Das erste Heft des Jahres 2022 von Herz/Cardiovascular Diseases nimmt die Leitlinien des letzten Jahres ins Visier. Dem prüfenden Blick auf die Empfehlungen der European Society of Cardiology (ESC), oft schon niedergelegt in deutschen Pocket-Leitlinien, oder auf vergleichende Leitlinien jenseits der Grenzen Europas haben sich die Autoren der Beiträge nicht entzogen. Dem Leser wünschen die Herausgeber dieses Heftes die Gelassenheit, die Fülle der Informationen, mal alt mal neu, einzuordnen und im Praxisalltag umzusetzen. Vor allem hoffen wir auf eine unermüdliche Bereitschaft zu lernen. Wir halten es dabei mit dem irischen Dramatiker und Nobelpreisträger für Literatur George Bernard Shaw (26.07.1856 bis 02.11.1950), der 94 Jahre alt wurde und noch im Alter von 92 Jahren dazu schrieb: „Ich lerne noch immer in meinem zweiundneunzigsten Jahr.“

Lernen kann man von Altem, nicht nur von Neuem. So sind auch Leitlinien strukturiert. Sie ergänzen Bewährtes früherer Leitlinien mit Bewährtem aus aktuellen Studien. Erstaunliches lernen kann man auch, wenn Stagnation prävaliert wie im lernenden Leitfaden zur COVID-19(„coronavirus disease 2019“)-Pandemie der ESC [1], der auf dem Stand vom 10. Juni 2020 verharrt geblieben ist. Damit ist der Bewertung in Herz aus dem Vorjahr nichts hinzuzufügen [2] außer der Fehlanzeige zu den Mutationen und Varianten des Virus, der Impfung als Schutz vor SARS-CoV‑2 („severe respiratory syndrome coronavirus 2“) sowie den neuen Therapiemöglichkeiten u. a. mit monoklonalen Antikörpern und Proteasehemmern für den Fall einer gravierenden Erkrankung. Vorläufige Bilanz: Ein vielversprechender Versuch, der leider auf halbem Weg steckengeblieben ist.

Erfolgreich umgesetzt wurden im Jahr 2021 die Leitlinien zur kardiopulmonalen Reanimation [3]. G. Michels, J. Pöss und H. Thiele kommentieren schwerpunktmäßig die Kapitel zu Basismaßnahmen, erweiterten Maßnahmen der Erwachsenenreanimation und zur Postreanimationsbehandlung. Lesenswert sind auch die Kapitel zur Epidemiologie und zu lebensrettenden Systemen. Bewährte Teile sind unverändert geblieben wie die Bedeutung der Ausgangslage, d. h. das frühzeitige Erkennen des Kreislaufstillstands, das Absetzen des Notrufs und die qualitativ hochwertige Herzdruckmassage.

J. Bauersachs und S. Soltani setzen ihre Schwerpunkte bei den ESC-Leitlinien 2021 zur Herzinsuffizienz [4] auf die therapeutischen Empfehlungen der Standardmedikamente auch bei HFmrEF („heart failure with mildly reduced ejection fractiion“), die auch bei HFrEF („heart failure with reduced ejection fractiion“) eingesetzt werden, d. h. die Vierfachkombination aus Angiotensin-Rezeptor-Neprilysin-Inhibitor (ARNI) bzw. ACE(„angiotensin-converting enzyme“)-Hemmer, Betablocker und Mineralokortikoidrezeptorantagonist (MRA). Eine echte Neuentdeckung ist die Klasse-I-Empfehlung für die Behandlung mit SGLT2(„sodium-glucose linked transporter 2“)-Inhibitoren (SGLT2i) bei Patienten mit HFrEF unabhängig vom Vorliegen eines Diabetes mellitus. Da spielt die neue Benennung der Herzinsuffizienz mit mild reduzierter Ejektionsfraktion (HFmrEF; EF: 41–49 %, früher „mid-range“, jetzt „mildly reduced“) nur eine Nebenrolle. Als Ergänzung des medikamentösen Therapiespektrums bei einer Verschlechterung der Herzinsuffizienz bei Anwendung der „fantastic four“ [5] hat Vericiguat, ein Stimulator der löslichen Guanylatzyklase, eine IIB-Empfehlung erhalten [6].

F.S. Nettersheim und S. Baldus setzen die Schwerpunkte in der Besprechung der gemeinsamen kardiologisch-herzchirurgischen Leitlinie von ESC und European Association for Cardio-Thoracic Surgery (EACTS) zu Herzklappenerkrankungen auf die kritische Rolle des Herz-Teams zum Management von Herzklappenerkrankungen [7] bei Therapieentscheidungen, die revidierte Definition der schweren sekundären Mitralklappeninsuffizienz und die Empfehlung für eine katheterbasierte Edge-to-edge-Rekonstruktion der Mitralklappe sowie das Potenzial von kathetergestützten Trikuspidalklappeneingriffen bei inoperablen und Hochrisikopatienten.

8 Jahre liegen die letzten Leitlinien zur Schrittmacher- und Resynchronisationstherapie der ESC zurück. Zu den aktuellen Leitlinien [8] kommentieren A. Keelani, A. Traub, J. Vogler und R. Tilz das optimale perioperative Management der Schrittmacher- und ICD(implantierbarer Kardioverter-Defibrillator)-Implantation, denn immer noch ist eine Komplikationsrate von 5–15 % nach Device-Implantationen nicht tolerabel. Neu ist, dass bei rezidivierenden Reflexsynkopen die Schrittmachertherapie zu einem Empfehlungsgrad I aufgewertet wurde. Bei der kardialen Resychronisationstherapie (CRT) hat sich bis auf die Anhebung der QRS-Verbreiterung auf 130 ms als erfolgversprechend wenig geändert. Ob Patienten mit Linksschenkelblock mit CRT‑D (d. h. mit Defibrillator) oder CRT‑P (d. h. ohne Defibrillator) besser fahren, ist weiterhin ungeklärt.

Obwohl keine Leitlinie, aber doch diskussionsanregend, hat das Positionspapier der ESC Working Group on Myocardial and Pericardial Diseases zur Diagnose und Behandlung der kardialen Amyloidose die Diskussion über deren Diagnostik und Therapie befeuert. S. Pankuweit und R. Dörr zeigen diagnostische Essentials in Klinik und Labor, aber auch in der szintigraphischen Bildgebung auf [9]. Bei 9 unterschiedlichen Typen einer kardialen Amyloidose kann gegenwärtig nur die kardiale Transthyretin(ATTR)-Amyloidose nicht-invasiv und ohne zusätzliche Endomyokardbiopsie, basierend auf einer Knochen‑/Herzszintigraphie mit Technetium-99m-markierten Bisphosphonaten, diagnostiziert werden. Bei diesen Patienten kommt es zu einer Anreicherung des Radionuklids im Herzmuskel, der sich normalerweise bei einer Knochenszintigraphie nie darstellt. Die Therapie sollte in Absprache mit dem Hämatologen erfolgen. Tafamidis ist derzeit das einzige Medikament, für das in einer randomisierten Studie an Patientinnen und Patienten mit Wildtyp- (ATTRwt) und hereditärer ATTR (ATTRv) sowie Kardiomyopathie eine Wirksamkeit nachgewiesen wurde. Wirksame Therapien reduzieren die Produktion der mutierten (Lebertransplantation) und der gesamten TTR (genetische Silencer) oder stabilisieren die zirkulierenden TTR-Moleküle (Stabilisatoren) und verhindern so ihre Dissoziation oder Spaltung in amyloidogene Fragmente.

In den USA haben sich das American College of Cardiology (ACC), die American Heart Association (AHA) und das Joint Committee on Clinical Practice Guidelines mit den zum Jahresende erscheinenden Praxisleitlinien zur Evaluierung und Diagnostik des Thoraxschmerzes von der Praxis verabschiedet, Leitlinien über ätiologisch definierte kardiale Krankheiten oder klinische Syndrome zu verfassen. Ihre neueste, 99 Seiten lange Praxisleitlinie beleuchtet das Leitsymptom des Thoraxschmerzes [10]. Ob dies ein Fortschritt oder Rückschritt ist, wird sich zeigen. Denn natürlich war der Thoraxschmerz bei den Leitlinien zur akuten oder chronischen koronaren Herzkrankheit (KHK) diesseits und jenseits des Atlantiks auch stets integraler Bestandteil der Leitlinien zum akuten Koronarsyndrom, zur chronischen KHK oder zum dissoziierenden Aortenaneurysma. Er begegnet uns bei den Chest Pain Units in Deutschland seit 2008 [11], die im Jahr 2020 ihr neuestes deutsches Update erfahren haben [12]. Der Perspektivenwechsel von Krankheitsentitäten zum singulären Symptom eignet sich gut für eine Vorlesung oder eine Fortbildung in Differenzialdiagnose sowie als Auswahl im Differenzialdiagnosekanon eines Internisten und Allgemeinmediziners. Die AWMF(Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V.)-Leitlinie 15 der deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) zum Thoraxschmerz verfolgte bereits 2011 diesen Ansatz [13]. Die für 2015 vorgesehene Revision wurde bis dato nicht vorgenommen.

Neue Akzente zur Prävention kardiovaskulärer Morbidität und Mortalität setzen die Leitlinien 2021 zur Prävention [14], die von I. Fegers-Wustrow, F. Wimbauer und M. Halle detailliert besprochen werden. Sie schlagen einen stufenweisen, am Alter orientierten und individualisierten Ansatz der Präventionsziele unter Verwendung des SCORE2(Systematic Coronary Risk Evaluation [Update])- und des SCORE2-OP(Older Persons)-Systems zur Risikostratifizierung vor. Neu ist die Sichtweise, die kardiovaskuläre Prävention in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen der Welt und hinsichtlich des regional uneinheitlichen Umweltschutzes zu betrachten und sich nicht nur auf das klassische individuelle kardiale Risikoprofil zu beziehen. Dieser universelle Anspruch ist richtig und ambitioniert zugleich. Er sollte aber nicht dazu führen, dass Umwelt und genetische Prädisposition als Entschuldigung für das individuelle Versagen in der Sekundär- und Primärprävention herhalten müssen.

Die Herausgeber dieses Hefts zu den aktuellen Leitlinien wünschen den Lesern zu Beginn des neuen Jahres 2022 Gesundheit, kluges Management in der Behandlung unserer Patienten und unveränderte Neugier auf Neues trotz der schwierigen pandemischen Lage. Leitlinien haben die Retrospektive im akademischen Gepäck und die Perspektive im Visier. Denn, um es mit Voltaire zu sagen: „Alle Menschen sind klug – die einen vorher, die anderen nachher.“ Leitlinien helfen uns, dass wir bei den Klugen zur ersteren Gruppe gehören.

Ihre

Prof. Dr. med. Bernhard Maisch

Dr. med. Rolf Dörr