Ludwik Flecks Theorie des Denkstils und Denkkollektivs zählt heute zu den einflussreichsten Konzeptionen der Wissenschaftsforschung, Wissenssoziologie und historischen Epistemologie.Footnote 1 Lange Zeit allenfalls als Fußnote zu Thomas Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen betrachtet,Footnote 2 ist sein Ansatz seit den 1990er Jahren zusehends auch jenseits der disziplinären Grenzen von Wissenschaftssoziologie und -geschichte geradezu kanonisch geworden und stellt heute einen wichtigen Bezugspunkt kulturwissenschaftlicher Forschung, insbesondere der Medien-, Kunst- und Literaturwissenschaften dar.Footnote 3 Dies betrifft nicht nur Flecks Überlegungen zu Rolle und Status des Experiments im Forschungsprozeß, sondern vor allem auch seine Ausführungen zur sozialen Dimension der Erkenntnis: der perspektivischen Konstruktion von Wissen im Rahmen lokaler Wissenskulturen, den situationsgebundenen kollektiven Dynamiken der Wissensproduktion, der Ausbildung der wissenschaftlichen Sprache und der Rolle forschungsleitender Metaphern, der Wechselwirkung zwischen Beobachter, Instrument und Denkkollektiv, oder der sozialen Entstehung diskursiver und praktischer Routinen, die zu Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsgewohnheiten gerinnen.

Angesichts der Fruchtbarkeit seines Ansatzes für aktuelle Forschungen ist es wenig verwunderlich, dass Fleck auch selbst verstärkt zum Gegenstand wissenshistorischer Studien geworden ist. Den Ausgangspunkt bildeten Arbeiten zum medizinhistorischen Kontext der Fleck’schen Epistemologie. Ilana Löwy hat bereits 1990 in ihrer einschlägigen Studie zur Polnischen Schule der Philosophie der Medizin gezeigt, dass sich Flecks Epistemologie aus einer dort um 1900 vorherrschenden ästhetisch-wissenschaftlichen Tradition speist, die klassische Untersuchungsmodelle und Wissenschaftsauffassungen der Medizin hinterfragte. Ein Angriffspunkt war zum Beispiel die Abstraktheit der Begriffsbildung in der Medizin – ein Thema, das auch Fleck in seinem ersten theoretischen Text „Über einige spezifische Merkmale des ärztlichen Denkens“ (Fleck 2011 [1927]) aufgriff. Die Beiträge eines 2004 erschienenen Sonderhefts zu Fleck und den biomedizinischen Wissenschaften knüpfen hier an (Löwy 2004), indem sie Flecks Epistemologie in seiner wissenschaftlichen Erfahrung zwischen Bakteriologie und Immunologie verankern. In diesem Zusammenhang sind auch die politisch-epistemologischen Dimensionen des Fleck’schen Ansatzes thematisiert worden, die in seiner Argumentation gegen die realistische Ontologie, die den seit Ende der 1920er Jahre vermehrt auftauchenden Diagnosen einer Krise der Wirklichkeit zugrunde lag, zum Ausdruck kommen (Borck 2004). Flecks unter dem Eindruck des Nationalsozialismus entwickelte Forderung nach einer demokratischen Wissenschaft verdeutlicht die politische Dimension seiner Epistemologie, deren Bedeutung vor dem Hintergrund der Debatten der 1930er Jahre um ‚deutschen‘ und ‚jüdischen‘ Denkstil besonderes einsichtig wird (Berg 2011).

Während die genannten Studien stets auch besonderes Augenmerk auf Flecks Verhältnis zu zeitgenössischen wissenschaftsphilosophischen und erkenntnistheoretischen Positionen gelenkt haben, sind einige andere Wissensfelder, die entscheidend für die Herausbildung seiner epistemologischen Ansichten zur kulturellen Formung von Wahrnehmung, wissenschaftlichen Theorien und Praktiken waren, bisher noch kaum analysiert worden: die Soziologie, die Ethnologie und die Gestaltpsychologie.Footnote 4 Das vorliegende Themenheft macht es sich zur Aufgabe, diesen Ansätzen Fleck’scher Epistemologie nachzugehen und beschäftigt sich mit den wissenschaftlichen Praktiken und Lektüren, die für die Ausformung seiner Denksoziologie relevant waren. Gewissermaßen mit Fleck selbst fragen wir, ob sich im spezifischen Kontext etwa des psychologischen und soziologisch-kulturanthropologischen Diskurses der 1920er Jahre Leitvorstellungen oder „Prä-Ideen“ (Fleck [1934] 2011: 202) von der sozialen Bedingtheit von Wissen ausmachen lassen, die seine Theorie unbewusst orientieren? Oder, ob das intellektuelle Lemberger Leben der Zwischenkriegszeit einen dichten Wissens- und Kommunikationsraum bildete, innerhalb dessen intrakollektive Ideenzirkulationen zur Formierung eines sozialkonstruktivistischen Denkstils führten? Im Mittelpunkt unseres Interesses steht die Entdeckung der sozialen Bedingtheit wissenschaftlicher Erkenntnis, wie sie sich mit den Begriffen des „Denkkollektivs“ und des „Denkstils“ verbindet, der soziologische und ethnologische Blick also auf die eigene Wissenschaftskultur und auf ihre Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten. Ziel ist es, spezifische historische Konstellationen nachzuzeichnen, aus denen heraus sich Flecks Hinwendung zum „sozialen Moment“ (Fleck 2011 [1929]: 53) des Wissens besser deuten lässt.

So erklärt Fleck am Beispiel der Geschichte der Entstehung der Wassermann-Reaktion und seiner eigenen Forschungspraxis, wie Experimentalräume als Kulturräume funktionieren, wie soziale Praktiken, Routinen und Rituale sowie das sich im Kollektiv vollziehende gestaltende Sehen wissenschaftliche Entdeckungen als Tatsachen fixieren. Entscheidend ist für ihn, dass es soziale und kulturelle Mechanismen sind, die die wissenschaftliche Tatsachenproduktion bestimmen, etwa durch unbewusste Gruppendynamiken, „die Last der Tradition und das Gewicht der Erziehung“ (Fleck 2011 [1929]: 52). Damit zeigt er, dass das wissenschaftliche Kollektiv nicht anders als andere soziale Kollektive funktioniert: es bildet einen eigenen Weltzugang heraus, der habitualisiert und tradiert wird (vgl. Kleeberg 2012: 21 f., 47–53).

Die Konsequenzen sind seinerzeit radikal, denn so werden Forschungsprozesse nicht primär aus einer Logik der Entdeckung, von neutralen Beobachtungen, Beschreibungen und Deduktionen heraus erklärt, sondern gerade die spielerischen, unbewussten und dynamischen Vorgänge und Stimmungen innerhalb von Forscherkollektiven hervorgehoben und so ein prä- beziehungsweise irrationales Moment zur tragenden Kraft erklärt: „Unter diesen Bedingungen ist der Erkenntnisinhalt – im großen und ganzen – als freie Kulturschöpfung zu werten. Er ähnelt einem traditionellen Mythus“ (Fleck 2011 [1929]: 52).

Damit wendet Fleck die ethnographische Perspektive auf die eigene Wissenschaftspraxis an, befremdet die eigene Kultur:Footnote 5 Wie im von Émile Durkheim und Lucien Lévy-Bruhl beschriebenen primitiven Denken spielt auch in den Wissenschaften der Denkzauber von Kollektivvorstellungen eine Rolle. Ähnlich wie Malinowski (vgl. Stagl 1993, Gonzalez/Ou 1995) macht Fleck darauf aufmerksam, dass auch wissenschaftliche Denk- und Verhaltensweisen immer in Relation zum gegebenen Kultursystem stehen und deshalb funktionsanalytisch untersucht werden müssten, wobei Malinowski primitive von höher zivilisierten Kulturen unterschied (vgl. Werner in diesem Heft). Diese Hierarchisierung gibt Fleck auf und verdeutlicht anhand der Kultur der Serologen, dass auch die moderne europäische Wissenschaft von rituellen Praktiken, Initiationsriten und Einweihungsritualen sowie ästhetischen und psychischen Faktoren abhängt. Damit positioniert er sich innerhalb pluralistischer, eine gleichberechtigte Existenz verschiedener Wirklichkeiten anerkennender Konzeptionen der Lemberger Kunst- und Avantgardebewegung (Werner 2011).

Hinsichtlich der Erklärung der Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache, Theorie oder eines epistemischen Objekts wiederum bringt Fleck Konzepte des Etwas-als-Etwas-Sehens ins Spiel, verweist auf psychische Prozesse und (kognitive) Praktiken der Arretierung un- beziehungsweise unterbestimmter Sinnesdaten, vager Realitätszugänge oder des Gestaltwechsels wahrgenommener Gegenstände. Dabei stellt er fest, dass sich auch die Wissenschaften anhand ihres jeweiligen Stils unterscheiden lassen (Zittel 2011). Dieser sei ein am Denken und Wahrnehmen sichtbar gemachter sozialer und ästhetischer Zwang, weshalb man „über die Wissenschaft nur so sprechen [kann], wie wir das Wort ‚die Kunst‘ verwenden, um das Gemeinsame in den Bestrebungen von Musik, Malerei und Dichtung zu belegen“ (Fleck 2011 [1946]: 369). Herausgefordert durch gestaltpsychologische Ansätze stellt er heraus, dass sich die wissenschaftliche Beobachtung nur unter Bezug auf spezifische Kulturtechniken und Fähigkeiten, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen, fassen ließe (Fleck [1935] 2011). Nachdem Hagner (2010) Flecks Position als „skopische Epistemologie“ bereits im Zusammenhang mit den Wahrnehmungstheorien des Wiener Kreises und der Gestaltpsychologie behandelt hat, liest Zittel (in diesem Heft) Fleck vor dem Hintergrund der sehr unterschiedlichen zeitgenössischen Strömungen der Gestaltpsychologie als einen alternativen Entwurf einer Theorie des Gestalt-Sehens. In diesem verbinden sich Gestaltpsychologie und Denksoziologie, wenn Fleck betont, dass die Kenntnis einer Gestalt die Disposition schaffe, „sie wahrzunehmen (Wahrnehmungsbereitschaft), deren Stärke bei verschiedenen Menschen verschieden ist, abhängig unter anderem vom Ausbildungsgrad auf diesem Gebiet“ (Fleck [1947] 2011: 395, Hervorhebung im Original). Es sind solche Sehgewohnheiten, die Fleck auf die „Schablone des Kollektivs“ als dem „dritten Glied“ zwischen Subjekt und Gegenstand zurückführt (ebd.: 411).

Kulturelle Wahrnehmungsdispositionen formen auch spontan entstehende Prä-Ideen, mit denen sich nicht nur die Frage nach der Entstehung, Entwicklung und Veränderung wissenschaftlicher Theorien und Gegenstände, sondern auch danach, wie sie innerhalb bestimmter Kollektive verankert und disziplinär verfestigt werden, verbindet. Fleck bringt hier (Fleck 1980 [1935]: 37–39) ein heuristisches Modell in Anschlag, das synchrone und diachrone Betrachtungsweisen miteinander verknüpft (vgl. Werner/Zittel 2011: 22): Er geht unter anderem davon aus, das kulturelle Leitvorstellungen die wissenschaftliche Forschung häufig unbewusst orientieren. Damit folgt er zeitgenössischen Vorschlägen einer Soziologisierung des Denkens, wie sie bereits Egloff (2007) überblicksartig zusammengestellt hat und die Pels (1996) am Beispiel des von Karl Mannheim zu Beginn der 1920er Jahre in die Wissenssoziologie eingeführten Denkstilbegriffs näher erläutert hat. Flecks Einsicht, dass Denken eine sich kollektiv abspielende Tätigkeit ist und Entdeckungen nicht von isolierten Forschern, sondern von denkstilgebundenen Gruppen erzeugt werden (vgl. Fleck 2011 [1935]: 232), bringt Eva Johach in ihrem Beitrag in diesem Heft enger mit Ludwig Gumplowiczs Entindividualisierung des Denkens in Zusammenhang. Dessen deterministisches Konzept einer Assimilation individuellen Denkens an das Kollektiv teilte Fleck allerdings ebenso wenig, wie er das soziale Moment mit Tadeusz Bilikiewicz einfach ideengeschichtlich erklärte. Vielmehr stand für Fleck insbesondere die kollektive Dynamik im Zentrum, die „Verdichtung“ beziehungsweise „soziale Verstärkung“ der Prä-Ideen in spezifischen Umwelten via intrakollektiver Zirkulation und ritueller Praktiken. Infolgedessen wird im Denkkollektiv ein gemeinsames Meinungs- und Überzeugungssystem hin zu passiven Koppelungen herausgebildet, die Sinneserfahrungen der Mitglieder eines Denkkollektivs werden zwangsläufig verschränkt und zu Tatsachen erhärtet. Wie Julian Bauer in seinem Beitrag näher ausführt, ergeben sich damit interessante Parallelen sowohl zu Jakob von Uexkülls Umwelttheorie als auch zu zeitgenössischen Überlegungen zu Suggestionskollektiven, steigern sich Wilhelm Jerusalems soziale Verdichtungen zu Flecks Konzept der sozialen Verstärkung. Über Jerusalem, dessen besondere Bedeutung für die historische Epistemologie jüngst Uebel (2012) mit Bezug auf Fleck erschlossen hat, wird dessen Idee der Verdichtung von Vorstellungen im Denkverkehr einer sozialen Gruppe selbst als eine tradierte Prä-Idee erkennbar, die dem Diskurs der Völkerpsychologie und der frühen Soziologie entstammt. Rainer Egloff folgt dieser von Moritz Lazarus und Georg Simmel ausgelegten Fährte und beleuchtet die Verdichtung von Denkkollektiven über den Denkverkehr als Form der Vergesellschaftung. Ebenfalls vor dem Hintergrund der Völkerpsychologie spitzt Michael Neumann diesen Zusammenhang noch weiter zu, indem er die kulturmorphologische Perspektive der Fleck’schen Denksoziologie herausarbeitet und zeigt, dass Fleck die Entstehung von Wissen nach dem Modell mündlicher Kommunikation denkt und dass seine Erkenntnistheorie – mit allen Konsequenzen – vor allem eine Kommunikationstheorie ist. Wie Fleck unter Berufung auf Gumplowicz ausführt, ist das, was

im Menschen denkt, […] gar nicht er, sondern seine soziale Gemeinschaft. Die Quelle seines Denkens liegt gar nicht in ihm, sondern in der sozialen Umwelt, in der er lebt, in der sozialen Atmosphäre, in der er atmet. (Fleck 1980 [1935]: 63 f.)

Entsprechend fokussieren alle im folgenden versammelten Beiträge zeitgenössische Überlegungen zur kulturellen Dynamik und Perspektivität von Wissen, die Aussagen wie jener Flecks Pate standen, es gäbe in „der Naturwissenschaft […] gleichwie in der Kunst und im Leben keine andere Naturtreue als die Kulturtreue“ (Fleck 1980 [1935]: 48).