  • Lässt sich anhand von Behandlungswünschen oder des mutmaßlichen Willens eine Zustimmung zu einer Behandlung rekonstruieren und

  • wird das übergeordnete Therapieziel inklusive der notwendigen Zwangsmaßnahmen aufgrund des mutmaßlichen Patient:innenwillens mitgetragen oder ist es notwendig, das Therapieziel zu ändern?

Ebenso müssen bei der Abwägung potenzielle Vor- und Nachteile der Ausübung von Zwang berücksichtigt werden. Diese müssen jeweils individuell anhand folgender Leitfragen geklärt werden.

Mögliche Vorteile durch die Ausübung von Zwang:

  • Welche akuten Gefahren für Leib und Leben der Betroffenen können abgewendet werden?

  • Welcher Nutzen (z. B. Lebenszeit, Lebensqualität) lässt sich für die Patient:in nur unter Inkaufnahme von Zwang realisieren?

  • Wie und in welcher Weise werden die Gesundheit und das Wohlergehen der Patient:in befördert?

  • Mit welcher Wahrscheinlichkeit kann das übergeordnete Therapieziel durch die Zwangsmaßnahme erreicht werden?

Mögliche Nachteile durch die Ausübung von Zwang, d. h. die kurz- und langfristigen physischen und psychischen Schäden, müssen eingeschätzt werden

  • Welche konkreten Gesundheitsrisiken entstehen durch die Ausübung von Zwang?

  • Welcher Schaden entsteht durch die langfristige Verarbeitung von psychischem Druck und körperlichem Zwang, der subjektiv als Gewalt empfunden wird, insbesondere in Bezug auf die Bereitschaft zu zukünftigen Behandlungen?

4.2. Wann könnte Zwang ethisch gerechtfertigt sein?

Wohltätiger Zwang, der Betroffene vor (zusätzlichem) Schaden bewahren soll, kann Schaden bei Patient:innen (z. B. physische und psychische Verletzungen) [24, 25] und deren An- und Zugehörigen (z. B. PICS‑F [17]) hervorrufen. Auch im Team kann der Konflikt zwischen Respekt der individuellen Patient:in und der Anwendung von Zwangsmaßnahmen zur Abwendung von Schaden zu moralischer Verletzung des Individuums [26] und moralbezogenem Disstress (Gewissensnot; [18]) führen.

Im Zentrum einer ethischen Reflexion jeglicher Form von Zwang steht die Abwägung zwischen Selbstbestimmung (Einschränkung grundlegender Freiheitsrechte der Patient:in) und Fürsorge vor dem Hintergrund verfügbarer Alternativen. Dabei müssen – auf der Basis einer realistischen prognostischen Einschätzung – sowohl der (potenzielle) kurz- und mittelfristige als auch der langfristige Nutzen und Schaden gleichermaßen berücksichtigt werden.

Bei der Anwendung von Zwang muss das Ausmaß des zu erwartenden Schadens mit der Wahrscheinlichkeit, dass a) der Schaden tatsächlich eintreten wird und b) das übergeordnete Therapieziel erreicht wird, abgewogen werden.

Aus ethischer Sicht darf die Anwendung von Zwang nur dann in Betracht gezogen werden, wenn unabdingbare Voraussetzungen zugleich gegeben sind: Einwilligungsunfähigkeit (syn.: Selbstbestimmungsunfähigkeit) und eine erhebliche Eigengefährdung.

Die Anwendung von Zwang als Ultima Ratio in Ausnahmesituationen kann ethisch gerechtfertigt werden, wenn:

  1. i)

    die vorgesehenen Maßnahmen geeignet sind, um mindestens ein nötiges Teilziel auf dem Weg zu einem Behandlungserfolg im Sinne der Patient:in zu erreichen (Indikation);

  2. ii)

    die individuelle ethische Bewertung ergeben hat, dass die Fürsorge für die Patient:in und die individuelle Freiheit der Patient:in in der vorliegenden Situation auf keine andere Art und Weise miteinander angemessen optimiert werden können;

  3. iii)

    alle intensiven Bemühungen, um die indizierte(n) Maßnahme(n) im Einvernehmen mit der Patient:in umsetzen zu können, gescheitert sind [21];

  4. iv)

    die Bewertung im Sinne einer prozeduralen Ethik nach dem Mehraugenprinzip erfolgt ist;

  5. v)

    die vorgesehenen Maßnahmen die am wenigsten freiheitsbeschränkenden/-entziehenden sind bzw. den geringsten Zwangscharakter besitzen;

  6. vi)

    Die Maßnahmen angemessen sind und der Nutzen dieser Behandlung für die Patient:in in einem akzeptablem Verhältnis zu den Belastungen und nachteiligen Folgen steht.

5. Juristische Rahmenbedingungen

Das Recht unterscheidet im hiesigen Kontext möglicher Eigengefährdungen zwischen Zwangsmaßnahmen, die die Bewegungsfreiheit („Unterbringung“, § 1906 BGB) beeinträchtigen, und solchen zu Lasten der körperlichen Unversehrtheit („Zwangsbehandlung“, § 1906a BGB; [20, 27]).

Zwangsbehandlungen sind ausschließlich bei Einwilligungsunfähigen (sonst: „Freiheit zur Krankheit“: BVerfG v. 26.07.2016, BVerfGE 142, 313, 339 f.) und nur dann erlaubt, wenn dem keine Patient:innenverfügung, sonstige Behandlungswünsche oder der mutmaßliche Wille der Patient:in (in der Deutung des Betreuers/Bevollmächtigten) widerspricht (§ 1906a Abs. 1 Nr. 3 BGB). Des Weiteren muss die Zwangsbehandlung zur Abwendung eines „erheblichen“ gesundheitlichen Schadens zwingend erforderlich sein. Die gilt nur für Therapiemaßnahmen, die auf einem breiten wissenschaftlichen Konsens beruhen, wie z. B. Leitlinien oder Stellungnahmen des wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer (BGH v. 15.01.2020, NJW 2020, 1581, 1582 f.). Darüber hinaus muss die Zwangsbehandlung, verglichen mit weniger belastenden Maßnahmen, alternativlos erscheinen („Ultima Ratio“) und der mit ihr erstrebte Nutzen die erwartbaren Beeinträchtigungen deutlich überwiegen.

Die zentrale Idee des Rechts (§ 1906a Abs. 1 Nr. 4 BGB) ist: „Kommunikation vor Zwang“. Dies verlangt vor Anwendung von Zwang einen ernsthaften, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks unternommenen Überzeugungsversuch durch den ärztlich beratenen Betreuer/Bevollmächtigten oder durch den Behandler.

In formaler Hinsicht bedürfen Zwangsmaßnahmen zum Zwecke der Bewegungseinschränkung (§ 1906 BGB) grundsätzlich der Genehmigung durch das Betreuungsgericht. Bei Gefahr im Verzug ist die Genehmigung unverzüglich (d. h. ohne jede vermeidbare Verzögerung) nachzuholen. Dies gilt auch für eine Fixierung, die nicht absehbar nur kurzzeitig notwendig wird (kurzzeitig bedeutet – lt. BVerfG v. 24.07.2018, NJW 2018, 2619, 2621 – bis zu maximal 30 min) und deshalb gegenüber einer eventuellen Unterbringung als eigenständige Freiheitsentziehung zu betrachten ist. Eine Zwangsbehandlung (§ 1906a BGB) bedarf stets der betreuungsgerichtlichen Genehmigung sowie der Einwilligung des Betreuers. Ist dieser jedoch an der Erfüllung seiner Pflichten zum relevanten Zeitpunkt verhindert, verfügt das Betreuungsgericht über eine Eilbefugnis (§ 1906a Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 1846 BGB).

6. Prävention und Reduktion von Zwang

Verschiedene Faktoren auf unterschiedlichen Ebenen können die Anwendung von Zwang bzw. dessen Vermeidung beeinflussen (Tab. 1).

Tab. 1 Prävention und Reduktion von Zwang

6.1. Menschenbild und Behandlungskonzepte

Ein wesentliches Ziel moderner Intensivtherapie ist es, die Intensivmedizin „menschlich“ zu gestalten [35]. Dazu gehört u. a. ein respektvoller Umgang, der sich häufig in einfachen, aber wichtigen Handlungen (z. B. persönliche Vorstellung, Ansprache, Anerkennung und Förderung der Selbstständigkeit, aktives Einbinden in Entscheidungsprozesse) zeigt [34]. Dies soll der Patient:in vermitteln, dass sie als Individuum mit persönlichen Bedürfnissen vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte wahrgenommen wird [34]. Dazu gehört auch eine konsequente Ausrichtung an den Prinzipien der familienzentrierten Intensivtherapie [30].

Eingebettet in eine solche von Menschlichkeit geprägte Intensivmedizin ist die konsequente Umsetzung evidenzbasierter und leitliniengerechter Behandlung. Dazu gehören v. a. die Implementierung von Maßnahmen und Konzepten zur Delirprophylaxe und -behandlung (z. B. durch reorientierende Maßnahmen, Einhaltung eines Tag-Nacht-Rhythmus, Maßnahmenbündel und Standards [28, 29, 32, 36]) sowie die Beachtung der Leitlinie zur Vermeidung von Zwang [21].

Dieses Menschenbild und die juristischen Vorgaben gebieten es, dass vor und während der Anwendung von Zwang ernsthafte – mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks – kommunikative Überzeugungsversuche durch den ärztlich beratenen Betreuer/Bevollmächtigten und durch das Behandlungsteam durchzuführen sind.

6.2. Interprofessionelles Team

Interprofessionelle Zusammenarbeit stellt einen elementaren Baustein in einem multidimensionalen Konzept zur Bewältigung der herausfordernden Situationen, in denen sich Fragen nach der Anwendung von Zwang stellen, dar. Eine der Evidenzlage [37] und den nationalen Empfehlungen [38] entsprechende personelle Ausstattung ist eine unabdingbare Voraussetzung für den angemessenen und kompetenten Umgang mit Fragen der (potenziellen) Ausübung von Zwang.

Ebenso muss eine gelingende interprofessionelle Teamarbeit systematisch in Aus‑, Fort- und Weiterbildung vermittelt und eingeübt werden. Diese prägt den Entscheidungskontext und stellt damit bereits die Weichen für Prozesse im Vorfeld einer Entscheidung für Zwang (z. B. gemeinsamen Therapieplan entwickeln). Dazu gehören nicht nur grundsätzliche Kenntnisse über wechselseitige Kompetenzen und Erwartungen der Teammitglieder, sondern auch eine wertschätzende Kommunikation, in der persönliche Wahrnehmungen, Gefühle und Zweifel offen geäußert werden können [33]. Zudem ist die Teamarbeit unabdingbar, um die notwendigen Qualitätsstandards für die Anwendung von Zwang einzuhalten, und beinhaltet eine fortlaufende Auseinandersetzung mit rechtlichen Vorgaben und Voraussetzungen im Hinblick auf die Anwendung von Zwangsmaßnahmen. Im Rahmen der täglichen Visiten und Übergaben sowie auch in regelmäßigen Teamsitzungen müssen diese Konzepte – insbesondere von den Führungspersonen – auch umgesetzt und gelebt werden. Entsprechende „Soft Skills“ hinsichtlich der Führungs- und Teamfähigkeit der Leitungspersonen sollten daher verstärkt bei der Auswahl geeigneter Personen sowie bei der Fort- und Weiterbildung im Verlauf der Leitungstätigkeit in den Blick genommen werden.

6.3. Selbstreflexion der individuellen Handlungspraxis

Eine intra- und interindividuelle kritische Reflexion der professionellen Handlungspraxis im Alltag ist unabdingbar (Tab. 2). Reflexionsfragen können hilfreich sein, um subtilen, informell präsenten Zwang zu erkennen. Ein respektvoller Umgang im Team sowie gegenüber Angehörigen und Patient:innen kann Zwang entgegenwirken. Die Patient:in, ihre An- und Zugehörigen als individuelle Einheit wahrzunehmen und zu respektieren, lässt gemeinsam Alternativen und Möglichkeiten finden, diese aktiv in den Behandlungsprozess einzubinden. Ein Perspektivwechsel kann helfen, Situationen zu vermeiden, in denen von der Patient:in im Rahmen einer intensivmedizinischen Behandlung Zwang erlebt wird.

Tab. 2 Persönliche Reflexionsfragen zum Erkennen indirekter (informeller) Zwangsmaßnahmen

6.4. Antizipieren und Thematisieren von Zwang

In nicht wenigen Behandlungskonstellationen besteht durch das individuelle Risikoprofil der Patient:innen und/oder die erforderlichen operativen Maßnahmen bereits in der Ausgangssituation eine höhere Wahrscheinlichkeit dafür, dass z. B. ein postoperatives Delir mit ggf. der Notwendigkeit zur Anwendung von Zwang auftreten wird. Auch wenn spezifische Vorhersagemodelle zur Prädiktion eines Delirs bislang nur moderate Vorhersagekraft besitzen [39], sollte dennoch anhand empirischer Daten und klinischer Erfahrungswerte das Antizipieren und die Thematisierung von Situationen mit einer möglichen Anwendung von Zwang explizite Berücksichtigung in Aufklärungen – besonders im Rahmen von elektiven intensivmedizinischen Behandlungen – finden. Dies bedeutet zugleich auch, dass Intensivmediziner:innen zukünftig stärker in die Aufklärung einbezogen werden müssen. Denkbar wäre z. B. die Möglichkeit, dass Intensivmediziner:innen bei Prozeduren und Patient:innen mit hohem Delirrisiko bereits vor dem Intensivaufenthalt das Gespräch mit Patient:in und Angehörigen suchen. Tragfähige und evidenzbasierte Konzepte hierfür bleiben jedoch derzeit noch zu erarbeiten.

6.5. Sorgfaltspflicht wahrnehmen

Wird eine erhebliche Eigengefährdung festgestellt, so kann das Flowchart dem Team eine Hilfestellung leisten, mit der ethisch und rechtlich gebotenen Sorgfalt vorzugehen (Abb. 1). Ergänzend können die in Tab. 3 dargestellten Fragen dabei helfen offenzulegen, ob die Anwendung von Zwang in der konkreten Situation indiziert und angemessen sein könnten.

Abb. 1
figure 1

Flowchart mit Hilfestellungen bei möglicher Indikation/Durchführung von eingrenzenden Maßnahmen. * Bei Gefahr im Verzug sind freiheitsentziehende Maßnahmen vorübergehend ohne Genehmigung zulässig, die Genehmigung ist jedoch unverzüglich nachzuholen. Ärztliche Zwangsmaßnahmen (Diagnostik, Therapie, Eingriff) bedürfen dagegen gemäß § 1906a Abs. BGB stets der vorherigen Genehmigung des Betreuungsgerichtes. BGB Bürgerliches Gesetzbuch

Tab. 3 Reflexionsfragen Zwangsmaßnahmen nach BGB

7. Fazit für die Praxis

  • Jede Anwendung von formellem oder informellem Zwang greift in die Selbstbestimmungsrechte der Patient:innen (u. a. Recht auf körperliche Unversehrtheit, Recht auf Freiheit) ein.

  • Die Anwendung von Zwang auf der Intensivstation erfordert eine ärztliche Indikation. Zudem muss die Einwilligung einer legitimierten Stellvertreter:in der Patient:in, ggf. des Betreuungsgerichts vorliegen. Jegliche Form von Zwang belastet die Patient:in, ihre Angehörigen und das Behandlungsteam. Es ist essenziell Zwang in seinen vielfältigen Formen zu (er)kennen, zu benennen und zu vermeiden oder zumindest auf ein minimales Maß zu reduzieren.

  • Behandlungsmaßnahmen, die die Anwendung von Zwang beinhalten können, bedürfen immer einer sorgfältigen und auch selbstkritischen Überprüfung der Maßnahmen im Verhältnis zur Indikation und zum Therapieziel. Zwangsmaßnahmen müssen alternativlos, geeignet und angemessen sein. Elementar ist die Gewichtung der wesentlichen ethischen Prinzipien für den konkreten Konfliktfall (Menschenwürde, Autonomie, Fürsorge, Nicht-Schaden, Gerechtigkeit). Vorrangig sollte durch Kommunikation und ohne die Anwendung von Zwang die Kooperation der Patient:in wiedererlangt werden.

  • Das Thema ist in der Aus- und Weiterbildung des Gesundheitsfachpersonals aller Berufsgruppen zu integrieren, um nachhaltig den kritischen Umgang mit Zwang zu verbessern.