Im ersten Akt von Rolf Hochhuths berühmtem Drama Der Stellvertreter stößt der SS-Offizier Kurt Gerstein zu einem Treffen hoher Nazifunktionäre hinzu. Dort berichtet er Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der im Reichssicherheitshauptamt die Deportation und Vernichtung der europäischen Juden koordiniert, seine Eindrücke von den Massenvergasungen in Bełżec. Im Zuge dessen wird Gerstein einem weiteren SS-Funktionär vorgestellt, dem Anatomieprofessor August Hirt von der „Reichsuniversität“ Straßburg, wobei der Eindruck entsteht, als würden sich die beiden historischen Persönlichkeiten vom Hörensagen kennen. So bewundert Hirt das technische Geschick Gersteins, im Gegenzug bekundet dieser großes Interesse an Hirts projektierter Sammlung jüdischer Schädel (Hochhuth 1991: 79–81). Selbstverständlich ist die Szene ein Versuch Hochhuths, die in ihrer Grausamkeit präzedenzlosen Konsequenzen nationalsozialistischer Herrschaft dramaturgisch herauszustellen: Die Vernichtung der europäischen Juden und die wissenschaftliche Ausbeutung der Opfer. Das Zusammentreffen von Eichmann, Gerstein und Hirt hat höchstwahrscheinlich nie stattgefunden. Dennoch ist die Szene eine bemerkenswerte Konstruktion, weil Gerstein aus eigener Anschauung nicht nur mit Adolf Eichmanns massenmörderischer Tätigkeit vertraut war, sondern auch mit August Hirts Fachgebiet: der Anatomie. Hirt unternahm nach seiner Berufung auf die Anatomieprofessur in Straßburg tödliche Humanexperimente mit Senfgas im KZ Natzweiler-Struthof und ließ zur Schaffung einer „jüdischen Skelettsammlung“ 86 Jüdinnen und Juden ebendort vergasen (Weindling 2014: 60, 154–157). Angesichts der absehbaren Befreiung Straßburgs durch die Alliierten richtete er sich 1944 am anatomischen Institut der Universität Tübingen ein, wo wenige Jahre zuvor ein ungewöhnlich alter Medizinstudent namens Kurt Gerstein im Präpariersaal gestanden hatte.

Der 1905 in Hagen/Westfalen geborene Gerstein wurde Bergbauassessor und trat 1933 gemeinsam mit seinem Vater und seinen Brüdern der NSDAP bei. Gleichzeitig begannen sein Widerstand gegen die Gleichschaltung der evangelischen Jugendarbeit, sein selbstfinanziertes Publizieren und Verbreiten sexualpädagogischer Schriften sowie sein Kontakt mit zahlreichen Opponenten des Regimes im Rahmen der Bekennenden Kirche. Für letzteres wurde Gerstein 1936 verhaftet und aus der Partei ausgeschlossen. Er gab seine Anstellung bei der Preußischen Bergbauverwaltung auf, begann ein Medizinstudium in Tübingen, wurde 1938 erneut verhaftet und im KZ Welzheim interniert. Daraufhin schränkte er seine Aktivitäten ein und wechselte, an seine psychischen und finanziellen Grenzen stoßend, in die Privatwirtschaft. Nach Beginn des Krankenmords im Rahmen der „Aktion T4“, dem eine Schwägerin zum Opfer fiel, fasste er nach eigener Aussage den Plan, „in diese Öfen und Kammern hineinzuschauen, um zu wissen, was dort geschieht“ (Rothfels 1953: 187) – und trat deswegen 1941 der Waffen-SS bei. An deren Hygiene-Institut avancierte er zu einem gefragten Experten für Desinfektion und gelangte dadurch in die Lager der „Aktion Reinhardt“ in Polen, wo er Zeuge des Massenmords durch Kohlenmonoxid wurde. Gerstein versuchte weitgehend folgenlos, das Ausland und die Kirchen über die Vernichtung der europäischen Juden zu informieren sowie die Lieferungen von Blausäure in die Konzentrations- und Vernichtungslager zu sabotieren. Nach Kriegsende schrieb er drei Versionen des so genannten „Gerstein-Berichts“ nieder und beging kurze Zeit später in französischer Gefangenschaft Selbstmord.

Aufgrund seines Berichts über die Massenvergasungen im Vernichtungslager Bełżec, der schon wenige Jahre nach Kriegsende auch der deutschen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde (Rothfels 1953), sowie der offenkundigen Ungereimtheiten und Widersprüche seines Lebenswegs, ist Gerstein eine andauernde geschichtswissenschaftliche wie populärkulturelle Aufmerksamkeit zuteilgeworden (Hébert 2016: 96). Seit Saul Friedländers 1967 erschienener Studie Kurt Gerstein oder die Zwiespältigkeit des Guten (Friedländer 2007) haben sich zahlreiche „undeniably favorable biographers“ (United States Holocaust Memorial Museum 2017) seinem Leben gewidmet (Joffroy 1995; Schäfer 1999; Hey et al. 2003; Gräbner & Weszkalnys 2006), die Motive und Konsequenzen seines Verhaltens wurden wiederholt analysiert (Dreßen 1997; Steinbach 1997; Brayard 2001; Jersak 2004; Hébert 2006; Brayard 2008). Doch hat auch diese kontinuierliche, intensive Auseinandersetzung die „Grundfragen“ (Gross 2010: 144), welche die Biographie Gersteins aufwirft, nicht abschließend beantworten können. Die genauen Motive und Umstände des Eintritts eines aktenkundigen, zweifach inhaftierten und aus der Partei ausgeschlossenen Oppositionellen in die Waffen-SS sind ebenso ungeklärt wie die seiner Sabotierung von Zyklon B‑Lieferungen und seines Selbstmords – Gerstein bleibt „a far greater mystery“ (Smith 1997: 367) als die biographischen Narrative aufzulösen vermögen. Diese Aufgabe soll und kann auch im Folgenden nicht geleistet werden. Vielmehr wird der Forschung über Gersteins Leben ein weiterer, bisher wenig beachteter Aspekt hinzugefügt, der die Ambivalenz seiner Persönlichkeit erneut unterstreicht: seine kurze Auseinandersetzung mit der Medizin und dem Arztberuf.

Kurt Gersteins Beschäftigung mit der Medizin hat bislang wenig Interesse in der Forschung gefunden und ist hauptsächlich durch Zeitzeugenberichte dokumentiert (Franz 1964: 18–21; Joffroy 1995: 119–121), dennoch wird ihr eine entscheidende Bedeutung beigemessen. So ist Adolf Eichmanns Einführung von Gerstein als „Arzt und Ingenieur“ im Stellvertreter nicht einfach der künstlerischen Imagination Rolf Hochhuths erwachsen (Hochhuth 1991: 80). Obwohl Gerstein nicht einmal das Physikum abgelegt hatte, führte er seine Anstellung beim Hygiene-Institut der Waffen-SS auf seine doppelte, technische und medizinische, Qualifikation zurück, und Zeitgenossen wie Historiker sahen darin ebenfalls den Grund für seine Innovationen auf dem Gebiet der Desinfektion und seine entsprechende Karriere, die ihn schließlich in die Zentren des Massenmords brachte (Rothfels 1953: 187; Franz 1964: 27; Joffroy 1995: 174; Schäfer 1999: 155, 220; Friedländer 2007: 85; Hébert 2016: 89). Ausgehend von einem bisher unbekannten Memorandum über das anatomische Leichenwesen, welches der Medizinstudent Gerstein im April 1938 an das Reichsministerium des Innern (RMI) schickte,Footnote 1 lässt sich sein Verhältnis zur Medizin nun näher bestimmen.

Das Memorandum, in dem Gerstein seine Kritik am Umgang mit Anatomieleichen sowie seine Reformvorschläge formulierte, ist zum einen von biographischem Interesse, weil es die Bedeutung der Medizin in diesem Lebensabschnitt ebenso unterstreicht wie die Zerrissenheit zwischen seiner christlichen Überzeugung und der nationalsozialistischen Realität. Zum anderen weist es über diese sehr spezifische, biographische Dimension hinaus und ist von allgemeinerem, medizinhistorischem Interesse: Denn Gersteins Überlegungen zum anatomischen Leichenwesen erweisen sich als ausgesprochen sensibel für die aktuellen Entwicklungen dieser Zeit; sie lavieren zwischen zwei schwer zu versöhnenden Gegenpolen – einerseits dem medizinischen Bedarf an menschlichen Leichen, andererseits der gesellschaftlichen Ablehnung von Sektion und einem Leichenwesen, das durch den Staat organisiert und deswegen traditionell mit Strafe und Zwang konnotiert war. Die wissenschaftliche Arbeit an menschlichen Leichen war zu dem Zeitpunkt, als Gerstein mit seinem Memorandum zu intervenieren versuchte, ein andauerndes Politikum, das nicht nur die Anatomie, sondern gleichsam die Pathologie und die Gerichtsmedizin betraf (Prüll 2000a; Prüll 2000b; Herber 2002; Noack & Heyll 2006). Gerstein verstand die Gründe für die gesellschaftliche Ablehnung der Sektion, in gleichem Maß erkannte er jedoch den Bedarf der medizinischen Lehre und Forschung an menschlichen Leichen an. Dadurch spitzte er, wie im Folgenden gezeigt wird, genau jenen Widerspruch zwischen Pietätsempfinden und wissenschaftlichem Kalkül zu, den er gerade zu überwinden meinte. Insofern reflektieren seine Überlegungen sehr deutlich ein grundsätzliches Dilemma der zeitgenössischen medizinischen Wissenschaft.

Das für einen Medizinstudenten außergewöhnliche Memorandum von Kurt Gerstein hatte zwar keinen unmittelbaren Einfluss auf den anatomischen Umgang mit der menschlichen Leiche. Doch zeichnet es die diametralen Entwicklungspfade vor, die nicht nur das anatomische Leichenwesen, sondern die deutsche Medizin per se in den folgenden Jahren und Jahrzehnten einschlagen sollte: Den Pfad methodischer Entgrenzung im Nationalsozialismus sowie einen verstärkt an Pietätvorstellungen und ethischen Prinzipien orientierten Pfad, dessen Grundsätze noch aus Weimarer Zeiten stammten, aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg kodifiziert und sukzessive umgesetzt wurden (Roelcke 2017). Gersteins Bemühen, diesen eklatanten Widerspruch zu überbrücken, spiegelte seine eigene innere Spannung wider. So ermöglichen die inkohärent anmutenden Positionen sowohl Gersteins persönliche Situation nachzuvollziehen als auch zentrale Aspekte der spannungsgeladenen Geschichte des anatomischen Leichenwesens in Deutschland nachzuzeichnen. Das Memorandum wirkt wie ein Meilenstein, der den gegenwärtigen Standort markiert sowie die Horizonte des Vergangenen und des Zukünftigen eröffnet. Mit der Kontextualisierung dieser Positionen und Perspektiven wird ein Forschungsfeld ergänzt, das durch die Aufarbeitung der Geschichte der Anatomie im Nationalsozialismus in den letzten zehn Jahren zahlreiche Arbeiten hervorgebracht hat (Hildebrandt 2016b: 193–200). Mithilfe des Memorandums lässt sich eine systematische Analyse vornehmen, die den bisherigen Fokus auf bestimmte Institutionen oder Personen im Nationalsozialismus erweitert. Dadurch treten die zugrunde liegende, relationale Entwicklung von Staat und Anatomie im Hinblick auf den Umgang mit der menschlichen Leiche sowie die damit verbundenen Probleme rechtlicher Verfügung und gesellschaftlicher Akzeptanz in den Vordergrund.Footnote 2

Doppelter Ausweg: Gerstein und die Medizin

Kurt Gerstein kam nicht aufgrund eines ursprünglichen Studien- oder Berufswunschs mit der Medizin in Berührung, sondern infolge seines politischen Handelns in den ersten Jahren nationalsozialistischer Herrschaft. Nachdem er im September 1936 zum ersten Mal von der Gestapo verhaftet und aus der NSDAP ausgeschlossen worden war sowie seine Anstellung als Bergbauassessor beim preußischen Staat hatte aufgeben müssen, wandte er sich einem alternativen Berufsweg zu. Die Erlöse aus einem Familienunternehmen ermöglichten ihm, sich einerseits der durch sein Engagement in der evangelischen Jugendbewegung motivierten, sexualpädagogischen Schriftenarbeit zu widmen, anderseits ein zweites Studium aufzunehmen. Da ihm die Immatrikulation für evangelische Theologie verwehrt blieb, schrieb er sich in Tübingen für Medizin ein mit dem Plan, nebenher theologische Vorlesungen zu hören und auf diesem Umweg in den Dienst der Kirche zu gelangen (Schäfer 1999: 99–107). Doch studierte Gerstein nicht nur „pro forma“ Medizin (Jersak 2004: 258): Im Wintersemester 1936/37 belegte er neben drei theologischen Vorlesungen acht medizinische Kurse, in den folgenden Semestern konzentriert er sich dann ausschließlich auf sein eigentliches Studium (Schäfer 1999: 107, Anm. 14). Insbesondere beschäftigte Gerstein das zeitaufwändige Fach Anatomie, welches ebenfalls seit dem Wintersemester 1936/37 von dem aktiven Nationalsozialisten Robert Wetzel gelehrt wurde (Scharer 2014: 50–53, 201). Noch kurz vor Abbruch seines Studiums beantragte er am 20. Juni 1939 die Zulassung zum naturwissenschaftlichen und anatomisch-physiologischen Teil der ärztlichen Vorprüfung.Footnote 3 Während er von den meisten naturwissenschaftlichen Kursen aufgrund seines vorherigen Ingenieurstudiums befreit worden war,Footnote 4 hatte Gerstein insgesamt 75 Semesterwochenstunden mit Präparierübungen und mikroskopischen Kursen sowie Vorlesungen zur Entwicklungsgeschichte, Topographie, Eingeweidelehre und Neuroanatomie des Menschen verbracht.Footnote 5

Dabei entsprach gerade das Studium der Anatomie überhaupt nicht der sehr ernsten Vorstellung, welche sich Gerstein vom Arztberuf machte, und zwar nicht allein aufgrund des enormen Lernaufwands, mit dem er sich nur „höchst mässig“Footnote 6 arrangierte. Anhand verschiedener Berichte von Freunden Kurt Gersteins sowie in mehreren Briefen aus seiner Studienzeit lässt sich diese Vorstellung nachvollziehen. Der Arztberuf hatte für Gerstein keine rein somatische, vielmehr eine vordringlich psychologische und spirituelle Dimension. „Arztsein, das heißt nicht, so sagte er einmal, ‚den andern Menschen den Bauch aufzuschneiden‘, das heißt vielmehr, die Menschen bei ihrer Krankheit gerade auch in ihren inneren Nöten anzutreffen und da helfend einzugreifen“, so Helmut Franz, einer der zahlreichen jungen Männer, die Gerstein während seines Engagements in der evangelischen Jugendarbeit nachhaltig beeinflusst hatte und mit denen er in kontinuierlichem Kontakt stand (Franz 1964: 19). Ein weiterer dieser jungen Freunde, mit denen er sich über das Medizinstudium austauschte, war Kurt Niedermeyer. Ihm gab Gerstein zu bedenken, dass der Arztberuf neben Fleiß, Auffassungsgabe und einem diagnostischen Blick noch etwas anderes, viel Grundlegenderes verlange, nämlich charakterliche Qualitäten im Umgang mit dem Kranken:

Der Arzt darf seine Kunst und Fähigkeit nicht unter den Scheffel stellen, sondern er lebt vom Vertrauen seiner Patienten und von seinem Können. Der Arzt muß in gewisser Weise kraft seiner Persönlichkeit imponieren. Wenn er das Zimmer betritt, muß er Ruhe und Vertrauen verbreiten und Fröhlichkeit, Zuversicht. […] Er wirkt in der Stille, aber darum um so nachhaltiger auf den einzelnen. Und ihm wird geglaubt.Footnote 7

Für Gerstein war der ärztliche Eingriff bloß eine „äußerlich notwendige, aber periphere Zweckmäßigkeitshandlung. Das, was er aber eigentlich suchte, das war das ärztliche Wort“ (Franz 1964: 19).

Seinem Pflegesohn Günter Dickten schrieb Gerstein, dass er ungeachtet seiner Frustration über die Ausrichtung und den Aufwand des Medizinstudiums „einen ausgesprochenen Hang zum ‚Arzten‘, zum Verarzten“ in sich verspüre, und zwar „nicht nur viel Willen, sondern zweifellos eine überdurchschnittliche therapeutische Fähigkeit, vor allem auch in psychiatrischer und physiologischer [sic!] Hinsicht“ (Joffroy 1995: 119). Der Arztberuf sollte die unter nationalsozialistischer Herrschaft kaum noch mögliche spirituelle Anleitung kompensieren, die seinem Engagement in der evangelischen Jugendarbeit zugrunde gelegen hatte. Die Medizin wies einen Ausweg aus der doppelten Perspektivlosigkeit, die er hinsichtlich seines Berufs wie seiner eigentlichen Berufung empfand. Dem ständig an seiner politischen Rehabilitierung und Rückkehr in eine geregelte Laufbahn arbeitenden Vater schrieb er noch Ende 1938, dass er das Medizinstudium „leidenschaftlich“ betreibe und nicht nur bereit sei, sich als Landarzt nach Ostpreußen verschicken zu lassen, sondern auch „in die wirtschaftlich durchaus geordnete und menschlich nicht unbefriedigende Tätigkeit eines Missionsarztes zu gehen […].“Footnote 8 Durch seinen Kontakt zu Samuel Müller, dem Leiter des ebenfalls in Tübingen ansässigen Deutschen Institut für ärztliche Mission (Schäfer 1999: 139), wird Gerstein von den Möglichkeiten missionsärztlicher Tätigkeit gewusst haben, in deren Kombination aus medizinischer Hilfe und spiritueller Führung er sein doppeltes Bedürfnis erfüllt sah, den Arztberuf überhaupt anzustreben.

Gersteins handlungsleitender und nun auf den Arztberuf projizierter Wunsch, „[d]en ganzen Tag da sein zu helfen“Footnote 9, war nicht allein verantwortlich für seine Entscheidung zugunsten der Medizin. In seinem Bild vom Arztberuf und der darin vermittelten Kompensation der nur noch eingeschränkt möglichen missionarischen Jugendarbeit tritt noch etwas Anderes zutage: die Abwendung von der Kirche und die Suche nach neuen Autoritäten. In Zeiten, da sich die kirchlichen Wortführer in Selbstgleichschaltung oder in abstrakt bleibender Opposition verloren hatten, musste für Gerstein die spirituelle Führung „von verantwortlich handelnden Einzelnen, von berufenen ‚Laien‘, übernommen werden“ – der mit geradezu ahistorischer, wissenschaftlicher wie moralischer Autorität ausgestattete Arztberuf würde für ihn „die günstige Gelegenheit zur erzieherischen Beeinflussung im christlichen Sinne, aber in einer bewußt außerkirchlichen Situation sein“ (Franz 1964: 19). Deswegen riet er seinem jüngeren Freund Kurt Niedermeyer dazu, sich bei der Studienwahl von der „dogmatisch haarspaltenden, problematisierenden, lebensabgewandten theologischen Kollegenschaft“ fernzuhalten und stattdessen dem „Kreise von vitalen Medizinern, Materialisten, Banausen“ beizutreten, da er gerade „in dieser gegensätzlichen, […] aber doch in irgend einer Weise liebenswerten und angenehmen Gesellschaft innerlich wachsen und zunehmen“ werde.Footnote 10

Dass sich Gerstein von der Kirche ab- und der Medizin zuwandte, lässt sich auch an seinem, nach der ersten Verhaftung in Gestalt der sexualpädagogischen Schriftenarbeit fortgesetzten, missionarischen Engagement ablesen. Die Werbung für jugendliche Enthaltsamkeit trieb Gerstein um und ließ ihn wiederholt die Nähe zum nationalsozialistischen Regime suchen (Franz 1970: 210 f.). Nicht nur erging er sich in antisemitischen Auslassungen gegenüber „jüdisch-bolschewistischen Angriffen auf die deutsche Volkskraft“, welche er in der Kondomreklame der „jüdisch-galizischen Schweinefirmen Fromms Act und Primeros“ zu erkennen glaubte (Friedländer 2007: 51). Im März 1938 verhalf ihm sein sexualpädagogischer Aktivismus zu einem Treffen mit Sachbearbeitern für das Sanitätswesen von Luftwaffe und Heer, wo er sich über Kondomwerbung in der Wehrmacht beschwerte. Merklich beruhigt konnte er von diesem Austausch berichten, dass beim Militär die medizinische Sicht auf den Sachverhalt seiner persönlichen Einstellung entsprach: „Es wurde auch gerade von den verantwortlichen Ärzten betont, dass Enthaltsamkeit für den unverheirateten Soldaten durchaus richtig und angebracht sei, und dass jede Befürwortung des ausserehelichen [sic] Geschlechtsverkehrs medizinisch unhaltbar sei.“Footnote 11

Die medizinische Autorität wurde zum primären Bezugspunkt seines sexualpädagogischen Aktivismus. Wie Gerstein 1937 an Niedermeyer schrieb, war er zu diesem Zeitpunkt nicht nur durch die Anatomie, sondern auch durch die Arbeit an seinem „neuesten Buch“Footnote 12 eingespannt. Gemeint war damit die Broschüre Um Ehre und Reinheit, die sich dem Problem der Jugend und ihrer Sexualität widmete (Schäfer 1999: 112). Das Heft erschien, wie er seinen Anhängern stolz mitteilte, 1938 schon in zweiter Auflage und enthielt neben verschiedenen Aufsätzen aus Gersteins eigener Feder auch Beiträge von drei Ärzten, unter anderem den Aufsatz Über die Beziehungen der Geschlechter des berühmten Freiburger Pathologieprofessors Ludwig Aschoff. „Theologen kommen in diesem Heft nicht zu Wort“Footnote 13, hob Gerstein ausdrücklich hervor. Er selbst schrieb in der Broschüre auch über seine eigene Erfahrung des Erwachsenwerdens zu Beginn seines Ingenieurstudiums in Marburg:

Hier erblickten alle neu ankommenden Studenten ein von zahlreichen Professoren der Medizin unterschriebenes Flugblatt, daß sie davor warnte, ihr Bestes – Ehre und Reinheit – wegzuwerfen und alles Gerede von der medizinischen Notwendigkeit sexueller Triebbefriedigung als verantwortungsloses Geschwätz brandmarkte ([Gerstein] 1938: 17 f.).

In dem Moment, als sich Gerstein von der Kirche löste, erinnerte er sich also mit den Ärzten an jene Gruppe, die seinen eigenen moralischen Kompass einst so umstandslos bestätigt und bestärkt hatte, und die nun erneut als autoritativer Bezugspunkt dienen konnte.

Gersteins sexualpädagogisch motivierte Wendung von der kirchlichen zur medizinischen Autorität wird personifiziert durch Emil Abderhalden. Dieser fungierte nicht nur als Professor für Physiologie an der Universität Halle/Saale sowie als Präsident der Akademie der Naturforscher Leopoldina, sondern war auch sozialreformerisch aktiv. Im Rahmen seines Engagements und dessen besonderer Fokussierung auf den Aspekt der Enthaltsamkeit gab Abderhalden eine Zeitschrift heraus, die seit 1926 unter dem Titel Ethik – Sexual- und Gesellschafts-Ethik erschien (Frewer 2000: 40–43, 90). Durch die Zeitschrift und ihr Leitthema ergab sich ein persönlicher Kontakt zu Kurt Gerstein. Abderhalden rezensierte die von Gerstein verbreiteten sexualpädagogischen Broschüren Das große Fernweh und Um Ehre und Reinheit, welche er „nicht warm genug empfehlen“ konnte (Abderhalden 1937). Gerstein wiederum plante einen Artikel für Abderhaldens Zeitschrift über Probleme der Jugenderziehung.Footnote 14 Weil jedoch die Ethik noch 1938 ihr Erscheinen einstellte, kam es nicht mehr zu einer Publikation. Gerstein versuchte noch, Abderhalden von seiner Entscheidung abzubringen und drängte ihm regelrecht die Mobilisierung seines Netzwerks an Unterstützern auf, was vom Herausgeber jedoch zurückgewiesen wurde (Frewer 2000: 109 f.). In demselben Brief an Abderhalden vom 25. April 1938, in dem Gerstein seine Hilfe anerbot, findet sich zudem der Hinweis auf ein weiteres Thema, über das die beiden miteinander in Kontakt standen: „Für Ihre Ausführungen zu meiner Eingabe an den Herrn Reichsinnenminister danke ich Ihnen herzlich. Sie waren mir eine Freude und Bestätigung.“Footnote 15 Gemeint war Gersteins Memorandum über das anatomische Leichenwesen, welches er vier Tage zuvor an das RMI gesandt und für das er sich offenbar wissenschaftliche Unterstützung eingeholt hatte. In seinem weiteren Kontakt mit dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (RMWEV), welches seit seiner Gründung 1934 die Hochschulkompetenzen der Landesministerien weitgehend usurpiert hatte (Nagel 2012: 85–90) und vom RMI um Beteiligung in dieser Sache gebeten worden war,Footnote 16 verwies Gerstein dann auch auf eine Besprechung mit „Herrn Geh. Medizinalrat Professor Abderhalden, den ich gegebenenfalls zu hören bitte.“Footnote 17

Doppelte Intervention: Gersteins Kritik des anatomischen Leichenwesens

Gersteins Memorandum umfasst sieben Seiten maschinenschriftlicher Ausführungen sowie zwei Seiten mit fotografischen Aufnahmen eines Anatomiefriedhofs und handschriftlichen Erläuterungen. Es gliedert sich grob in drei Abschnitte: auf historische Ausführungen zur Problematik des Leichenwesens folgen sechs Einzelvorschläge zur Verbesserung der herrschenden Zustände sowie, als Abschluss, ein Teil, den man als moralisch-ideologische Überlegung bezeichnen könnte und der Gerstein dazu dient, sich als zuverlässigen Ansprechpartner des angeschriebenen RMI in Stellung zu bringen, dem er auch gleich seine Bereitschaft zu einem persönlichen Gespräch im Ministerium mitteilt.Footnote 18 Durch die Fotografien belegte Gerstein seine Beschreibung des unwürdigen Zustands auf dem Gräberfeld X, dem traditionellen und bis in die 1960er Jahre genutzten Anatomieteil auf dem Tübinger Stadtfriedhof (Mörike 1988: 99; Schönhagen 1987: 7–10):

Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen, in dem ich auf einem im Betrieb befindlichen Anatomiefriedhof in wenigen Minuten mehrere Hände voll menschlicher Knochen, (Schädelplatten, Finderknöchel, Gelenkknochen, ein komplettes os sacrum, Beckenschaufeln und ähnliches) aufgelesen habe. Die „Gräber“ sind hier einfache, mit vielen bis zur Oberfläche durchdringenden Knochen gespickte „Dreckshaufen“, ohne Blumen oder irgendwelche gärtnerische Pflege. Die Menschen werden hier weit pietätloser verscharrt, als ein Hund.Footnote 19

Die Intervention sorgte dafür, dass sich Ernst Bach, Referent für Medizin im Amt „Wissenschaft“ des RMWEV, persönlich mit der Angelegenheit beschäftigte. An den mit der weiteren Bearbeitung des Sachverhalts beauftragten Oberregierungsrat Scheer schrieb Bach zwar, Gersteins Reformvorschläge – die im folgenden Kapitel thematisiert werden – seien impraktikabel. Nichtsdestotrotz verlangte er eine baldige Aussprache mit Anatomieprofessoren und Präparatoren sowie dem RMI, um für eine „Änderung der Behandlung der Leichen und Leichenteile in der Anatomie“ sowie eine „würdigere Form der Beerdigung der Anatomieleichen zu sorgen.“Footnote 20

Wie für den Ministerialreferenten Bach waren die Zustände auf dem Tübinger Anatomiefriedhof auch für Gerstein selbst nur der Stein des Anstoßes, die Organisation des anatomischen Umgangs mit menschlichen Leichen grundsätzlich infrage zu stellen. Noch Jahrzehnte später erinnerten sich Zeitgenossen und Gersteins Ehefrau Elfriede an dessen Empörung bei der Besichtigung des Gräberfeldes X, seine fotografische Dokumentation und seine Beschwerden bei der Universität (Joffroy 1995: 120 f.). Gerstein hatte sich, wie er auch dem RMWEV mitteilte, schon an den Leiter des Instituts gewandt, der „von sich aus eine Besserung dieser Verhältnisse anstrebt“.Footnote 21 Tatsächlich war die Tübinger Anatomie unter dem bereits erwähnten Robert Wetzel dazu übergegangen, Leichen, bei denen keine konfessionell bedingten Hindernisse bestanden, im nahe gelegenen Reutlingen einäschern zu lassen, um das Gräberfeld zu entlasten (Mörike 1988: 112). Allerdings wurden die Friedhofsverhältnisse lediglich zum Ausgangspunkt der eingehenden Kritik Gersteins am anatomischen Leichenwesen, worin sich auch sein Arztverständnis reflektierte. So schrieb er an Günther Dickten: „Vielleicht hat das Erleben im Studium uns doch weit über das Maß ‚abgebrüht‘ gemacht gegenüber dem Begriff der Scham vor den nackten Leibern.“ Die ohnehin schon frustrierende Auseinandersetzung mit der vor allem durchs Auswendiglernen geprägten Anatomie wurde zusätzlich vom Verhalten der Studierenden im Präpariersaal beeinflusst: „Solche Erlebnisse hatten in mancher Beziehung etwas Befreiendes, in mancher paßten sie bei mir nicht mit dem Ernst zusammen, vor einem wehrlosen, fremden Leibe zu stehen“ (Joffroy 1995: 119 f.). In seinem Memorandum sprach Gerstein zwar nur von „[r]üde[n] Studenten einer vergangenen Zeit“, welche „die ihnen anvertrauten Präparate – in Bierlaune, aus Pietätlosigkeit oder um sich interessant zu machen – nicht zu treuen, sondern zu unwürdigen Händen genommen“ hätten. Gleichzeitig betonte er mehrfach, er berichte „aus genauester Kenntnis der Sachlage heraus“ über Probleme, „die kaum jemand so genau kennt noch kennen kann, wie ich“; Probleme, die sich grundsätzlich so zusammenfassen lassen, dass „die Behandlung der Toten meist völlig unnötigerweise ‚unwürdig‘ [ist], nämlich nicht so würdig, wie dies leicht möglich wäre!“Footnote 22

Die Anatomie habe traditionell insbesondere die Leichen von Verbrechern und Selbstmördern requiriert, also vor allem solche, denen eine kirchliche Bestattung verwehrt bliebe. Dieser Usus, argumentierte Gerstein weiter in seinem Memorandum, habe zu dem schlechten, von Mythen und Vorurteilen belasteten Ansehen der Anatomie in der Bevölkerung geführt. Das negative Bild von der Anatomie würde jedoch durch ihr eigenes Vorgehen noch in der Gegenwart bestätigt: „Ein Teil der Vorurteile und Bräuche wirkt in diese Zeit noch nach. Die Anatomie glaubt manchmal, keinen Grund zu haben, an diesem alten ‚Rekrutierungsprinzip‘ zu rütteln.“ Sie verrichte ihre für die Ausbildung von Medizinern essentielle Arbeit vor allem auf Kosten der „Ärmsten der Armen unter unseren Volksgenossen.“ Die Einlieferung der Leichen von Selbstmördern machte Gerstein besonders betroffen (Joffroy 1995: 235–237). Hier sah er ein regelrechtes Zusammenspiel der Ressentiments von Kirchen, Behörden und Angehörigen am Werk, diese Leichen „bequem, ohne allzuviel Aufhebens ziemlich sang- und klanglos und völlig ohne Kosten in der Anatomie verschwinden zu lassen. […] Die Anatomie macht das den Leuten zu einfach und zu billig!“ Er plädierte dafür, bei der Bestattung der Anatomieleichen die Kostenfrage hintanzustellen und suchte dafür erneut die Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie: „Gerade die neue Erkenntnis vom Wert eines jeden – und gerade des ärmsten! – Volksgenossen und des Deutschen Menschen schlechthin, des Deutschen Blutes und der Deutschen Rasse [sic!] – zwingt uns, diesen Menschen auch im Tode ihr Recht werden zu lassen“. Um die herrschenden Vorurteile gegenüber der Anatomie aus der Welt zu schaffen, gelte es den Umgang mit der Anatomieleiche sowie ihre Bestattung pietätvoll zu gestalten; der Wert der anatomischen Wissenschaft müsse sich in dieser Behandlung reflektieren: „Die Anatomie ist keine Metzgerei, sondern eine Stätte ernstester Forschung mit dem einen Ziel: Erkennen, Helfen, Helfen!“Footnote 23

Die von Gerstein angeprangerte Behandlung von Leichen in der Anatomie beschränkte sich nicht nur auf die Zustände in Tübingen. Vielmehr kritisierte er eine tradierte und verbreitete Praxis der Beschaffung und Behandlung von Leichen durch die Anatomien, welche schon immer auf Kosten der „Ärmsten der Armen“ gegangen sei. So waren es seit der Frühen Neuzeit, neben den Hingerichteten, vor allem unverheiratete Mütter und uneheliche Kinder sowie Selbstmörder, deren Leichen von den kirchlichen Verantwortlichen abgetreten wurden – im Gegenzug für die Übernahme der Transport- und Begräbniskosten sowie Stolgebühren durch die Anatomien (Stukenbrock 2003: 230 f., 237 f.). Diese auf Stigmatisierung beruhende Praxis weitete sich unter der Herrschaft des absolutistischen und des Nationalstaats graduell aus. Je mehr Personen, deren Leben oder Tod als Normabweichung verstanden wurde – darunter fielen etwa Bettler und Landstreicher, Insassen von Gefängnissen, Armen- und Arbeitshäusern sowie psychisch kranke und behinderte Menschen –, der öffentlichen Hand zur Last fielen, desto mehr Leichen gelangten theoretisch in den Einzugsbereich der Anatomien – eine Entwicklung, die sich auch in den angelsächsischen Ländern nachvollziehen lässt (Buklijas 2008: 571 f.; Feja 2014: 68; Hildebrandt 2016b: 30 f.; Ude-Koeller et al. 2012: 305; Hurren 2012; Kenny 2013). Die soziale Stigmatisierung trat im Extremfall auch noch in der Bestattung der sezierten Leichenreste durch die Anatomien zutage, wie in Tübingen, wo seit dem 18. Jahrhundert die Anatomieleichen ohne rituelle Begleitung oder Kennzeichnung tatsächlich, wie Gerstein noch 200 Jahre später brandmarkte, „verscharrt“ wurden (Mörike 1988: 39, 47).

Genau darin bestand nach Gersteins Ansicht der Grund für den legendär schlechten Ruf der Anatomie: „Man raunt sich im Volksmunde zu: Der Tote ist uff Xburg gekommen! – mit grausigen Gedanken, als geschähe dort etwas Furchtbares mit ihm, das nur durch die Anonymität der Toten fadenscheinig verdeckt würde.“Footnote 24 Tatsächlich blieb der Widerstand gegen die Sektion ebenso hartnäckig wie deren Einforderung durch die Anatomen. Um die öffentliche Hand von den Begräbniskosten zu befreien, gründeten sich im 19. Jahrhundert vor allem konfessionell geprägte Wohlfahrtsvereine, die diese Kosten übernahmen. In Wien, um auch sezierten Leichen eine anständige Bestattung zu gewährleisten, in den deutschen Ländern hingegen, um die Sektion von vornherein zu verhindern. Das führte beispielsweise in Tübingen dazu, dass die Anatomen den Staat anriefen, solche Initiativen zu verbieten (Buklijas 2008: 582 f.; Scharer 2014: 60 f.). Auf das Spannungsfeld zwischen anatomischer Praxis und gesellschaftlicher Wahrnehmung reagierte der Staat mit kompromisshaften Maßnahmen. So erließ das preußische Innenministerium 1889 die Regelung, dass nichtreklamierte Leichen an die Anatomien zu liefern seien, es jedoch den zuständigen Behörden und Trägern von Wohlfahrtseinrichtungen überlassen bleibe, die Leichen zu melden oder selbst für die Begräbniskosten aufzukommen (Viebig 2002: 135).

In den anderen Staaten des Deutschen Reichs wie auch in Österreich-Ungarn herrschten entweder vergleichbare Regelungen, oder konnte die schärfer gefassten Melde- und Ablieferungspflichten nicht durchgesetzt werden. Dies führte nahezu flächendeckend zu ernsthaften Versorgungsproblemen in den Anatomien, da gleichzeitig neue Fächer in der Medizin entstanden und etabliert wurden, die ebenfalls menschliche Leichen als Lehr- und Forschungsmaterial reklamierten. Der Staat war indes nicht bereit, den sich häufenden Forderungen der Anatomen nach einer Verschärfung der Ablieferungsregelungen oder deren effektiver Durchsetzung nachzukommen. Das bayrische Innenministerium entgegnete 1909 den wiederholten gemeinsamen Eingaben der anatomischen Institute in Erlangen, München und Würzburg, eine Ausweitung der Ablieferungspflicht sei politisch nicht durchsetzbar, „wenn nicht höchst unliebsame Erörterungen in der Oeffentlichkeit über die Verletzung der Pietät gegen Verstorbene aus den minderbemittelten Klassen gewärtigt werden wollen“Footnote 25 – neben die religiösen Motive, welche gegen die Sektion ins Feld geführt wurden, war mittlerweile die Kritik durch die Arbeiterbewegung getreten. Somit bestanden die gesellschaftlichen Ressentiments gegenüber der anatomischen Sektion ungebrochen weiter (Buklijas 2008: 597; Feja 2014: 70–72; Hildebrandt 2016a: 94; Ude-Koeller et al. 2012: 306; Viebig 2002: 137 f.).

In Tübingen trat die zwiespältige Position staatlicher Stellen im Hinblick auf das Legitimationsdefizit des anatomischen Leichenwesens besonders deutlich zutage. So musste die Württembergische Regierung 1866 dafür sorgen, dass die Anatomieleichen anständig begraben wurden. 1901 weigerte sich das Innenministerium, die bestehenden Ablieferungsregelungen zu verschärfen und riet stattdessen zur Eigeninitiative – nämlich zum „Leichenkauf“, was wiederum von der Anatomie als unerhört, sittenwidrig und unrechtmäßig abgelehnt wurde (Mörike 1988: 67 f., 95). Diese Zwiespältigkeit des Staats spiegelte sich auch in der Jurisprudenz: Eine rechtswissenschaftliche Studie aus dem Jahr 1912 charakterisierte die Requirierung der Leichen von Hingerichteten, Selbstmördern oder verarmt Verstorbenen zwar als „Expropriation“ und „Gewaltakt“, aber dennoch als uneingeschränkt rechtmäßig. Als Dienst an der Wissenschaft, „zur Förderung des ‚Salus Publica‘“ und „für die Wohlfahrt des ganzen Volkes“ seien die Körper eindeutig „der Privatrechtssphäre entrückt“ und vielmehr „Gegenstand der öffentlichen Ordnung, des öffentlichen Rechts“ – selbst der Leichenkauf wurde hier nicht kategorisch ausgeschlossen, solange der Leichenmangel in den Anatomien weiterhin bestand (Benedicter 1912: 30 f., 45 f.). Diese das Zugriffsrecht der Staatsgewalt und den Anspruch der Anatomie vorbehaltlos unterstützende Forderung unterstreicht, wie wenig die Leichenbeschaffung gesellschaftlich legitimiert war.

Weil sich der Staat unter öffentlichem Druck zunehmend weigerte, den Forderungen der Anatomen nachzukommen, und die Persönlichkeitsrechte des Verstorbenen vor deren expansiven Ansprüchen verteidigte (Noack & Heyll 2006: 134–136), gingen die Anatomen tatsächlich zu einer Art „Leichenkauf“ über: In eigener Initiative wandten sie sich an die mit reklamierbaren Leichen befassten Behörden und Institutionen – und fielen damit gleichsam in die Verhältnisse eines ökonomisierten Leichenwesens der Frühen Neuzeit zurück. So berichtete der Direktor der Würzburger Anatomie, Hans Petersen, im Jahr 1932, dass es ihm durch jahrelanges Bemühen und finanzielles Entgegenkommen gelungen sei, die Versorgung der Anatomie mit genügend Leichen zu gewährleisten: „Tatsächlich wirken alle Behörden des Landes, Regierung, Gericht, Polizei, Kirche, bis zu den einzelnen Dorfbürgermeistern mit, um die Würzburger Anatomie mit Leichen zu versorgen“Footnote 26, weswegen Beziehungspflege und eine entsprechende finanziell abgesicherte Handlungsautonomie der Anatomien essentiell seien – sein Münchner Kollege Siegfried Mollier brachte zur selben Zeit dasselbe Argument vor (Schütz et al. 2017: 9). Als Robert Wetzel, ein Schüler Petersens, 1936 auf den Tübinger Anatomielehrstuhl berufen wurde, spielte hierfür nicht nur dessen nationalsozialistische Gesinnung eine entscheidende Rolle. Ebenso war die Hoffnung ausschlaggebend, der gebürtige Schwabe werde durch seine Kenntnisse der regionalen Verhältnisse dem Tübinger Leichenmangel ein Ende setzen, obwohl auch hier seit dem Ende des Ersten Weltkriegs Aufwandsentschädigungen an Beamte gezahlt wurden, die eine Leiche an die Anatomie meldeten (Scharer 2014: 50–53; Mörike 1988: 98).

Doppelte Wegweisung: Gersteins Reformvorschläge

Wie Gersteins Kritik an der Tradition des anatomischen Leichenwesens richteten sich auch seine Reformvorschläge gleichermaßen auf den konkreten Umgang mit dem toten Körper wie auf das grundsätzliche Problem von dessen Beschaffung. Seiner Ansicht nach konnte es nicht darum gehen, einen rechtlichen Kompromiss zwischen der gesellschaftlichen Ablehnung und dem wissenschaftlichen Bedarf zu schließen, sondern darum, eine umfassende, weil beide Standpunkte gleichermaßen berücksichtigende Lösung zu finden. Er schlug vor, „innerhalb der zwingenden Notwendigkeit – nämlich genügend geeignete Leichen für die Anatomien zur Verfügung zu stellen – das denkbar Menschenmögliche“ dafür zu tun, Sektion und Bestattung anständig und pietätvoll zu gestalten.Footnote 27 Gersteins sehr spezifische Vorschläge richteten sich auf die Bewahrung des individuellen Körpers in der Sektion und im Begräbnis: Jede Leiche müsse in einem eigenen Sarg in die Anatomie geliefert und nach der Sektion auch in diesem bestattet werden. Anstatt, wie bisher, verschiedene Leichen in einem Sarg zu transportieren, in einem Becken zu lagern, ihre präparierten Überreste in einer Schale zu sammeln und wiederum in einem Sarg zur Bestattung abzuliefern, sollten die Leichenteile in getrennten Becken aufbewahrt und nach Beendigung des Präparierkurses in den einzelnen mitgelieferten Särgen individuell bestattet werden. Anatomiebedienstete wie Studierende seien in den Präpariervorschriften „auf den Ernst des anatomischen Arbeitens, das nur unter schwersten Opfern von eigenen Volksgenossen möglich ist, noch weit mehr als bisher hinzuweisen.“Footnote 28

Ebenso grundsätzlich müsse sich die Bestattung der Leichen ändern, um den hohen Stellenwert der Pietät gegenüber den Toten in der Anatomie nach außen hin sichtbar zu machen. Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen, die Zustände auf dem Tübinger Anatomiefriedhof, bildete auch den Endpunkt von Gersteins Memorandum. Die Bestattung der individuellen Leichen solle in Zukunft „unter Anteilnahme von Vertretern der medizinischen oder auch anderer Fakultäten […] feierlich ausgestaltet werden“ – aber nicht nur die Professoren, sondern auch die Studierenden der Medizin seien durch „die gärtnerische Ausgestaltung der Anatomiefriedhöfe“Footnote 29 aktiv einzubinden. Es waren just diese Ideen, die sowohl das RMWEV als auch Emil Abderhalden, an den sich das Ministerium für ein Gutachten gewandt hatte, als irreale Fantasien abtaten.Footnote 30 Jahrzehnte später sollten jedoch genau solche Ansätze dazu beitragen, das kaum funktionale Verhältnis zwischen Staat und Anatomie positiv aufzulösen. Wie Gerstein seine Vorschläge zusammenfassend begründete, sei es unumgänglich, dass

sich im Lande herumspr[icht], daß hier nicht „gemanscht“ wird, sondern daß hier alles mit äusserster Gewissenhaftigkeit, Pietät und Feingefühl zugeht. Es muß einmal dahin kommen, daß sich eine genügende Zahl geistig grosszügiger Menschen findet, die – vielleicht nach einem schweren geistigen Ringen! – bereit ist, ihren Mitmenschen und der Wissenschaft diesen unentbehrlichen Opferdienst zu tun.Footnote 31

Gerstein schwebte eine Anatomie vor, die sich durch Transparenz und eine öffentliche Würdigung der ihr zur Verfügung stehenden Leichen von der zwangsläufigen Ausbeutung der „Ärmsten der Armen“ lösen, sich stattdessen das Vertrauen der Gesellschaft erarbeiten und einen daraus resultierenden freiwilligen Beitrag zur anatomischen Arbeit verdienen würde. Ein auf individueller Einsicht und Willenserklärung zur Spende des eigenen Körpers nach dem Ableben beruhendes Leichenwesen stellte nicht nur die logische Konsequenz seiner Kritik an den herrschender Zustände dar, sondern nahm bereits zukünftige Verhältnisse vorweg. Verfügungen über die Spende des eigenen Körpers an die Anatomie sind zwar schon seit der Frühen Neuzeit verschiedentlich dokumentiert; der Hallesche Anatom Wilhelm Roux versuchte nach dem Ersten Weltkrieg sogar öffentlich für Körperspenden zu werben, indem er per Zeitungsannonce dazu aufrief (Benedicter 1912: 28; Mörike 1988: 97; Viebig 2002: 139 f.). Doch handelt es sich hierbei um Ausnahmen, welche nur die Regel, das von Gerstein kritisierte Beharrens der Anatomen auf ihrer Tradition der Leichenbeschaffung, bestätigten. Es waren nicht die Anatomen, die eine Transformation des Leichenwesens forcierten, sondern der Staat, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg sukzessive seiner Mitverantwortung entzog. So wurden etwa in Bayern die Ablieferungsvorschriften 1960 endgültig außer Kraft gesetzt. Das bayrische Innenministerium berief sich dabei auf die Tatsache, dass weder „rechtlich fragwürdige Weisungen“ noch „Empfehlungen an Gemeinden und Anstaltsleitungen“ von Seiten des Staats das Problem der Leichenbeschaffung gelöst hätten und auch nicht lösen könnten, „sondern daß es einer geeigneten Aufklärung der Bevölkerung bedarf […]. Die frühere Art der ‚Versorgung‘ der Anatomien mit Leichen trug aber zu sehr polizeilichen Charakter.“Footnote 32

Tatsächlich wandten sich daraufhin die Direktoren der anatomischen Institute in Erlangen, München und Würzburg mit einer von Ministeriumsseite unterstützen Informationskampagne an die Öffentlichkeit. Schon 1961 konnte das bayrische Innenministerium den durchschlagenden Erfolg dieses Richtungswechsels, der ihm vom Münchner Professor Titus von Lanz mitgeteilt worden war, auch den Ministerien der anderen Bundesländer berichten: „Das Anatomische Institut verfüge gegenwärtig […] über mehr Leichen als seit Jahrzehnten. Darüber hinaus seien fast 200 letztwillige Verfügungen zugunsten der Anatomie beurkundet worden.“Footnote 33 Auch in anderen Bundesländern ging die Verantwortung für die Leichenversorgung nach dem Zweiten Weltkrieg sukzessive auf die Anatomien über, die mit Aufklärung und Transparenz weitaus mehr Erfolg hatten als mit der tradierten Mischung aus staatlichem Zwang und ökonomischem Anreiz (Brehm et al. 2015: 106; Hildebrandt 2016a: 96; Kaiser & Gross 2015: 21; Mörike 1988: 147). In der DDR wurde die Möglichkeit der Körperspende nicht in vergleichbarem Maß kommuniziert und deswegen mit der historischen Vorstellung vom „Leichenkauf“ identifiziert, wodurch das Leichenwesen insgesamt seine anrüchige Aura behielt – es basierte weiterhin vorrangig auf der „Zwangsrekrutierung [der] Leichname armer und einsamer Menschen“ (Feja 2014: 97) – und folglich auch der traditionelle Mangel bestehen blieb.

Gersteins Vorstellung eines auf Körperspenden beruhenden Leichenwesen erfüllte sich zwar, jedoch nicht aufgrund der von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen. Die Separierung der Leichenreste in getrennten Sammelbehältern und Särgen, also die Bewahrung der Integrität der Leiche auch im Zuge der Präparation, wurde etwa in München erst Mitte der 1990er Jahre eingeführt – auf Wunsch der Studierenden hin.Footnote 34 Gedenk‑, Dankes- oder Aussegnungsfeiern zum Semesterende unter Beteiligung von Fakultät und Studierenden begannen in der Bundesrepublik Mitte der 1960er Jahre, als die Tübinger Anatomie ihre aus dem Jahr 1497 stammende, kurzlebige Tradition einer feierlichen Bestattung der Anatomieleichen wiederentdeckte (Mörike 1988: 16, 151). Heute gibt es an fast allen Medizinischen Fakultäten in Deutschland solche Feierlichkeiten, die in fast einem Viertel der Fälle hauptverantwortlich von den Studierenden organisiert werden (Pabst et al. 2017: 20). Insofern haben sich Gersteins Vorschläge einer individuellen Würdigung der Leichen in der Sektion und im Begräbnis, welche die negative Wahrnehmung der Anatomie beseitigen und ein Leichenwesen ermöglichen würde, das nicht auf Ausbeutung, sondern auf Freiwilligkeit beruht, als sehr weitsichtig erwiesen. Was sich hingegen nicht durchgesetzt hat, ist sein Vorschlag einer von den Studierenden besorgten Grabpflege, der er den „grösste[n] volkserzieherischem Wert“Footnote 35 beimaß.

In Gersteins Idee vom Zweck und von der Ausgestaltung des Anatomiebegräbnisses drückt sich exemplarisch sein ambivalentes Verhältnis zum Nationalsozialismus aus. Denn sein Vorschlag erinnert mehr an den nationalistischen Gefallenenkult in Deutschland infolge des Ersten Weltkriegs als an jene Zukunft einer pietätvollen Würdigung des Einzelnen, die er sonst so weitsichtig skizziert hatte. Gerstein schlug vor, „überall die Anatomiefriedhöfe in hervorragende gärtnerische Pflege und Gestaltung zu nehmen und überall einen schönen Stein in der Mitte aufzustellen“.Footnote 36 Auch von Art („Findling“) und Beschriftung der Steine hatte Gerstein konkrete Vorstellungen:

Verse

Verse Diese Menschen liehen ihre toten Leiber Den Mitmenschen zur Heilung und Genesung, der Forschung zur Klarheit, der Wissenschaft zur Erkenntnis. + Ehre ihrem Opfer!Footnote

Ebd. (Hervorh. i. O.).

Es ist nicht nur das Bedürfnis, dem Tod als „Hingabe“ und „Opfer“ des Einzelnen für den Fortbestand der Gemeinschaft einen Sinn zu verleihen und durch diese Eingemeindung des Toten gleichsam den Tod zu transzendieren, was in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg mit unübersehbar aggressiv-revanchistischer Stoßrichtung gepflegt wurde. Gersteins konkrete Ausmalung des idealtypischen Anatomiefriedhofs, von der vom Volk initiierten und geleisteten Pflege über die Verschmelzung von christlicher und germanischer Symbolik, die Einbettung in die Natur, den Gedenkspruch und den Findling bis hin zum nationalistisch-egalitären, weil soziale Unterschiede posthum einebnenden Charakter der Grabstätte, entspricht exakt der Anlage und Organisation deutscher Soldatenfriedhöfe, wie sie infolge der Niederlage von 1918 konzipiert und realisiert wurden (Mosse 1993: 98–111; Koselleck 1998: 36 f.).

Gersteins Betonung des Opfers findet sich auch in einem Kondolenzbrief von 1943 an Otto Oertel, Sohn des gleichnamigen Tübinger Anatomen, dessen Bruder Ernst den „Heldentode“ im Weltkrieg gestorben war: „Wenn ich je bei einem so jungen Menschen […] den Eindruck von einer ganz ausgeprägten Führernatur gehabt habe, dann beim Opfer, Hingang und Heimgang Eures Bruders Ernst.“Footnote 38 Der auch an diesem Beispiel deutlich werdende Wunsch nach postmortaler Sinngebung und Vergemeinschaftung des Toten war das zentrale Motiv von Gersteins Vorschlägen zur Reform des Umgangs mit der Anatomieleiche – der Prozess sozialer Exklusion, an dem so viele Verstorbene zu Lebzeiten laboriert hatten, durfte nicht noch in der Sektion und dem anonymen „Verscharren“ fortgeschrieben wurde. Doch nahm Gerstein eine spezifische Gruppe von dieser postmortalen Sinnstiftung aus:

Eine Sonderstellung könnten die Leichen der Hingerichteten – insbesondere der wegen Landesverrats Hingerichteten – einnehmen, weil diese sich ausserhalb der Volksgemeinschaft gestellt haben und damit das Recht auf volksgenössische Behandlung verwirkt haben. Sie könnten zur Herstellung von Spiritusdauerpräparaten und Ähnlichem verwendet werden.Footnote 39

Der Vorschlag, Hingerichtete umstandslos der Anatomie zur Verfügung zu stellen, verwundert in der Gesamtschau des Memorandums als Befürwortung genau jener Tradition des anatomischen Leichenwesens, die Gerstein sonst grundsätzlich infrage stellte. Geradezu regressiv ist hingegen die Idee von der Sektion als zusätzlicher Stigmatisierung und Bestrafung: Die Frühe Neuzeit kannte ein System abgestufter Todesstrafen, deren Anwendung auch von der Frage abhing, ob die Leiche des Hingerichteten als Teil der „postmortal wirksamen Strafmaßnahmen“ in die Anatomie verbracht werden sollte (Stukenbrock 2003: 230). Die Auffassung von der Sektion als zusätzlicher Bestrafung lässt sich bis in die Weimarer Republik nachverfolgen, als etwa 1932 in Freiburg an der Versorgung der dortigen Anatomie kritisiert wurde, sie bedeutete eine Gleichsetzung der Armen mit den Kriminellen, deren Leichen gleichermaßen in den Präpariersaal kämen (Hildebrandt 2016a: 94). Nach 1933 diskutierte das Reichsministerium der Justiz (RMJ) verschiedene Hinrichtungsarten, bis Hitler 1936 das Fallbeil als Standardinstrument bestimmte – doch so makaber die Abwägung des „männlichen“ Handbeils gegenüber der „seelenlosen“ Guillotine auch erscheint: die langwierigen Folterhinrichtungen der Frühen Neuzeit wurden dabei nicht eruiert (Evans 2001: 783–787). Ebenso wenig erschien die frühneuzeitliche Idee einer postmortalen Bestrafung zeitgemäß. Wie das RMJ bereits 1935 auf den dahingehenden Vorschlag des Berliner Generalstaatsanwalts klarstellte,Footnote 40 könne die „Sektion als eine Art Nebenstrafe“ nicht dazu beitragen, dem Leichenmangel abzuhelfen. Weder entspreche diese Vorstellung dem „Gedanken der Pietät gegenüber dem Toten“ noch dem deutschen oder irgendeinem ausländischen Rechtssystem, vor allem aber wäre es für die „Hinterbliebenen […] ein schwerer Schlag, wenn man den Hingerichteten als weitere Strafe der Wissenschaft überließe.“Footnote 41

Dass diese Ansicht des RMJ keineswegs so selbstverständlich war, wie es in dieser Formulierung klingt, lässt sich nicht nur an Gersteins Position ablesen, sondern auch am Verhalten der Anatomen selbst. Diese waren sehr darum bemüht, an den „Goldstandard“ (Hildebrandt 2016b: 239) ihrer Forschung und Sammlung heranzukommen. Bezeichnend ist hierfür wiederum ein Beispiel aus Tübingen: 1923 berichtete der als außerordentlicher Professor an der dortigen Anatomie lehrende Friedrich Müller von der Faszination seiner Arbeit an den Leichen Hingerichteter. Weil an deren Organen noch lange nach dem Todeszeitpunkt Reaktionen auf Reizung, rhythmische Kontraktionen und Sekretion feststellbar seien, sprach Müller davon, dass sie die Dekapitation „überleben“ und deswegen das Arbeitsmaterial des Anatomen schlechthin darstellten: „[W]er zum ersten Male in die Lage kommt, eine solche Leiche frisch durchzuarbeiten, wird erstaunt sein, welche Fülle von neuen Eindrücken sich ihm bietet, und gleichzeitig in Entzückung geraten über den ästhetischen Genuß, der ihm bereitet wird“ (Müller 1923: 7). Und diese Möglichkeit, das „lebensfrische Material“ von Hingerichteten zu studieren, forderten die Anatomen nach 1933 zunehmend ein.

Der vom NS-Regime 1935 auf dem Leipziger und 1942 auf dem Münchner Lehrstuhl installierte Max Clara verlangte, ebenso wie sein Kölner Kollege Hans Böker, eine Genehmigung zur geheimen Teilsektion solcher Leichen von Hingerichteten, die schon zur Bestattung durch Angehörige freigegeben waren (Schütz 2016: 869). In seiner Leipziger Antrittsrede monierte Clara die Tatsache, „daß alle unseren feineren und feinsten morphologischen Untersuchungsmethoden nicht am lebenden, sondern im besten Falle an überlebenden, in den meisten Fällen aber nur an abgetöteten Gewebsstückchen angewandt werden können“, und dass eigentlich „die Dynamik eines bestimmten Organs und die während des Arbeitsrhythmus der Zelle auftretenden Veränderungen am lebenden Präparat untersucht werden [sollten]. Leider ist diese Forderung bis heute nur selten überhaupt erfüllbar“ (Clara 1935: 994; Hervorh. i. O.). Clara versuchte, seinem Anspruch an histologische Exaktheit insofern nachzukommen, als er in Leipzig wie in München Hinzurichtenden synthetische Ascorbinsäure verabreichen ließ, um den Nachweis von Vitamin C in menschlichen Organen zu spezifizieren (Winkelmann & Noack 2010; Schütz et al. 2014). Sein Frankfurter Kollege Hans Schreiber ließ „überlebend[e]“ Leichen kurz nach der Hinrichtung „im Stehen“ fixieren, um „die makroskopischen Verhältnisse so festzuhalten, daß sie der Situation in vivo entsprechen“ (Schreiber 1939: 154).

Das zunehmende Auseinanderdriften von methodischer Achtsamkeit und moralischer Bedenkenlosigkeit unter den Anatomen verschärfte sich zusehends, als sich die Leichenbeschaffung aus den Zentralen Hinrichtungsstätten des „Dritten Reichs“ mit Beginn des Zweiten Weltkriegs und dem massiven Anstieg an Verurteilungen und Vollstreckungen zu einem präzedenzlosen Überfluss entwickelte (Hildebrandt 2016b: 306–308; Evans 2001: 855 f.). Zusätzlich erwirkten die Anatomen Lieferungen aus den Konzentrationslagern, etwa in Hamburg, oder aus den Tötungszentren der „Aktion T4“, wie in Würzburg, oder aus Kriegsgefangenenlagern, wie in Innsbruck (Rothmaler 1990: 86 f.; Blessing et al. 2012: 283 f.; Czech 2015: 161 f.; Hildebrandt 2016b: 188 f.). In die Tübinger Anatomie wurden allein 16 Hingerichtete aus dem KZ Welzheim geliefert, in dem Kurt Gerstein 1938 für sechs Wochen interniert worden war (Schönhagen 1987: 70). Die Position der Anatomen gegenüber dem Staat veränderte sich unter diesen gewaltsamen Verhältnissen grundlegend. Vom Bittsteller mutierten sie zu einem nahezu unverzichtbaren Bestandteil des Hinrichtungsprozesses, da sie die Behörden von der Last massenhafter Bestattungen befreiten (Schütz 2016: 870 f.). Dies wäre vor 1933, ja noch vor 1939 unvorstellbar gewesen. Die Hinrichtungsjustiz überlagerte das tradierte Leichenwesen vollkommen. Nach dem Krieg konstatierte etwa der Direktor der Anatomischen Anstalt München, Robert Heiß: „Die Bestimmungen über ablieferungspflichtige Leichen sind in den Jahren des nationalsozialistischen Regimes in Vergessenheit geraten, weil der Anfall von Leichen Justifizierter so groß war, dass auf andere anatomiefähige Leichen verzichtet werden konnte.“Footnote 42

So war es gar nicht notwendig, Kurt Gersteins Vorschlag einer postmortalen Exklusion des Hingerichteten per Sektion formell zur Anwendung zu bringen. Was Gerstein als Ausnahme betrachtet hatte, wurde unter nationalsozialistischen Verhältnissen zur Regel und lenkte das anatomische Leichenwesen weiter in die Arme der Zwangsgewalt des Staats, bevor es sich nach 1945 langsam – und unfreiwillig – in die Eigenverantwortlichkeit und somit in jene Richtung entwickeln konnte, die den Haupttenor seines Memorandums ausmachte.

Ausblick

Als Oberregierungsrat Scheer am 20. August 1938 Kurt Gerstein zu einer persönlichen Besprechung ins RMWEV einlud, saß dieser gerade im KZ. Wegen Kontakten zu einem monarchistisch-antinazistischen Zirkel war Gerstein am 14. Juli erneut von der Gestapo verhaftet worden, bis zum 28. August blieb er in Welzheim interniert (Schäfer 1999: 118 f.). Von dort schrieb er seiner Frau Elfriede, das Ministerium rechne mit seinem „demnächstigen Besuch, den ich wegen der Ungewissheit der Dauer meines hiesigen oder andernortigen Aufenthalts weder zusagen noch ablehnen kann.“ Seine Frau sollte sich mit der Stuttgarter Gestapo darüber verständigen, was sie dem RMWEV mitteilen könne, damit „die Leute im Ministerium dort wissen, wo sie dran sind und notfalls allein die Sache (Anatomie-Neugestaltung) erledigen“.Footnote 43 Ob oder was dem RMWEV geantwortet wurde, ist nicht überliefert, allerdings erschien Gerstein erst ein knappes Jahr später, am 27. Juni 1939, zum persönlichen Gespräch mit Scheer in Berlin und gab Tübingen als Standort des Anatomiefriedhofs an. Als einzige praktische Konsequenz von Gersteins Eingabe erfolgte ein Anruf Scheers beim Tübinger Institutsdirektor Robert Wetzel, der versicherte, er habe den Friedhof bei seiner Berufung in den beschriebenen Verhältnissen vorgefunden, und er „befinde sich nun in einem völlig einwandfreien Zustand.“Footnote 44 Ein würdigerer Umgang mit den Leichen im Präpariersaal wurde hingegen nicht durchgesetzt, wie die ebenfalls in Tübingen studierende Charlotte Lötterle einige Jahre später erfahren musste (Hildebrandt 2016b: 264).

Mit diesem Telefonat zwischen Scheer und Wetzel nahm der Vorgang sein Ende. Gerstein selbst, der sich nach seiner zweiten Verhaftung wieder von der Medizin als Möglichkeit fortgesetzter spiritueller Führung löste, beschäftigte sich ebenfalls nicht länger mit dem anatomischen Leichenwesen. Stattdessen suchte er die erneute Kooperation mit eben jenem Regime, das ihn gerade erst hatte sechs Wochen lang im KZ internieren lassen. Euphorisch schrieb er seinen Anhängern über ein Treffen mit Vertretern nationalsozialistischer Jugend- und Erziehungsarbeit, welches ebenfalls 1939 im RMWEV stattgefunden hatte, und erörterte die Möglichkeit für sich und seine Freunde aus der evangelischen Jugendarbeit, gemeinsam mit diesen „alten Kämpfern mit dem goldenen Parteiabzeichen“ sowie „in enger Anlehnung an das Rassenpol[itische] Amt […], im Einvernehmen mit der Hitlerjugend und der Schule“ für den sexuellen Jugendschutz zu wirken. Hierfür war er bereit, die „Konfessionellei“ der eigenen Schriftenarbeit aufzugeben und sich rein als „Nationalsozialist, Idealist und Kämpfer“ der Erziehungsarbeit zu widmen.Footnote 45 Was Gerstein ab 1941 am Hygiene-Institut der Waffen-SS tat, sich nämlich endgültig von seinem offiziellen kirchlichen Engagement zu lösen und stattdessen in eine genuin nazistische Institution einzudringen, wo er seine Anhänger in Vertrauenspositionen installierte, scheint in diesem – nicht umgesetzten – Vorhaben vorweggenommen zu sein (Schäfer 1999: 134–142, 160).

Ebenfalls vorweggenommen hat Gerstein die kurz- und langfristigen Entwicklungslinien des anatomischen Leichenwesens in Deutschland. Seine doppelte Kritik an der tradierten Beschaffung von Leichen sowie des Umgangs mit ihnen in der Sektion und im Begräbnis ließ ihn einen doppelten Ausweg skizzieren, der einerseits die erste Transformation der Anatomie im Nationalsozialismus antizipierte, andererseits die zweite Transformation ab den 1960er Jahren, welche gegenläufiger nicht hätten sein können. Seine Solidarität mit den „Ärmsten der Armen“ brachte eine umfassende Pietät gegenüber den Toten zum Ausdruck und brach mit der anatomischen Tradition, die auf ein neues Fundament des informierten Vertrauens gestellt werden und dadurch das gesellschaftliche Ressentiment widerlegen sollte. Der Ausschluss der Hingerichteten davon, das Verlangen nach deren postmortaler Bestrafung radikalisierte hingegen eine staatlich sanktionierte und durchgesetzte Leichenbeschaffung, welche auf sozialer Exklusion aufbaute und dem Verlangen nach Ehrerbietung vor den Toten entgegenstand. Hier spiegelt sich wiederum ein zentrales Moment von Gersteins Biografie wider, nämlich der wiederholte Versuch, seine persönlichen Moralvorstellungen durchzusetzen, indem er sich das Vertrauen des Regimes erkaufte: durch die Denunziation jüdischer Kondomfabrikanten, das Abschwören von der „Konfessionellei“ oder eben den Ausschluss der als „Verräter“ hingerichteten aus seinem Pietätskonzept. Darin wird eine wesentliche Erfahrung des Nationalsozialismus sichtbar, die Kurt Gersteins persönliche mit der Geschichte der Anatomie verbindet: dass Mitmachen immer auch Mittäterschaft bedeutete.

Danksagung

Herzlichen Dank an Sabine Hildebrandt (Boston) und Andrea Kirchner (Jerusalem) für wichtige Anmerkungen und Kommentare sowie an die Münchner Universitätsgesellschaft e. V. für die Förderung der Recherchen.