Jede einmal begonnene Meßreihe wird durchkämpft, auch wenn sie noch so hoffnungslos aussieht. Man kann ja auch aus einem mißglückten Versuch viel neues lernen. (Geiger 1933: 164)

Das Geiger-Müller-Zählrohr wurde im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts zu einem etablierten Messinstrument der Radioaktivitätsforschung. Es markiert den Beginn der Nutzung von elektrisch verstärkten Zählmethoden für radioaktive Strahlung, von denen zuvor nur α- und β-Partikel elektrisch über Spitzenzähler oder optisch über Spinthariskope registriert werden konnten. Mit dem Geiger-Müller Zählrohr war es hingegen möglich, γ-Strahlung zu erfassen und damit die von Werner Kolhörster seit Anfang der 1920er Jahre erforschte und 1926 publizierte Auswirkung der kosmischen Strahlung auf Meeresniveau zu belegen (Kolhörster 1926).

Vor 1930 hatten Zählrohre nicht, wie heute üblich, ein Glimmerfenster, durch das α- und β-Strahlung in das Rohr eintreten konnte. In dieser komplett geschlossenen ursprünglichen Form konnte nur γ-Strahlung, die auf das negative geladene Gehäuse auftrifft, auf der Innenseite des auf wenige Millibar Druck evakuierten Zählrohrs Elektronen auslösen. Durch die hohe Potentialdifferenz von etwa 1400 Volt zwischen Gehäuse und Draht werden die ausgelösten Elektronen zum zentralen Zähldraht beschleunigt. Kurz vor Auftreffen auf den Draht hat ihre Geschwindigkeit so stark zugenommen, dass sie noch verbliebene Gasmoleküle durch Stoß ionisieren können. Dabei geben sie einen Teil ihrer kinetischen Energie an die Gasmoleküle ab und verlieren dadurch an Geschwindigkeit. Die durch Stoß erzeugten negativen Ionen werden anschließend zum Draht und die positiven zur Gehäusewand beschleunigt. Auf diesem Weg können diese sekundären Ladungsträger weitere Moleküle ionisieren. Der Vorgang verstärkt sich kaskadenartig, bis der fließende Strom so groß ist, dass die Spannung zwischen Draht und Gehäuse zusammenbricht und die Entladungslawine abreißt. Insgesamt dauert dieser Prozess nur wenige Mikrosekunden und wiederholt sich bei jedem ausgelösten Elektron. Die zugehörige Anzahl an Spannungsabfällen ist damit ein Maß für die Intensität der auftreffenden γ-Strahlung. Anfang der 1930er Jahre wurde zunächst am äußeren Gehäuse ein Glimmerfenster angebracht und dann in der sogenannten Endfenster-Bauform an einer der Stirnseiten. Die elektrodynamisch effiziente zylindrische Form ist bis heute erhalten geblieben.

Trotz der ikonischen Funktion dieses Instruments im 20. Jahrhundert wurde das Geiger-Müller-Zählrohr von der Wissenschaftsgeschichte bisher nur vereinzelt zur Kenntnis genommen. Um insbesondere die apparativen und instrumentellen Aspekte des Zählrohrs näher zu untersuchen, bietet sich neben der detaillierten historischen Quellenanalyse die Anwendung der Replikationsmethode an. Deshalb werden in diesem Beitrag die Erfahrungen, die beim Nachbau von frühen Zählrohren von 1928 gemacht worden sind, im Detail dargestellt und reflektiert, sowie mit den Schilderungen von Müller in seinen Laborbüchern und diversen Briefwechseln in Beziehung gesetzt. Die Analyse und Interpretation der experimentell orientierten Arbeit mit Blick auf den historischen und wissenschaftshistorischen Kontext bilden den Schluss dieses Aufsatzes.

Geiger, Müller und das Zählrohr in der Forschungsliteratur

Wissenschaftshistorisch gibt es nur wenige detaillierte Analysen über Geiger, Müller oder das von ihnen entwickelte Zählrohr. Swinne 1988 liefert bisher die umfangreichste Materialsammlung über Geigers Leben und Werk aus verschiedensten Quellen. Daneben gibt es, abgesehen von einzelnen Einträgen in Lexika und Jahrbüchern (wie Brix 1957, Westrich 1982, Haxel 1987, Hoffmann 2004, Piel 2008), keine weiteren Veröffentlichungen zur Biographie Geigers. Grund dafür ist die mangelhafte Quellenlage, da es weder einen privaten noch wissenschaftlichen Nachlass gibt. Das wissenschaftshistorische Interesse an Walter Müller ist noch geringer. Dies liegt vermutlich daran, dass er nach 1929 von der universitären Forschung in die Röntgenröhrenindustrie wechselte und nur noch vereinzelt wissenschaftlich publizierte. Er emigrierte dann 1951 zunächst nach Australien und 1958 in die USA.

Neben prominenten Darstellungen des Zählrohrs in Lehr- und Schulbüchern der Physik liegen einzelne Monografien und umfangreichere Artikel aus den 1930er bis 1960er Jahren mit eher technischem Charakter vor (Geiger 1933, Montgomery/Montgomery 1941, Korff 1949, Curtiss 1950, Richter 1957, Rheingans 1988). Darüber hinaus haben sich zwei Autoren umfassenderer aus wissenschaftshistorischer Sicht mit diesem Instrument befasst. Während Abele 2002 vorwiegend die ikonografischen und semantischen Dimensionen des Geiger-Müller-Zählrohrs in der Nachkriegsgeschichte diskutiert, hat sich der Wissenschaftshistoriker Thaddeus Trenn in seinen frühen Aufsätzen von 1976 und 1986 bereits explizit der Entstehungsgeschichte gewidmet. Er hatte in den 1970er Jahren persönlichen Kontakt mit dem zu dieser Zeit im kalifornischen Santa Barbara lebenden Walter Müller, der ihm in Gesprächen und Briefen retrospektiv seine knapp fünfzig Jahre zurückliegenden Erfahrungen mit Geiger und der Entwicklung des Zählrohrs schilderte.

Wichtig sind darüber hinaus die Ausführungen von Hughes und Galison über das Zählrohr. Hughes hat im vierten Kapitel seiner Dissertation von 1993Footnote 1 den methodischen und apparativen Disput zwischen dem Wiener Institut für Radiumforschung unter Stefan Meyer und dem von Rutherford geleiteten Cavendish Laboratory aus grundsätzlicher Sicht dargestellt. Anlass für die wissenschaftliche Auseinandersetzung war der subjektive Charakter der optischen Zählung der Szintillationen. Diese sind vorwiegend von α-Teilchen angeregte schwache Lichtblitze, die über ein Mikroskop bei absoluter Dunkelheit damals manuell gezählt wurden. Die rasche Entwicklung der Röhren- und Verstärkertechnik habe dann, so Hughes, die elektrischen Methoden in den späten 1920er Jahre weiter gestärkt und die Szintillationsmethode in den Hintergrund gedrängt. Nicht zuletzt deswegen sei das Geiger-Müller-Zählrohr so erfolgreich gewesen, schlussfolgert Hughes. Galison sieht dagegen im Zählrohr eine Weiterentwicklung des Spitzenzählers von 1913, der dann einen der letzten Anlässe für die Debatte zwischen direkten optischen und indirekten elektrischen Zählmethoden Anfang der 1920er Jahre lieferte. Müller habe durch die systematische Arbeit am Spitzenzähler als Ursache für die vormals als Artefakte eingestuften Zählereignisse die Höhenstrahlung ausgemacht. Die rasche Weiterentwicklung der Zählmethode mittels elektrischer Verstärkerschaltungen und standardisierter Experimentalaufbauten durch Bothe, Kolhörster und Rossi habe anschließend wesentlich zur Etablierung und Stabilisierung der Messmethode beigetragen (Galison 1997: 39, 440).

Vor dem Hintergrund dieser Einschätzungen kann man sich dennoch die Frage stellen, wie das Zählrohr innerhalb weniger Monate den Status eines verlässlich funktionierenden elektrischen Messinstruments der Höhenstrahlungsforschung erlangen konnte. Außerdem ist zu klären, welche Rolle Walter Müller in der Entwicklung des Zählrohrs gespielt hat. Im Hinblick auf die schon angesprochene experimentelle Verwendung des Geiger-Müller-Zählrohrs bietet sich hierfür ein quellengetreuer Nachbau des Instruments, der Nachvollzug von damit durchgeführten Experimenten, sowie deren anschließender Analyse und Interpretation als methodisches Werkzeug an.

Zur Replikationsmethode

Sie ist mittlerweile eine etablierte Analysemethode für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung der Naturwissenschaften. Als experimentelle Herangehensweise nutzt sie die Möglichkeit der Rekonstruktion der Praxis unter Berücksichtigung des Kontexts der betrachteten Zeit. Dabei spielen insbesondere die nicht verschriftlichten Handlungspraktiken eine Rolle, die bestenfalls tradiert, aber oft erst selbst im Prozess der Konstruktion oder des Experimentierens durch die Wissenschaftler erworben worden sind. Der Nachbau von Geräten und der Nachvollzug von Experimenten ergänzt durch diesen zentralen Punkt eine rein theoretisch orientierte Arbeit in der Wissenschaftsgeschichte (Breidbach/Heering/Müller/Weber 2010: 13). Insbesondere die vorwiegend im Kreis der physikhistorischen Oldenburger Arbeitsgruppe um Falk Riess entstandenen Fallstudien von Frercks 2001, Heering (1992, 2008, 2010), Müller 2004, Sibum 1995 und Sichau 2002 zeigen eine überzeugende Anwendung dieser Methode, die sich bisher vorwiegend mit Experimentatoren aus dem 18. und 19. Jahrhundert befasst hat. Ähnlich wie die Arbeiten von Engels 2006, Lacki/Karim 2005, Makus (2002, 2003) und Panusch 2012 soll in diesem Beitrag versucht werden, die Replikationsmethode für die Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts zu nutzen und weiter zu entwickeln.

Nachbau und Nachvollzug können jedoch nur eine Annäherung an das historische Experiment darstellen. Während des gesamten Prozesses, der vom Quellenstudium über die Konstruktion des Nachbaus bis hin zum Nachvollzug der Experimente führt, wird Wissen erworben, das über die Quellenanalyse in einem direkten und für die historische Untersuchung nutzbaren Zusammenhang zum ursprünglichen Experiment gebracht werden kann (Heering 1998: 68 f.). Im Gegensatz zur klassischen Wissenschaftsgeschichtsschreibung liegt der Schwerpunkt hier auf experimentellen Gesichtspunkten. Dies erlaubt auch einen anderen Blick auf bereits erschlossenes Quellenmaterial, da die Analyse und besonders die experimentelle Arbeit des Nachbaus und des Nachvollzugs um die Rückkopplung zur Ausgangsfrage erweitert wird. Die praktische Arbeit ist zwar quellenkritisch gesehen in den meisten Fällen nicht belastbar, dennoch generiert die Laborarbeit und die detaillierte Beschäftigung mit dem Analysegegenstand Fragen, die auf Basis einer reinen Quellenexegese nicht gestellt worden wären. Deren Klärung veranlasst in aller Regel zu einem erneuten Gang ins Labor oder zur Analyse weiterer zeitgenössischer Quellen und führt damit zu einem erweiterten historischen Wissen.

Geigers experimenteller Hintergrund

Die Ereignisse, aus denen sich die Entwicklung des „empfindlichsten Organs der Menschheit“Footnote 2 ableitete und welches nach Geigers erster Charakterisierung die Höhenstrahlung auf Meeresniveau detektieren konnte, begannen schon am Anfang des 20. Jahrhunderts.

Rutherford und Geiger entwickelten 1908 nach den Curies in den 1890er Jahren (Molinié/Boudia 2009) eine der ersten Formen einer Ionisationskammer, mit der α-Strahlung quantitativ gemessen werden konnte. Die Messinstrument war im Prinzip ein evakuierbarer zylindrischer Kondensator, mit dem nicht die zweifache Elementarladung des α-Teilchens direkt, sondern dessen sekundäre Ionisationswirkung durch Stoß mit noch in der Kammer verbliebenden Gasmolekülen ermittelt werden konnte. Ziel der Untersuchung war die Bestimmung der Anzahl der von Radium ausgesendeten α-Teilchen. Die Grundlage für diese elektrische Methode schufen John Sealy Townsend und sein Schüler P. J. Kirkby. Beide hatten solche Versuche zur Stoßionisation schon wenige Jahre vorher in Oxford durchgeführt (Kirkby 1902).

Neben der Bedingung, dass das Zylindergehäuse auf negativem Potential liegen müsse, erwähnten Rutherford und Geiger folgendes Messproblem:

Under such conditions, however, it was found impossible to avoid natural disturbances of the electrometer needle. […] [They] were not numerous, but were sufficient to interfere with an accurate counting of the number of α - particles. These disturbances were inherent in the vessel and could not be got rid of by changing the pressure or nature of the gas or the diameter of the central wire. […] any change of the applied voltage, and consequently of the magnification, altered the magnitude of the natural disturbances, and the throw due to an α-particle in about the same ratio. In addition, it was observed that the number of the natural disturbances fell off rapidly with decrease of the diameter of the detecting tube. (Rutherford/Geiger 1908: 148 f.)

Als Erklärung führen sie eine leichte natürliche Radioaktivität der Messingwände der Kammer an. Die Schwierigkeit, diese Artefakte von einem tatsächlichen Effekt zu unterscheiden und richtig zu interpretieren, wurde hier das erste Mal diskutiert. Diese Frage durchzieht auch ihren späteren Artikel. Rutherford und Geiger umgingen diese Störung und die damit verbundenen Argumentationsprobleme, indem sie den Durchmesser ihrer Ionisationskammer mit zuletzt 1,7 cm entsprechend klein wählten.

Nach den Arbeiten mit Ernest Mardsen (Geiger/Mardsen 1909, 1913) zur Streuung von α-Teilchen, der Aufstellung der Geiger-Nutall’schen „Faustformel für den Laboratoriumsgebrauch“ (Geiger nach Haxel 1987: 291), die die Reichweite von α-Strahlen und die zugehörige Halbwertszeit des Radiumpräparates ins Verhältnis setzte, sowie der Veröffentlichung der Monographie Practical Measurements in Radio-Activity (Geiger/Makower 1912, [1912] 1920) kehrte Geiger schließlich als Experte für Messinstrumente des noch jungen Gebiets der Radioaktivitätsforschung 1912 nach Deutschland zurück. Dort trat er im Oktober seinen Dienst im Radioaktivitätslabor der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin an.

In seinem letzten gemeinsamen Projekt mit Rutherford beschäftigte sich Geiger Anfang des Jahres 1912 mit dem Bau eines Kugelzählers als Weiterentwicklung des elektrischen Zählers von 1908. Es gelang ihm jedoch nicht, diesen in Berlin nachzubauen. Er selbst habe den Kugelzähler als einen „Zufallstreffer“ bezeichnet (Westrich 1982: 16). Dabei ersetzte er die kugelförmige zentrale Elektrode durch eine negativ geladene zentrische Nähnadel. Der Zähler funktionierte zu Geigers Erstaunen nun auch mit positiv geladenem Gehäuse und unter Atmosphärendruck, wobei das Gerät nicht nur auf α- sondern auch auf β-Strahlung reagierte (Geiger 1913). An dem Bau des schon bald zum Spitzenzähler getauften Messinstrument waren der damals noch studentische Mitarbeiter Walther Bothe und Geigers früherer und mit ihm von Manchester nach Berlin gewechselte Kollege James Chadwick beteiligt. Beide wurden auf Grund ihrer handwerklichen und experimentellen Fähigkeiten von Geiger sehr geschätzt.

Nach dem Ersten Weltkrieg unternahm Geiger zusammen mit Bothe und dem seit 1922 ebenfalls an der Reichsanstalt tätigen ehemaligen Lehrer Werner Kolhörster erste Schritte auf dem Gebiet der Höhenstrahlungsforschung. Es folgten die Koinzidenzexperimente mit Bothe, für die dieser 1954 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. 1926 erhielt Geiger schließlich ein Angebot aus Kiel für die Nachfolge des Thermodynamikers Conrad Dieterici auf dem Lehrstuhl für Experimentalphysik.

Müller und Geiger in Kiel

Während Geiger sich schon gegen die namhaften Mitbewerber Walther Gerlach, Carl Ramsauer und Wolfgang Gaede in den Berufungsverhandlungen durchsetzen musste, studierte Walter Müller erst im zweiten Jahr Physik und Mathematik für das höhere Lehramt an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel.

Über Müllers Leben ist nicht viel bekannt. Lediglich aus einigen Selbstzeugnissen und spärlichen Berichten von Dritten lässt sich sein Schaffen in Deutschland, Australien und den USA rekonstruieren. Er bewarb sich schon vor seinem Examen 1926 erfolgreich um eine Stelle als Doktorand bei Geiger. Zu seiner ersten Aufgabe im Rahmen seiner Promotion gehörte es, Gasentladungen in einem Messingzylinder zu studieren. Er sollte herausfinden, was hieran noch untersuchenswert wäre, da Geiger, so stellte Müller später dar, in Berlin keine Zeit mehr für Gasentladungsexperimente hatte. Wie er in seinem, vermutlich um 1928 verfassten, Lebenslauf berichtete, erhielt er von Geiger „das Buch von John Sealy Townsend“ (vermutlich The Theory of Ionisation of Gases by Collision aus dem Jahre 1910) und ein Radiumpräparat.Footnote 3 Die Ergebnisse seiner Experimente, die auf der Arbeit von Townsend und dessen Schüler Kirkby aufbauten, haben schließlich Anfang 1928 für seine Dissertation ausgereicht, in der er die Rolle des positiven Ions bei der selbsttätigen Entladung in Luft (Müller 1928) in Theorie und Praxis ausführlich dargelegt hatte. Footnote 4Im April 1928 trat Müller dann als Assistent in Geigers Dienste. Für die vereinbarten drei Stunden Arbeitszeit pro Tag erhielt er ein Monatsgehalt von 150 Reichsmark. Finanziert wurde er durch die 1920 gegründete Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft.

Nach knapp drei Monaten gemeinsamer Arbeit folgte im Juli 1928 die erste der insgesamt fünf Publikation zu dem neuen Elektronenzählrohr, das schnell den Beinamen Geiger-Müller-Zählrohr erhielt. Die ersten Experimente zur Charakterisierung und Auswirkung der Höhenstrahlung auf Meeresniveau und Messungen an schwach radioaktiven Substanzen führten beide noch selbst durch. Kurze Zeit später nutzten auch Geigers ehemalige Mitarbeiter wie Bothe, Kolhörster und Chadwick sowie Bruno Rossi das neue Instrument für ihre Forschungsarbeit.

Die Entwicklung des Zählrohrs aus Müllers Sicht

Außer dem Studium von Fachliteratur und der Vergabe von Aufträgen an die Mechanikerwerkstatt hatte Müller laut eigener Aussage als Assistent von Geiger nicht viel zu tun. Folgt man der Darstellung in seinem Lebenslauf,Footnote 5 so widmete er sich erneut der Apparatur aus seiner Dissertation, um offen gebliebene Details nachträglich für sich zu klären.

Dabei wollte er der Frage nachgehen, was passiert, wenn die Spannung am Zylinder kontinuierlich und unterhalb des Funkenpotentials anliegt. Bisher hatte er diese Funkenentladungen durch den Einfluss von Radium gezielt hervorgerufen und den einsetzenden Stromfluss durch einen Schalter wieder unterbrochen. Erwartungsgemäß stellte er fest, dass bei völliger Entfernung des Radiums die auftretenden Entladungen merklich reduziert waren. Erhöhte er jedoch die Spannung in die Nähe des Funkenpotentials, traten immer noch einige wenige Entladungen in unregelmäßigen Abständen auf. Auf Grund der starken Ähnlichkeit zwischen Müllers Gerät und dessen Vorgängern (Abb. 1) wäre die erneute Wertung dieser Ereignisse als zu vermeidende Artefakte wohl legitim gewesen, die in vergleichbarer Weise auch bei anderen Geräten auftraten (Hess/Lawson 1916, Myssowsky/Nesturch 1914). Doch die Anzahl der Impulse erwies sich im Gegensatz zum umgekehrt gepolten Spitzenzähler in dieser Spannungsregion als unabhängig von der angelegten Hochspannung. Müller konnte zusätzlich zeigen, dass sie pro Minute bei seiner Ionisationskammer im Durchschnitt konstant blieb.

Abb. 1
figure 1

a: Kirkbys Ionisationskammer von 1901 (Townsend 1915: 272), b: Ionisationskammer von Rutherford und Geiger (1908: 143), c: Müllers Ionisationskammer (Müller 1928: 627) d: Müllers Zeichnung des Prototypen des späteren Geiger-Müller-Zählrohrs (mit freundlicher Genehmigung der Smithsonian Institution und H. Gillem).Footnote

Laborbuch Nr. 3 von Walter Müller, S. 21, Dibner Library of Rare Books, Smithsonian Institution Washington D.C., MSS 001707 B v.3 (im Folgenden abgekürzt: DLSI-MSS: B v.3).

In Aufbau und Funktion war Müllers neues Instrument seinen Vorgängern relativ ähnlich. Während beim Spitzenzähler aber nur Teilchen registriert wurden, die durch die kleine Eintrittsöffnung gelangten, zählte Müllers Zählrohr sekundäre Elektronen, die aus der negativ geladenen Gehäusewand durch hochenergetische β- und γ-Strahlung ausgelöst und zum Draht hin beschleunigt wurden. α-Teilchen konnten nicht registriert werden, da sie die Metalloberfläche nicht durchdrangen. Zwischen der Oberfläche oder vielmehr dem Mantel des Zählrohrs und der Anzahl der registrierten Teilchen bestand ein proportionales Verhältnis. Der Wechsel der Polarität beim Spitzenzähler und die möglichst klein gewählte Mantelfläche der Ionisationskammer von 1908 haben retrospektiv betrachtet diese nun durch Müller neu charakterisierten Zählereignisse gezielt unterbunden.

Neben Messungen der Höhenstrahlung führte Müller mit dem zum Elektronenzählrohr getauften Instrument auch Aktivitätsbestimmungen am schwach radioaktivem Kalium durch, dessen β-Strahlung bereits seit 1905 bekannt war. Die vermutete γ-Komponente konnte Müller in der Endphase seiner Experimente an nur wenigen Gramm Kaliumchlorid nachweisen (Geiger/Müller 1928a). Da schon seit Jahren keine radioaktive Substanz mehr näher klassifiziert worden war, war er begeistert von dieser Entdeckung. Wenig später stellte sich aber heraus, dass bereits kurz zuvor Kolhörster den Nachweis mit Hilfe eines Spitzenzählers geführt hatte, allerdings unter Verwendung mehrerer Tonnen Kalium aus dem Kali-Bergwerk des anhaltinischen StassfurtFootnote 7 (Kolhörster 1928).

1957 skizzierte Müller in einem Brief an Eduard Wildhagen, Zeitungsredakteur und ehemaliges Vorstandsmitglied der Notgemeinschaft, das Szenario der Versuche und betonte nur in diesem zitierten Brief ein weiteres Detail, welches er in seinem Lebenslauf von 1928 noch eher beiläufig erwähnt hatte:

Das alte Messingrohr und ein paar später hinzugekommene Brüder lagen noch herum. Die Spinnen wurden verjagt und Alkohol stellte den alten Hochglanz wieder her. Die Vakuumpumpe und ein Transformator, die auf Wanderschaft gegangen waren, wurden dem derzeitigen Besitzer wieder abgejagt. Am 4. Mai 1928 wurde dann endlich wieder eingeschaltet. Da waren dann also wieder die vielen wilden Ausschläge, die auf ihre Legitimität geprüft werden sollten, […] Ich sah mir die Sache von allen Seiten an, und dann fiel mir auf, daß die Zahl der Ausschläge auf einen Bruchteil sank, wenn ich auf der Seite zur Tür ins Nebenzimmer stand. Natürlich, Herr Klemperer arbeitete ja mit 20 Milligramm Radium, und wenn ich zwischen Radium und Rohr trat, wurde ein großer [Anteil, SK] durch mich abgeschirmt.Footnote 8

Wenige Tage später demonstrierte er Geiger diesen Effekt, der begeistert von einem neuen Instrument zur Messung der Höhenstrahlung sprach, dessen Wirkung auf Meeresniveau zu der Zeit noch sehr umstritten war. Seinen Eltern berichtete Müller diesen Erfolg in seiner für diese Briefe typischen Manier:

Es ist mir gelungen, ein elektrisches Strommessinstrument auszuarbeiten, das die 1500-fache Empfindlichkeit der bisherigen hat. […] Wir möchten hier in Kiel erst mal ein Jahr lang arbeiten, ehe wir das Ding bekannt geben, und alle anderen Institute als Konkurrenz haben. […] Es ist mir schon jetzt gelungen eine bisher zwar vermutete, aber nicht nachweisbare gemessene Strahlung des, Kaliums zu entdecken und genau zu messen. Es handelt sich um die γ - Strahlung des Kaliums. […] Eine β-Strahlung von Kalium ist übrigens seit 25 Jahren bekannt. […] Die γ-Strahlung von 1 Milligramm Radium ist so stark wie die entsprechende Strahlung von 8 Millionen Kilogramm Kalium.Footnote 9

Neben den Briefen an seine Eltern stellen die Laborbücher eine weitere und zuverlässigere Quelle für Informationen über die experimentelle Arbeit dar. So finden sich im dritten Laborbuch hinter den Skizzen vom 5. Mai 1928 Eintragungen, die nicht in Müllers Handschrift sind und vermutlich von Geiger stammen. Es handelt sich um Berechnungen der zu erwartenden Anzahl von Ausschlägen am verwendeten Elektrometer in Bezug auf die Oberfläche des Zählrohrs und dessen Raumwinkelelement. Umrahmt wird diese Berechnung von Zählungen der spontanen Ausschläge mit beispielsweise „42 in 42.4 sek. / 59 i. d. Min.“, die vergleichend zu Zählungen der Ausschläge mit einem nicht näher benanntem Präparat in 60 cm Entfernung mit „66 in 23 sek./ 172 i. d. Min.“ notiert wurden.Footnote 10 Diese Eintragungen sind auf Grund der Handschrift wiederum eindeutig Müller zuzuschreiben.

Obwohl Geiger zunächst Müller gegenüber darauf beharrt haben soll, dass die Entwicklung selbst und die Ergebnisse strikt geheim zu halten wären,Footnote 11 stellten Müller und er das Zählrohr schon am 7. Juli 1928 auf der Tagung des Gauvereins Niedersachsens der Deutschen Physikalischen Gesellschaft in Kiel vor. Im gleichen Monat erfolgte die erste Veröffentlichung über das Zählrohr (Geiger/Müller 1928a) mit Müller als Koautor. Er schrieb dazu später an Wildhagen und Trenn, er hätte kein Mitspracherecht am Inhalt dieser Artikel gehabt und diese würden daher zum Teil auch Fehler enthalten, die unter seiner Mitarbeit nicht entstanden wären.Footnote 12 Glaubt man Müllers retrospektiven Darstellungen in diesen Briefen, so lässt sich die wissenschaftliche Gemeinschaftsarbeit von Geiger und ihm in experimentelle und konzeptionelle Anteile gliedern. Letztere hätte Geiger erledigt, während Müller den experimentellen Part übernommen habe. Dass diese Einschätzung Müllers in Bezug auf sein Verhältnis zu Geiger nicht ganz tragfähig ist, zeigt ein Laborbuch, das Geigers experimentelle Anteile bei den Höhenstrahlungsexperimenten dokumentiert.Footnote 13 Allerdings handelt es sich dabei um ein gemeinschaftlich mit Geigers zweitem Doktoranden Walther Mühlhoff genutztes Laborbuch. Die erste Eintragung darin ist auf den 20. September 1928 datiert, also ein Vierteljahr nach Müllers ersten dokumentierten Experimenten zum Zählrohr. Laut Müller habe Geiger erst zu diesem Zeitpunkt eine „private Zählrohrforschung“Footnote 14 in seinem Cheflabor verfolgt.Footnote 15

Über die Beziehung zwischen Geiger und Rutherford ist leider nicht genug bekannt, um die Erfahrungen von Geiger bei Rutherford als Maßstab für seinen potentiell dominanten Einfluss auf Müller nehmen zu können. Geiger selbst berichtete über seinen Aufenthalt in England:

Während ich das Experimentieren übernahm, bereicherte Rutherford die Arbeiten mit seinen Gedanken und gab ihnen die äußere Form. Es galt ihm als selbstverständlich, daß ich in allen Publikationen meinen Namen neben den seinen setzen durfte. (Geiger nach Westrich 1982: 12)

Diese Trennung zwischen Kopf- und Handarbeit hat Geiger offenbar in Kiel fortgesetzt. Müller muss diese Rollenverteilung jedoch sehr gestört haben. Außer „schäbigstem Neid“ habe er von der Erfindung des Zählrohrs überhaupt nichts gehabt, da Geiger ihn mit grundlegenden Arbeiten zu Druck- und Spannungsverhalten des Zählrohrs beschäftigte und die Forschung auf den Gebieten verwehrte, „auf denen sich später die Physiker reihenweise mit Hilfe des Zählrohres die Nobelpreise holten“, schrieb er 1957 an Wildhagen.Footnote 16

In den zahlreichen Briefen an seine Eltern, die er während seiner Kieler Zeit schrieb, fasst Müller diese Eindrücke sehr deutlich zusammen. Als Geigers Entscheidung feststand, zum 1. Oktober 1929 nach Tübingen zu wechseln und er Müller zwar eine Übernahme in Aussicht stellte, doch – wie sich kurz vor der Abreise herausstellte – nur für 30 Mark Lohn mehr im Monat, kündigte er bereits am 18. September 1929 an:

Ich bin nämlich auf das äusserste [sic] empört, dass ich von Geiger tatsächlich in der übelsten Weise betrogen werden soll. Die Folge wird sein, dass ich zwar mit nach Tübingen gehen werde, aber bei der nächsten Gelegenheit mich verändern werde.Footnote 17

Vier Tage später konnten seine Eltern dann lesen:

Man stelle sich vor: Geiger bekommt auf meine Arbeiten hin einen Ruf und verbessert sich gewaltig. Alle Unbeteiligten verbessern sich: Zahn wird in Kiel fest angestellt, Gerthsen wird Oberassistent in Tübingen und Klemperer hat freie Bahn in Kiel zur Habilitation und vertritt im Institut mindestens für das nächste Semester. Der Posten von Gerthsen in Kiel fällt an 2 noch nicht promovierte Studenten, die jeder etwas mehr bekommen als ich. Nur ich soll unter gleichen Bedingungen für Jahre nach Tübingen. Ich finde das einfach zum Speien.Footnote 18

Müller ging nicht mit nach Tübingen und nahm zum Oktober des Jahres eine Anstellung als Physiker in der thüringischen Außenstelle der Hamburger Siemens-Reiniger-Werke in Rudolstadt an.

Nicht zuletzt an diesen in den Zitaten getroffenen Aussagen lässt sich die Urheberschaft des Zählrohrs in Frage stellen. Müller selbst hat in dieser Angelegenheit zumindest seit den 1960er Jahren nach verlorenen Rechtsstreiten, Protestschreiben und zuletzt der Patentierung und Vermarktung des Müller-Geiger-ZählrohrsFootnote 19 im Jahr 1952 in Australien resigniert, wie er gegenüber Wildhagen 1957 bekannte:

Nach gutem Brauch haben daher beide als Erfinder zu gelten, ohne dass aussenstehende Personen das Recht haben, über den Anteil jeder der Erfinder Vermutungen zu äussern. […] Der unglückliche Umstand, dass Geiger vor 12 Jahren verstorben ist, macht für mich leider eine öffentl. Erörterung recht heikel, sodass ich nur beweisbare Vorgänge in Betracht ziehen kann.

Meine Tochter warnte mich auch dringend, mit irgendwelchen deutschen Physikern Streit anzufangen, denn dann wuerden sich die letzten Geiger-Mueller-Zaelrohre auch noch in Geiger-Zaehler verwandeln.Footnote 20

Das Zählrohr in der experimentellen Praxis

Der Erfolg oder Misserfolg von Messungen mit Spitzenzähler und Zählrohr war bis in die 1930er Jahre stets vom Geschick und der experimentellen Erfahrung der jeweiligen Konstrukteure oder Benutzer abhängig. Besonders beim Spitzenzähler konzentrierte sich das notwendige Wissen vorwiegend auf den engeren Mitarbeiter- und Kollegenkreis von Geiger. Es erscheint daher paradox, wenn rückblickend gerade die Einfachheit der Zählapparatur, wie hier von Bothe die des Spitzenzählers, betont wird:

Zu den nachhaltigsten Eindrücken des Verf. aus der ersten Zeit seiner Arbeit bei Geiger gehört es, wie man mit den einfachsten Handwerksgriffen aus einigen Stücken Messingrohr, Wollastondraht, Hartgummi, Klebwachs, einer Nähnadel, einer ‚Elektrisiermaschine’ und einem Tuschestrich auf Papier eine Vorrichtung aufbauen konnte, mit der man α- und β-Teilchen zählen konnte. (Bothe 1942: 594)

Bothe, der in seinem Buch Der Physiker und sein Werkzeug bei der Beschreibung von Geigers Labor gerade die Nutzung von Alltagsmaterialien hervorhob und dabei die verschiedene Gegenstände wie eine Einkaufsliste aneinanderreihte, erschienen die Probleme, die beispielsweise Rutherford und Meitner mit dem Spitzenzähler und später dem Zählrohr hatten, vergleichsweise banal. Rutherford war laut Müllers Aufzeichnungen der Erste, der bereits 1928 von Geiger ein Zählrohr erhielt. Doch hatte es schon nach kurzer Zeit seinen Unterdruck verloren und in Cambridge versagt. Auch Meitner, Bothe und Hahn gaben häufig die Dichtigkeit als eines der großen praktischen Probleme der Zählrohre an (Abele 2002: 48 f.).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Müller recht schnell nach Abschluss seiner Dissertation das neue Elektronenzählrohr entwickelte. Geigers Mitarbeit begann nachweislich erst etwa fünf Monate nach Entwicklung des Prototypen. Zudem traten vermehrt in der Geschichte der elektrischen Zählmethoden seit der Ionisationskammer von Rutherford und Geiger 1908 nicht deutbare Messartefakte auf, deren Vermeidung eine wichtige Rolle einnahm. Besonders die Probleme Dritter vermitteln den Eindruck, dass die experimentelle Arbeit von Geiger und Müller nicht durch Transparenz und Reliabilität gekennzeichnet war. Der Grund dafür lässt sich vor allem in der strikten Geheimhaltungspraxis von Geiger und Müller vermuten.

Galisons Argument, wonach das Zählrohr eine bloße Weiterentwicklung des Spitzenzählers sei, wird zwar durch diese apparative Ebene gestützt, lässt sich aber durch den Unterschied in der zu Grunde liegenden Messmethode entkräften. Diese Anhaltspunkte sowie die Herstellung, der Nutzen und die Handhabbarkeit des Geiger-Müller-Zählrohrs werden mit Hilfe der Replikationsmethode näher analysiert.

Die wissenschaftshistorische Quellenanalyse zum Geiger-Müller-Zählrohr

Aus der Analyse von Laborbüchern, Publikationen und weiterer persönlicher Dokumente eines Forschers lassen sich notwendige Parameter für die Konstruktion eines möglichst quellentreuen Nachbaus gewinnen. Der zentrale Rekonstruktionsaspekt nicht dokumentierter Details der Handlungspraxis ergibt sich aus der Analyse des experimentellen Kontextes, in dem die Arbeit stand. Dennoch ist ein vollständig detailgetreuer Nachbau oft weder erstrebenswert noch möglich. Wie Sichau 2002 und Collins 2011 herausgestellt haben, kann Handlungswissen oder können Handlungsabläufe nicht in dem Maße transkribiert werden, dass ein vollständiger Nachvollzug durch eine außenstehende Person möglich wäre. Auch die sehr zweckorientierte Nutzung von Laborbüchern, auf die Holmes/Renn/Rheinberger 2003 hingewiesen haben, ist ein Beleg dafür. Müller äußert sich 1974 in einem Brief an Trenn zu dieser Problematik:

So I experimented around and found a number of fascinating effects. A description of results was not made in my diary, because contrary to present costum [sic] no bureaucracy required reports and the diary’s purpose was only to collect data for future publication.Footnote 21

Möglicherweise zögerte er deshalb zunächst mit der Herausgabe der Laborbücher an Trenn, weil dieser vorhatte, sie zu wissenschaftshistorischen Zwecken zu analysieren. Aus seiner Sicht würden sie wissenschaftlichen Maßstäben nicht genügen, denn er sei „kein perfekter Buchhalter“ gewesen. Die Ergebnisse seien vielmehr mit Geiger mündlich besprochen worden, wie er Trenn bereits zwei Jahre vorher wissen ließ.Footnote 22

Die anfängliche Geheimhaltungspraxis zeigt aber auch, dass Geiger und Müller sich der hohen Relevanz des ‚stillen’ Handlungswissens für ihr Forschungsgebiet bewusst waren, und dass sie dieses Wissen aktiv zu schützen versuchten. In den Briefen an seine Eltern stellte er diese Problematik im April 1929 folgendermaßen dar:

Seit vorigem Montag haben wir wieder einen Gast im Institut, einen Freiburger Physiker. Er ist ein sehr netter Mann, nur macht es manchmal etwas Mühe, unsere Geheimnisse vor ihm zu verbergen, denn er soll ja doch nicht alles sehen, was wir machen.Footnote 23

Namentlich erwähnt hatte er bereits im März den Besuch von Rutherfords Assistenten Hugh Webster.

Am nächsten Montag bekommen wir Besuch von einem Australier [Webster, SK]. Dieser ist Schüler von Rutherford u. soll hier bei uns das Zählrohr kennenlernen, da man in Cambridge scheinbar doch nicht so ganz damit fertig wird. Er wird aber nur 2–3 Tage bleiben. Wir wollen mit ihm zus. ein paar Zählrohre bauen u. ihn [sic] im übrigen auch alle unsere Geheimnisse zeigen. Von Cambridge haben wir nämlich nicht die üble Konkurrenz zu befürchten wie von Berlin.Footnote 24

Webster bildete neben von Hevesys Assistenten Seith die einzige dokumentierte Ausnahme von der Schweigepflicht, die sich Geiger und Müller selbst auferlegt hatten. Die Laborbücher, die abgesehen von den Briefen an Müllers Eltern die wesentlichen Primärquellen dazu darstellen, bieten jedoch keinen Aufschluss über den Inhalt dieser Geheimnisse. Die Entsendung der Assistenten namhafter Forscher zeigt, dass schon sehr früh ein großes Interesse an dem neuen Messinstrument bestand und dessen Handhabung zu einem großen Teil auf Wissen beruhte, das nur im direkten Umgang mit den Apparaten gewonnen werden konnte. Es verwundert daher nicht, dass die primäre und sekundäre Quellenlage darüber mäßig ist. Zur Verfügung stehen neben den fünf Laborbüchern von Müller und dem gemeinsam genutzten sechsten Laborbuch von Geiger, Müller und Mühlhoff noch die Briefwechsel von Geiger und Müller. Während Geigers Briefe eher von rein technischer und wissenschaftlicher Natur sind, zeigen Müllers Elternbriefe dagegen eher deskriptiven und emotionalen Charakter. Die fünf Publikationen sowie Geigers Artikel im Handbuch der Physik enthalten keine wesentlichen Details zur Konstruktion des Zählrohrs. Müllers spätere Briefe aus den 1950er und 1970er Jahren an Wildhagen, Trenn und den damaligen Minister für Atomfragen, Siegfried Balke, sind auch nur teilweise brauchbar, da Müller in seiner Erinnerung sich selbst sehr stark in das Zentrum der Entwicklung des Zählrohrs stellt. Inwieweit das gerechtfertigt ist, lässt sich nicht sagen, weil er gegenüber Trenn und Wildhagen direkte Fragen nach seinem Alleinanspruch nie beantwortet hatte. Als Beispiel sei hier ein Kommentar Müllers auf eine Passage in einem Manuskript von Trenn von 1974 zitiert:

Die Ereignisse spielten sich ausschließlich zwischen Geiger und mir ab, und es wäre nicht angebracht, irgendwelche Meinungen auszusprechen, zu denen Geiger keine Stellung nehmen kann. […] Teamarbeit, wie man es heute nennt, kann man eben nicht nachträglich analysieren, da selbst ein einwandfrei von einem Mitglied geleisteter Beitrag letzten Endes in dem Geist der gemeinsamen früheren Zusammenarbeit seine Wurzeln hat.Footnote 25

Zur Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte erhielt Trenn 1974 die fünf Laborbücher aus Müllers Kieler Zeit. Drei Jahre später übergab er sie mit Müllers Einverständnis dem damaligen Kurator Paul Forman von der Smithsonian Institution in Washington, D.C. zum Verbleib.Footnote 26 Nach Müllers Tod im Dezember 1979 überließ seine Tochter seinen wissenschaftlichen Nachlass zusammen mit dem gemeinschaftlichen LaborbuchFootnote 27 dem Deutschen Museum. Nur wenige Einträge in diesem Buch stammen eindeutig von Müller. So findet sich beispielsweise auf Seite sechs eine Auflistung von Zählrohren, die dann zum Teil in der zweiten Publikation wieder auftauchen (Geiger/Müller 1928b: 840), aber auch Anmerkungen zu Höhenstrahlungsmessungen mit einem „Riesenzählrohr“, einem Apparat mit fünf Zähldrähten für Koinzidenzversuche sowie Notizen zur Konstruktion der als Plön I und II bezeichneten Zählrohre, die für Absorptionsmessungen im Plöner See versenkt werden sollten.Footnote 28 Die Laborbücher drei bis fünf der Smithsonian Institution enthalten die Notizen, die zu den Zählrohren und den damit durchgeführten Experimenten gemacht worden sind. Die ersten beiden Laborbücher beinhalten schließlich die Aufzeichnungen zu den Experimenten aus Müllers Dissertation vom Januar 1926 bis zum November 1927.Footnote 29

Im dritten Laborbuch findet sich auf Seite fünf nach einer Auflistung verschiedener physikalischer Charakteristika von Kristallen ein Literaturhinweis, bei dem es sich um den Beitrag von Leon Curtiss im Physical Review (Curtiss 1928a, b) handelt. Curtiss arbeitete von 1922 bis 1924 bei Rutherford in Cambridge und wurde 1926 Mitarbeiter beim National Bureau of Standards in Washington, D.C. Wie Hughes 1993 genauer darstellt, hatte sich Curtiss dort der Entwicklung von elektrischen Zählmethoden gewidmet. Müller berichtete Trenn später, Geiger soll Müller im April 1928 damit beauftragt haben, Curtiss’ Vorschlag zur Säurebehandlung der Spitzen eines Spitzenzählers anstelle des üblichen Ausglühens mit einer Flamme zu prüfen.Footnote 30 Geiger arbeitete zu dieser Zeit mit Walther Kossel an einem Projekt zu Röntgenstrahlen und benötigte daher funktionsfähige Spitzenzähler. Offenbar führte Müller diese Aufgabe aus, denn sein erster datierter Eintrag stammt vom 24. April 1928. Man findet hier einige Notizen und Tabellen zur Behandlung verschiedener Spitzen mit Phosphorsäure. Offensichtlich wechselte Müller nach ersten Versuchen mit positiver Gehäusespannung des Spitzenzählers das Potential, denn er notierte: „Dasselbe bei negativer Zähleraufladung. Etwas kleinere Ausschläge (und tieferer Druck ?)“. Nach einer kurzen Messwerttabelle ist zu lesen: „Ergebnis: Der Zähler zählt im augenblicklichen Zustande bei positiver Spitze 8,5 mal mehr Teilchen als bei negativer“.Footnote 31 Drei Seiten später erscheint der Eintrag vom 5. Mai 1928, in dem zum ersten Mal das Zählrohr in seiner Urform skizziert und kommentiert zu sehen ist (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Eintrag in Müllers Laborbuch vom 5. Mai 1928 (mit freundlicher Genehmigung der Smithsonian Institution und H. Gillem).Footnote

ebd., S. 21.

Zu Beginn der Zählrohrexperimente waren die Angaben zu den einzelnen Zählrohren im Laborbuch noch sehr detailliert. Dem ist zu entnehmen, dass das erste Zählrohr wie auch das Gerät in seiner Dissertation, aus Messing bestand. Der zentrale axial gespannte Draht war aus 0,3 mm dickem Stahl, welcher durch die T-förmigen Endstopfen aus Hartgummi (Ebonit) nach außen geführt wurde. Der Draht war mit Phosphorsäure vorbehandelt. Weil jegliche Angaben zur Methode der Evakuierung des Zählrohrs auf 28 mm Quecksilbersäule fehlen, liegt die Annahme nahe, dass er den Prototypen des Zählrohrs analog zu seinen früheren Experimenten unter einem Rezipienten verwendete. Die notwendige Spannung von 1,2 Kilovolt realisierte Müller zunächst mit einem Transformator und einem Gleichrichter, später aber mit teureren Anodenbatterien, die eine weitaus stabilere Gleichspannung lieferten. Die späteren Variationen des Aufbaus unterschieden sich vor allem hinsichtlich des Drahtdurchmessers und des Innendrucks. Außerdem wurde die Luft im Zählrohr analog zu den Experimenten seiner Dissertationszeit mit Phosphorpentoxid getrocknet, um eventuelle durch Feuchtigkeit induzierte Entladungen zu minimieren. Zum Oxidieren des Drahtes wurde alternativ zur Phosphorsäure auch Salpeter- und Schwefelsäure verwendet. Auf Grund seiner Erfahrungen mit Gasfüllungen für Ionisationskammern, wie Wasserstoff, Kohlenstoffdioxid oder Argon experimentierte Müller schon früh mit entsprechenden Varianten für das Zählrohr. Insgesamt lassen sich auf Basis der Laborbücher von Müller rund hundert einzeln nummerierte Zählrohre identifizieren, die während seiner eineinhalbjährigen Tätigkeit bei Geiger verwendet und erprobt wurden.

Im Verlauf der Arbeit von Geiger und Müller wurden immer weniger Informationen über die experimentellen Einzelheiten in die Laborbücher eingetragen. Die Notizen beschränken sich jetzt hauptsächlich auf Angaben zur Dimension der Zählrohre, zum inneren Druck, zur Behandlung des axialen Drahtes und zur Einsatzspannung des Zählplateaus. Vereinzelt finden sich Seiten, die einer Art Formschema folgen, was wohl dem Zweck diente, ein Kategoriensystem für Zählrohre zu schaffen. Auffällig hierbei ist die Konstruktion einer potentiell objektiven Maßeinheit zur Charakterisierung der Empfindlichkeit eines Zählrohrs. So wurde die Anzahl der Impulse angegeben, die das Zählrohr durch 1 Milligramm Radium in 1 m Entfernung registriert. Entsprechende Versuche zur Einführung und Etablierung der Einheit wurden in der zweiten und vierten Publikation weitergeführt. Später übliche Parameter, wie die Totzeit der Registrierschaltung und der Nulleffekt einer Messung, wurden dagegen nicht berücksichtigt. Letztendlich setzte sich diese Einheit nicht durch.

Hinweise auf Geigers Experimente

Der experimentelle Anteil von Geiger an der Entwicklung des Zählrohrs lässt sich nur schwer einschätzen. Eigene Laborbücher, Aufzeichnungen und sonstige Hinterlassenschaften existieren nicht mehr, da die alte Universität in Kiel an der Fleckenstraße im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde und sein Wohnhaus in Babelsberg der Potsdamer Konferenz weichen musste. Der rudimentäre Nachlass, der sich heute im Deutschen Museum befindet, enthält wissenschaftliche Instrumente aus Tübingen, wo Geiger von 1929 bis 1936 lehrte und forschte. Die Sammlung umfasst einige alte Spitzenzähler und ein paar Zählrohre aus den späteren Jahre. An der damaligen Technischen Universität Berlin-Charlottenburg, an der er bis zu seinem Tod 1945 beschäftigt war, und an der ehemaligen Physikalisch-Technischen Reichsanstalt gibt es außer wenigen Dokumenten keine Hinterlassenschaften mehr. Es existieren ferner Briefwechsel aus der relevanten Zeit mit Meitner, Rutherford, von Hevesy, Bothe und anderen. Diese enthalten aber nur wenige Indizien. Darunter sind keine wesentlichen Details zum Zählrohr.

Ein wichtiger Grund für Geigers spontane Beteiligung an den Zählrohrexperimenten ab dem 20. September 1928 war offenbar das schon erwähnte Vorhaben am Plöner See, wie Müller Trenn berichtete.Footnote 33 Alle vorigen Versuche mit dem Zählrohr hätten nur in Müllers Arbeitszimmer stattgefunden, so Müller rückblickend gegenüber Trenn.Footnote 34 Dies muss dann auch auf jene zutreffen, in deren Folge die ersten beiden Publikationen entstanden sind (Geiger/Müller 1928a, b). Konstruktionsdetails, die über bloße Dimensionsangaben hinaus gehen, sind auch in den drei weiteren Veröffentlichungen (Geiger/Müller 1929a, b, c) ebenso wenig enthalten, wie aussagekräftige Skizzen oder Schemata der Zählrohre.

Das von Geiger verfasste Kapitel zum „Durchgang von α-Strahlen durch Materie“ des von ihm und Karl Scheel herausgegebenen Handbuchs der Physik enthält eine Auflistung und Beschreibung der elektrischen Methoden und Instrumente zur Zählung einzelner Atome und Elektronen. Eine prominente Position nimmt dabei der Spitzenzähler ein. Das Elektronenzählrohr wird als Methode für die Registrierung von extrem schwacher γ-Strahlung, wie kosmischer Strahlung oder Kaliumstrahlung angeführt:

In ihm ist axial ein dünner Draht ausgespannt, dessen Oberfläche mit einer halbisolierenden Haut gleichmäßig überzogen ist. Bewährt hat sich Stahldraht von 0,2 mm Dicke, den man in der Flamme schwach anlaufen läßt oder mit stark verdünnter Salpetersäure behandelt. (Geiger 1933: 164).

Besonders für Koinzidenzexperimente sei das Zählrohr gut geeignet, wie Bothes, Kolhörsters und Rossis Fortschritte auf diesem Gebiet belegten, so Geiger in seinem Aufsatz. Weitere Details zur Konstruktion und Handhabung gab er aber auch hier nicht an.

Müllers Dissertation

Die Materialliste für einen quellentreuen Zählrohrnachbau scheint nach dem Gesagten komplett zu sein. Selbstverständliche Handlungen, wie das Aufbauen einer Transformatorschaltung, das Anmischen der Dichtung, die Evakuierung der Zählrohre oder den Trocknungsprozess der Luft, die Müller wohl schon während seiner früheren Experimenten vielfach durchführte, bedurften offenbar keiner genauen Aufzeichnung. Zur Entschlüsselung dieser Praktiken ist es notwendig, weitere Quellen hinzuziehen, um eine möglichst weitgehende Annäherung an Müllers Handlungswissen zum Bau eines Zählrohrs zu ermöglichen.

Wird der konkrete experimentelle Kontext des Zählrohrs in den Blick genommen, müssen Müllers Experimente mit Ionisationskammern für seine Dissertation in die historische Analyse einbezogen werden. Neben dem Manuskript der ArbeitFootnote 35 und ihrer Veröffentlichung (Müller 1928) bieten sich die ersten beiden LaborbücherFootnote 36 dafür als Informationsquellen an. Seine Qualifikationsarbeit ist insofern von Bedeutung, als der für sie verwendete Versuchsaufbau den Spannungsbereich in der Nähe des Durchschlagpotentials tangiert, in dem Müllers zylinderförmiges Gerät als Geiger-Müller-Zählrohr und nicht bloß als Ionisationskammer funktionierte. Zusätzlich enthält die Dissertation Angaben zur Abdichtung der Kammer mit „Wachs“, was mit Blick auf die zugehörigen Laborbücher eins und zwei als Wachs-Kolophoniumkitt identifiziert werden kann. Die Tatsache, dass er nach eigenen Angaben seine alte Ionisationskammer für den Prototyp des Zählrohrs nach seiner mündlichen Prüfung im Februar 1928 verwendete, lässt die Vermutung zu, dass er auch in Fragen des Dichtungsmittels nicht von der bislang üblichen Praxis abgewichen war. Den Druckunterschied zwischen Zählrohr und Atmosphäre realisierte Müller in seiner Dissertation mit einer Vakuumglocke. Falls er diese auch für den Prototyp und die ersten Zählrohre verwendet hat, würde dies das Fehlen von Pumpenstutzen an den ersten Zählrohrzeichnungen im Laborbuch und den Publikationen erklären.

Publikationen anderer Autoren zum Zählrohr

Weitere Konstruktions- und Experimentierdetails lassen sich den Arbeiten anderer Forscher entnehmen, die sich nach der Veröffentlichung des Elektronenzählrohrs im Juli 1928 mit dem neuen Gerät auseinandergesetzt haben. Hauptsächlich handelt es sich dabei um zeitnahe Publikationen in einschlägigen deutschsprachigen Fachzeitschriften, wie Die Naturwissenschaften, Physikalische Zeitschrift, Annalen der Physik und Zeitschrift für Physik. Auf Grund der Geheimhaltungspraxis von Geiger und Müller finden sich jedoch nicht viele solche Veröffentlichungen. Nur wenige Besucher waren in die Labore eingeladen worden oder hatten gar ein Zählrohr von Geiger erhalten. Erst nach 1929, als die Produktion von Zählrohren an die Kieler Firma Neufeldt & Kuhnke abgegeben wurde, stiegen die Veröffentlichungen zu diesem Thema. Von Bedeutung ist unter anderen die Arbeit von Hamblin und Johnson aus dem Jahr 1937, die eine erste komplette Anleitung beinhaltet, anhand derer ein einfaches rudimentäres Zählrohr ohne Glimmerfenster nachgebaut werden konnte. Dieser Artikel blieb in der fraglichen Zeit jedoch hinsichtlich Konstruktion und Praxis eine Ausnahme. In den Artikeln beschäftigen sich die Autoren vorwiegend mit einzelnen Details der Konstruktion, wie der Charakterisierung verschiedener Drahtmaterialien, Gasfüllungen, Zählrohrgrößen oder mit mathematischen Beschreibungen der Funktionsweise des Instruments.

Des Weiteren ist auf Dissertationen hinzuweisen, die unter Geigers Anleitung in Kiel und Tübingen zum Zählrohr entstanden. Hierzu zählt zum Beispiel die Arbeit von Walther Mühlhoff 1930 über die Messung der Aktivität von Kalium und Rubidium, die er mit dem Zählrohr ausführte. Details zur Konstruktion sucht man aber auch hier vergebens. Kurt Hild 1930 verfasste seine Dissertation bei Geiger sogar noch über den Spitzenzähler, mit dessen Verbesserung zuvor auch Geiger selbst gemeinsam mit Otto Klemperer 1928, parallel zum Elektronenzählrohr, noch stark beschäftigt waren. Vielleicht ist dies ein weiteres Indiz dafür, dass Geigers Hauptinteresse zunächst nicht der Arbeit seines ersten Doktoranden Müller galt, sondern dass es ihm eher um die Verbesserung der eigenen alten Zählmethode ging.

Das Artefakt N10015

In Deutschland existiert meines Wissens kein Zählrohr mehr, das eindeutig der Kieler Zeit von Geiger und Müller zuzuordnen wäre. Ein in Frage kommender Ort wäre neben den Arbeitsstätten von Geiger das Deutsche Museum München. Im Bestreben, die dortige Ausstellung zur Atomphysik zu erneuern, war das Museum 1959 auf die Suche nach Originalapparaten von Geiger gegangen. Es erhielt im gleichen Jahr aus Tübingen vier Spitzenzähler, zwei Zählrohre mit Fenster und ein Zählwerk mit dem Hinweis, dass der pensionierte und von Geiger sehr geschätzte Mechanikermeister Josef Speidel von weiteren Geräten keine Kenntnis habe. Ein möglicher weiterer Fundort könnte die University of Cambridge sein, wohin Geiger, wie bereits erwähnt, schon früh ein Zählrohr an Rutherford geschickt hatte. Außerdem hatte Müller Folgendes an seine Mutter geschrieben:

Es interessiert Dich vielleicht, dass wir neulich einen Brief aus Graz bekommen haben, in dem uns die dortige Physikerschaft mitteilt, sie habe Versuche mit dem Zählrohr gemacht, ohne es allerdings in Gang zu bringen. […] Gleichzeitig haben wir ein Zählrohr nach Edinburgh geschickt, sodass man sagen kann, dass jetzt knapp 4 Monate nach der Erfindung das Zählrohr in ganz Europa seinen Siegeszug hat.Footnote 37

Neben Graz und Edinburgh kommt auch noch Kopenhagen in Frage. Der dort arbeitende Chemiker und spätere Nobelpreisträger Georg von Hevesy hatte im Januar 1929 das Zählrohr Nr. 32 aus Geigers Bestand für Aktivitätsmessungen von Kalium bekommen.Footnote 38

Als Geigers Freund und ehemaliger Kollege käme auch Walther Bothe als potentieller Empfänger eines Zählrohrs in Betracht. Nach der Einschätzung von Dieter FickFootnote 39 baute Bothe jedoch aus Stolz seine Zählrohre eher selber, als eines von seinem ehemaligen Lehrer Geiger anzunehmen. Dennoch ergab eine Recherche zu Bothes Zählrohren weitere wichtige Hinweise. Bothes Laborbuch aus der Zeit von 1928 bis 1929 enthält tatsächlich einige Notizen zu Zählrohren und Koinzidenzmessungen. Am 26. November 1928 schrieb er im ersten Eintrag in das neue Buch über zwei Zähler aus Aluminium mit 3 cm Durchmesser und 10 cm Länge. Im weiteren Verlauf tauchen nur diese beiden Zählrohre I und II immer wieder auf.Footnote 40 Dies belegt zwar, dass Bothe Zählrohre vom Geiger-Müller-Typ hatte, aber vermutlich nur zwei aus eigener Werkstatt. Die Verwendung von Aluminium war bei den Zählrohren von Geiger und Müller untypisch, da die meisten Zählrohre aus Messing oder Stahlblech gefertigt wurden. Bruno Rossi, der 1930 mit Bothe in Berlin gearbeitet hatte, beschrieb die Zählerkonstruktion als „a kind of witchcraft“ (Rossi 1981: 35). Bothe habe sogar Aluminium anstelle von Stahl oder Platin als Drahtmaterial angepriesen und dies als den geheimen Grund für die vergleichsweise gute Handhabung seiner Zählrohre genannt (ebd.: 36).

Ein Zählrohr aus dem Jahr 1928 existiert jedoch tatsächlich noch. Kurz vor seinem Tod im April 1976 überließ Müller auf Anfrage von Forman zusätzlich zu den fünf von Trenn analysierten Laborbüchern ein Zählrohr der Sammlung.Footnote 41 Das Artefakt N10015 hat einen äußeren Durchmesser von 15 mm, ist 100 mm lang und hat eine Wandung von 0,5 mm. Der Draht, der nach außen geführt wird, hat einen Durchmesser von 1 mm und besteht augenscheinlich aus Kupfer. Das Rohr selbst besteht aus Messing, auf dem mit rotem Lack eine Zahl zu finden ist. Die Dichtung hat eine hell gelbe bis braune Färbung und weist leichte Risse am Übergang zur Gehäusewand auf. Der Anschluss zur Vakuumpumpe wurde über eine Glaskapillare realisiert, die nach dem Evakuieren abgeschmolzen wurde (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Das Geiger-Müller-Zählrohr Artefakt N10015 in (a) Draufsicht sowie in Detailansicht (b) der Dichtung und (c) Röntgenaufnahme.Footnote

Conservation Analystical Laboratory der Smithsonian Institution, (im Folgenden abgekürzt: CAL-SI) 1977, CAL 2753 und CAL 2753/1.

Müller selbst deklarierte das Artefakt als Zählrohr 8 oder 9. Die rote Zahl auf dem Gehäuse wurde vom Smithsonian als „10“ gelesen. Forman bat daraufhin Trenn, die Laborbücher nach einem Zählrohr mit der Nummer 10 durchzusuchen, der dies mit Erfolg tat: Zählrohr Nr. 10 ist sogar eines der wenigen Zählrohre, die im Laborbuch skizziert wurden.

Der gezeichnete Aufbau (Abb. 4) unterscheidet sich jedoch erheblich vom Aufbau des Artefakts, welches man auf dem Röntgenbild (Abb. 3c) sehen kann. Die nächste Zählrohrskizze im Laborbuch betrifft die Zähler 14 bis 16 (Abb. 5). Erneut hat sich unter anderem die Form der Endstopfen und damit die Dichtung der Rohre geändert.

Abb. 4
figure 4

Skizze und Anmerkungen zu Zählrohr Nr. 10 in Müllers Laborbuch (mit freundlicher Genehmigung der Smithsonian Institution und H. Gillem).Footnote

DLSI-MSS: B v.3, S. 48.

Abb. 5
figure 5

Skizze von Zählrohr Nr. 14 bis 16 in Müllers Laborbuch (mit freundlicher Genehmigung der Smithsonian Institution und H. Gillem).Footnote

ebd.

Vergleicht man diese Skizze mit dem Röntgenbild in Abb. 3c erkennt man die Zweiteilung in eine äußere Dichtmasse und einen von außen nicht sichtbaren Teil der Dichtung. Die im Laborbuch angegebenen Maße stimmen auch mit denen des Artefakts überein, was eine Interpretation der „10“ auf dem Gehäuse als „16“ in Anbetracht der schwierigen Markierung auf einer runden Oberfläche statthaft macht.

Werden alle Zählrohre der ersten beiden Monate von Müllers Arbeit zusammen genommen und das Artefakt in diese Überlegungen mit eingeschlossen, so ergeben sich drei unterschiedliche Bauformen: der Prototyp, das Zählrohr Nr. 10, die Zählrohre 14 bis 16 im Laborbuch, sowie in Form des Artefakts der Smithsonian Institution. Entwicklungstypisch können diese unterschiedlichen Konstruktionsfortschritte als Generationen bezeichnet werden. Eine genaue Trennung und Zuordnung für jedes Zählrohr ist zwar nicht mehr möglich, aber spätestens Zählrohr Nummer 10 gehört der zweiten und spätestens die Zählrohre 14 bis 16 der dritten Generation an (Abb. 6).

Abb. 6
figure 6

Schemata der drei ersten Zählrohrgenerationen (a) Prototyp, (b) Zählrohr 10, (c) Zählrohr 14–16.

Die dritte Generation unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von den beiden früheren. Die Fassung des Drahtes und der Glaskapillare aus Ebonit liegt innen und wurde mit der Dichtungsmasse vergossen. Beide Details wurden schon beim Schritt von der ersten zur zweiten Generation geändert. Dies ist ein Indiz dafür, dass die Dichtigkeit der Zählrohre außerhalb einer Vakuumglocke schon früh ein Problem war, das dann mit der Änderung in der dritten Generation beseitigt werden sollte.

Der quellengetreue Nachbau und der Nachvollzug

Auf Basis der analysierten Laborbücher und Briefe erschien es möglich, den Nachbau eines Zählrohrs anzufertigen. Der Nachvollzug von Experimenten bestand in diesem speziellen Fall im Nachweis der Funktion des nachgebauten Instruments mit Hilfe von Kaliumchlorid. Die schwache γ-Aktivität dieses Salzes war auch von Geiger und Müller als Beleg für die hohe Empfindlichkeit des Zählrohrs angeführt worden:

Die γ-Strahlung von Kalium konnte mit einem 50-qcm-Zählrohr an 100 g Kaliumchlorid in wenigen Minuten nachgewiesen werden. […] Aktivitäten, die tausendmal kleiner sind als die des Kaliums, werden sich wohl noch leichter messen lassen. (Geiger/Müller 1928a: 618)

Der nachgebaute Prototyp besteht aus einem Messingrohr mit den im Laborbuch und in Abb. 2 zu findenden Maßen. Die Endstopfen sind aus Ebonit (Hartgummi) und wurden mit einer Drehbank in T-Form gebracht. Der Stahldraht mit 0,3 mm Durchmesser wurde in zwei Optionen verwendet: entweder mit der Flamme eines Bunsenbrenners ausgeglüht oder analog zu Müllers Vorgehen mit Phosphor- oder Schwefelsäure oxidiert. Über die jeweilige Konzentration dieser Säuren und wie lange der Draht in der Säure verbleiben musste, gab es keine Informationen. Durch meine Versuche mit mehreren Varianten der Drähte ist allerdings nicht klar geworden, welchen Effekt diese Oxidschicht auf einem Stahldraht für das Funktionieren oder Nichtfunktionieren des Zählrohrs hat. Hamblin/Johnson (1937: 556) geben in ihrer Anleitung zum Selbstbau eines Zählrohrs konzentrierte Salpetersäure an, die mit Stahlwolle auf einem Wolframdraht aufgebracht werden sollte. Danach sollte der Draht mit Wasser und Alkohol gereinigt werden. Die Oberfläche des Drahtes musste zusätzlich zwischen Daumen und Zeigefinger auf Unebenheiten geprüft werden. Diese Vorgehensweise legte die Vermutung nahe, dass nicht das Oxidieren das Drahtes mit Säure oder einer Gasflamme an sich einen positiven Effekt gezeigt hatte, sondern dass dadurch gleichzeitig Unebenheiten oder kleine Grate auf dem Draht minimiert wurden. Dies wiederum bewirkt, dass das elektrische Feld zwischen Zählrohrgehäuse und Draht sehr viel homogener wird. Im Nachbau von anderen Zählrohren wurde daher zusätzlich zu ordinärem Stahldraht industriell gefertigter blanker Draht benutzt. Die Funktion eines Zählrohrs mit unbehandelten blankem Draht hatte auch Kniepkamp bereits 1929 gezeigt.

Den notwendigen Unterdruck von 28 mm Quecksilbersäule (37,3 Millibar) für das nachgebaute Zählrohr habe ich mittels einer modernen Vakuumpumpe und eines Rezipienten hergestellt, was allein durch die Interpretation der zur Verfügung stehenden Quellen begründet werden kann. Müller verwendete für die Experimente im Rahmen seiner Dissertation zum Herstellen des Unterdrucks in seinen Ionisationskammern eine Vakuumglocke. Entsprechende Kapillare, die eine Evakuierung außerhalb einer Vakuumglocke gestattet hätten, sind in den ersten Skizzen im Laborbuch nicht zu finden. Die notwendige Betriebsspannung von 1.200 Volt habe ich aus Gründen der Zweckmäßigkeit mit einer modernen Hochspannungsquelle realisiert. Die Realisation einer zeittypischen und später auch von Müller dokumentierten Spannungsquelle in Form von gleichgerichteter und hochtransformierter Wechselspannung oder in Reihe geschalteter Anodenbatterien wäre hingegen im ersten Fall für mich zu aufwendig gewesen und im zweiten Fall auch heute immer noch zu teuer.

Ein solcher nüchterner und anwendungsbezogener Umgang mit Peripheriegeräten ist jedoch nicht bei jedem Bauteil angebracht oder möglich. Neben der notwendigen Hochspannung ist noch eine weitere Beschaltung erforderlich, um die Spannungsimpulse zu registrieren und gegebenenfalls aufzuzeichnen. Im ersten Zugriff auf die Laborbücher, Publikationen und Briefe findet sich nur der Hinweis, dass Müller dafür ein Fadenelektrometer verwendet hat. Es ist aber nicht mehr eindeutig festzustellen, welcher Typ dabei verwendet worden war, ob also ein Wulf’sches, Hoffmann’sches, eines nach Elster und Geitel oder nach Curie, ein Quadrantenelektrometer nach Thomson oder nach Dolezalek. Der genaue Aufbau der Schaltung war in diesen Aufzeichnungen bestenfalls nur spärlich angedeutet worden. Lediglich eine kleine Randskizze zur Beschaltung eines Spitzenzählers im dritten Laborbuch und ein Schaltbild in einem Brief von Geiger an Hermann Behnken im November 1928 liefert diesbezüglich Anhaltspunkte. Diese Schaltungen (Abb. 7 und 8) sind vom Prinzip her identisch und waren das Vorbild für den im Nachbau verwendeten Stromkreis.

Abb. 7
figure 7

Müllers Beschaltung eines Spitzenzählers im Laborbuch (mit freundlicher Genehmigung der Smithsonian Institution und H. Gillem).Footnote

ebd.

Abb. 8
figure 8

Geigers Schaltskizze zum Behnken–Zählrohr 68 (mit freundlicher Genehmigung der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt).Footnote

Geiger an Behnken, 11. November 1928, Archiv der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, Akte 758.2, Röntgenlaboratorium: Verschiedenes, Bd. 1, 1919–1937.

Die angesprochenen Unterschiede der Elektrometer finden sich auch in diesen Schaltungsentwürfen wieder. Während Müllers Darstellung eher auf ein einfaches Fadenelektrometer mit geerdeten Kondensatorplatten hindeutet (Abb. 7), ähnelt Geigers Skizze bezüglich der Form des Fadens eher einem Wulf’schen Elektroskop (Abb. 8) (vgl. Geiger/Makower [1912] 1920: 32).

Als Bemerkung in Geigers Brief findet sich der Hinweis, dass sich als Sicherheitskondensator, „ein Stück Glimmer beiderseits mit Staniol beklebt“ gut eignen würde.Footnote 47 Er sollte wohl das Fadenelektrometer vor einem möglichen Durchschlag der Hochspannung schützen. Eine übliche Methode zur Realisierung von hohen Widerständen von einem Gigaohm und mehr war die Verwendung von Wasser, das je nach gewünschter Leitfähigkeit mit Alkohol versetzt wurde. In den Laborbüchern zu Müllers Dissertation findet man den Hinweis auf Bleistiftstriche mit entsprechender Länge, die den gleichen Zweck erfüllten. Für den Nachbau habe ich die von Geiger beschriebene Kondensatorvariante und moderne kompakte Widerstände verwendet.

Ein zentrales Problem beim Nachbau bestand in der Abdichtung und Evakuierung. Das Hartgummi Ebonit und seine Bearbeitung in Bezug auf seine Dichtigkeit bereitete nach einiger Übung keine Probleme mehr, doch die Frage nach dem Dichtungsmaterial, mit dem Gehäuse und Stopfen verbunden worden waren, blieb zunächst offen. Als zeittypische Materialien standen Wachs-Kolophonium-Kitt (Siegelwachs), Wachs-Schellack-Kitt (Siegellack) und das pechartige Picein zur Auswahl. Nach Begutachtung des Zählrohrs im Smithsonian musste ich die Materialliste weiter ergänzen. Die dort schon 1977 hausintern durchgeführte chemische Analyse der Dichtung bestätigte die bisherigen Vermutungen in Richtung einer Wachsmischung nicht. Im Analysebericht ist zu lesen:

The sealant was found to consist of a formulation based upon drying oil or semi-drying oil (such as soybeam oil) and filled with barium sulfate. […] the following were not detected: calcium carbonate, lead white, zinc white, gypsum (plaster of Paris). […] x-ray fluorescence analysis confirmed that barium is a major component of the sealant.Footnote 48

Für eine solche Bariumsulfat-Öl-Suspension kommen auf Grund der erforderlichen Festigkeit des Materials nur trocknende Öle in Betracht. Am sinnvollsten schien mir die Verwendung von Leinöl, das im Kunsthandwerk zur Mischung von Ölfarben verwendet wurde. Der Trocknungsprozess dauert aber bei der im Vergleich zur Malerei großen Schichtdicke vermutlich mehrere Jahre. Um die Trocknung zu beschleunigen, wurden und werden Sikkative als Katalysator den Ölfarben beigemischt, die Schwermetalloxide von Blei, Mangan, Cobalt oder Zink enthalten. Indiz für diese Art der Verwendung im Artefakt sind die starke Vergilbung und die Risse, die in der Dichtung deutlich sichtbar sind. Warum das Leinöl gerade mit Bariumsulfat aufgeschlämmt wurde, lässt sich nur vermuten. Ein Grund könnte gewesen sein, dass Bariumsulfat kurzwellige Strahlung im UV-, Röntgen- und γ-Bereich stark absorbiert. Zu sehen ist dies auch im Röntgenbild (Abb. 3c). Ein potentieller Einfluss von Strahlung, die nicht durch die Gehäusewand eintritt, hätte so minimiert werden können. Unklar bleibt jedoch, ob diese Eigenschaft des Bariums Müller bereits bekannt gewesen war.

Meine Versuche, verschiedene Leinöle mit Bariumsulfat zu trocknen, sind jedoch gescheitert. Eine feste Konsistenz, wie sie die Dichtung des Zählrohrartefakts aufweist, konnte bis dato für einen Nachbau noch nicht hergestellt werden. Dieser Umstand und die für die Zeit atypische Verwendung einer solchen Dichtmasse lassen an der Authentizität der Dichtung des Artefakts und deren Datierung auf das Jahr 1928 zweifeln. Noch während seines Briefwechsels mit Müller und des langwierigen Schenkungsprozesses des Zählrohrs an die Smithsonian Institution schrieb Trenn an Forman 1975, dass er von Müllers Bruder erfahren habe, „that Walter is quite suddenly getting a bit senile“.Footnote 49 Vor diesem Hintergrund wirken Müllers aus dieser Zeit stammende Aussagen über das Zählrohr, beispielsweise in den letzten Briefen an Trenn und in einem Interview mit Lawrence BadashFootnote 50 bezüglich der Herkunft des Artefakts, noch fraglicher. Es ist aber durchaus möglich, dass die Bariumsulfat-Dichtung nachträglich zugefügt wurde, da wohl kaum ein Zählrohr im Experimentierprozess unverändert geblieben ist. Das häufige dokumentierte Wechseln des Zähldrahtes erfordert das Öffnen und den Austausch der Dichtung. Ein Wechsel desselbigen wäre so durchaus denkbar. Hamblin/Johnson 1937 schlagen die Abdichtung mit Wachs-Kolophonium-Kitt im Mischungsverhältnis zwei zu fünf vor. Dieses auch schon relativ früh für die experimentellen Nachbauten der zweiten und dritten Generation verwendete Dichtungsmaterial hat sich dann als brauchbar erwiesen. Es zeigte sich, dass der für den Betrieb essentielle und notwendige stabile Unterdruck gegenüber der Atmosphäre mit Hilfe dieses Materials sehr gut realisiert werden konnte. Spätestens das in dieser Hinsicht optimierte Design der dritten Generation demonstriert, dass häufige Undichtigkeiten der Grund für die Weiterentwicklung der Konstruktion gewesen sind. Eine Ursache für diese Probleme mit der ersten Generation war der dünne zentrale Draht, der schon durch kleine Berührungen das Wachs an den Stellen, wo er nach außen geführt wurde, einschnitt und so Luft in das Innere des Zählrohrs eindringen ließ. Beseitigt wurde dieses Problem, indem der dünne innere Draht mit einem dickeren Kupferdraht leitend verbunden wurde, der dann durch das Wachs nach außen geführt wurde. Diese Lösung erwies sich auch beim Nachbau als wesentlich stabiler und unempfindlicher gegenüber Bewegungen. Zusammen mit der geänderten Nut-Stopfenform des Ebonits, die bereits in der zweiten Generation eingeführt worden war, konnten die Zählrohre dieses Typs den Unterdruck wesentlich länger stabil halten.

Dies wirft allerdings wieder die Frage auf, wie die beiden Drähte unterschiedlicher Materialien miteinander verbunden worden waren. Denkbar sind zwei Möglichkeiten: entweder das Quetschen oder Löten der Verbindung. Da es sich aber laut Laborbuch um Stahl und Kupfer handelt, müsste Silberlot anstelle von Zinnlot verwendet werden, um beide Drähte hart mit einer Gasflamme zu verbinden. Das Röntgenbild des Artefakts (Abb. 3c) spricht deutlich für die letztere Variante oder eine solche, in der zusätzliches Material auf die Verbindungsstelle aufgebracht worden ist. Der Röntgenschatten des Materials ist jedoch fast so stark wie der des Bariums. Die Verwendung des heute aus gesundheitlichen Gründen unüblichen weichen Bleilots ist daher ebenfalls denkbar. Dessen Schmelzpunkt ist wesentlich geringer als der von Silberlot, was wiederum für eine einfachere Handhabung spricht. Erwähnt wird ein solches Vorgehen weder in den Veröffentlichungen, noch im Laborbuch oder der Korrespondenz. Beim Nachbau wurden aus Gründen der Unsicherheiten beide Lötvarianten, sowie die eher weniger authentische Quetschverbindung gewählt.

Der Anschluss des Zählrohrs an eine Vakuumpumpe in der zweiten und dritten Generation diente vermutlich dem Ersatz der Variante unter der Vakuumglocke. Bildlich und im Laborbuchtext findet sich eine abgeschmolzene Glaskapillare zuerst beim Zählrohr Nr. 10, dem vermutlich ersten der zweiten Generation. Müller benutzte in seinen Dissertationsexperimenten vereinzelt Kupferkapillaren für seine Ionisationskammern, die aber ebenso wenig auf den zugehörigen Zeichnungen (vgl. Abb. 1) zu finden sind. Dies ist bemerkenswert, da Zählrohr Nr. 4 explizit eine der alten Ionisationskammern war.Footnote 51 Es gibt außerdem schon bei Zählrohr Nr. 5 im Laborbuch den Hinweis, dass es wegen Beschädigung abermals ausgepumpt und abgeschmolzen werden musste.Footnote 52 Ob dieses Zählrohr ein Prototyp ohne Zeichnung für die zweite Generation gewesen ist oder ein Zählrohr der ersten Generation, welches später eine zusätzliche Kapillare aus Kupfer oder Glas bekommen hatte, bleibt unklar. Kupfer erscheint wegen der hohen Wärmeleitfähigkeit für den praktischen Gebrauch auch eher fraglich, denn das Abschmelzen der Kapillare mit einer Gasflamme würde die Wachsdichtung sofort verflüssigen. Trotzdem findet sie bei den Zählrohren Nr. 19 bis 21 explizit Erwähnung (Abb. 9).

Abb. 9
figure 9

Skizze zu Zählrohr 19–21 in Müllers Laborbuch (mit freundlicher Genehmigung der Smithsonian Institution und H. Gillem).Footnote

ebd., S. 86.

Der Briefwechsel zwischen Geiger und Behnken enthält einen weiteren Hinweis bezüglich des Unterdrucks: Das von Geiger geschickte Zählrohr scheint den Transport nicht unbeschadet überstanden zu haben, denn Behnken fragte im November 1928 nach der Methode der Evakuierung, um es reparieren zu können. Er hatte „keinen Pumpenansatz entdecken“ können.Footnote 54 Ob die Kapillare also zusätzlich noch retuschiert wurde, sodass sie von außen nicht mehr sichtbar wurde, bleibt damit ebenso offen wie die Auswahlkriterien für Glas oder Kupfer.

Das Gas innerhalb des Zählrohrs bestand zunächst aus mit Phosphorpentoxid (P2O5) getrockneter Luft. Bis auf die Notiz „Kammer über Nacht mit P2O5 ausgetrocknet“Footnote 55 ist die Methode der Trocknung nicht im Einzelnen dokumentiert. Hess/Lawson 1916 beschichteten zu diesem Zweck ein Rohr mit P2O5 und trockneten die Luft zusätzlich tagelang über konzentrierter Schwefelsäure. Wie und ob der Grad der Luftfeuchtigkeit bestimmt wurde, ist nicht erwähnt worden. Hamblin/Johnsen 1937 schlugen die Phosphormethode und eine mehrstündige Evakuierung auf 0,1 Mikrobar vor. Anschließend sollte der Druck auf etwa 100 Millibar erhöht werden. Der Unterdruck im Zählrohr macht es anschließend jedoch sehr einfach, das Glasröhrchen mit einer heißen Gasflamme in wenigen Sekunden abzuschmelzen. Der äußere Atmosphärendruck presst das viskose heiße Glas in die dünne Kapillare, erstarrt dabei und verschließt das Röhrchen luftdicht.

Bisher hat lediglich ein Funktionsnachbau des Prototypen erwartungsgemäß funktioniert. Der quellengetreue Nachbau von Zählrohr Nr. 16 (Abb. 10) reagierte erst nach intensiver Trocknung des Gehäuses auf γ-Strahlung. Bei allen meinen Zählrohren wurden die Spannungsimpulse über ein Oszilloskop und einen parallel entkoppelten Lautsprecher registriert. Auch ohne Verstärkung des elektrischen Signals durch die später üblichen und für Koinzidenzexperimente essentiellen Röhrenschaltungen kann man mit einem hochohmigen Lautsprecher die Spannungsimpulse von etwa 10 Volt deutlich durch das charakteristische Knacken wahrnehmen. Trotz des dicken Messinggehäuses reagierten die Nachbauten der Zählrohre auf nur wenige Gramm Kaliumchlorid. Die sogenannte Nullrate, die sich aus Zählereignissen von kosmischer und terrestrischer Strahlung ohne Anwesenheit zusätzlichen radioaktiven Materials zusammensetzt, konnte ebenfalls bestimmt werden. Nur wenige Tage später hat zumindest der Prototyp seinen Betrieb wieder eingestellt. Der genaue Grund dafür lässt sich nur vermuten. Denkbar sind Undichtigkeit, feuchtigkeitsinduzierte Entladungen, das Eindringen von Wachs in das Innere des Zählrohrs oder auch der Verlust der hohen Feldstärke im Inneren durch ein mögliches Durchhängen des Drahtes.

Abb. 10
figure 10

Quellengetreuer Nachbau von Zählrohr Nr. 16, dritte Generation mit den einzelnen Bauteilen.

Die Replikationsmethode als wissenschaftshistorische Methode

If we do not achieve an effect which others formerly achieved, then it must be that in our operations we lack something that produced their success.

(G. Galilei, Il Saggiatore, 1623, nach Drake 1978: 285)

In dem Vorhaben, ein Instrument möglichst quellengetreu anzufertigen, wird jeder Schritt und jede Entscheidung für oder gegen ein Detail von einer Frage angeleitet, deren Klärung eine Analyse des experimentellen Kontextes unabdingbar macht. Man kann sich diesem Kontext zum einen durch Schriftstücke annähern. Andererseits müssen diese Zusammenhänge auch mit der praktischen Arbeit im Labor experimentell geprüft werden. Beim Nachbau des Geiger-Müller-Zählrohr war die Erprobung der verschiedenen Dichtungsmaterialien notwendig. Weil sie in den Originalquellen nicht ausreichend dokumentiert waren, wurde es erforderlich, die Suche auf zusätzliche Publikationen im experimentellen Kontext von Müller auszudehnen. Dadurch ergaben sich mehrere Möglichkeiten, deren Angemessenheit geprüft und die gegeneinander abgewogen werden mussten. Der Vergleich mit dem Artefakt von Zählrohr Nr. 16 zeigt aber auch, dass dieser Weg des Nachbaus eine andere Richtung eingeschlagen hat als der Werdegang des vermeintlichen Originals mit einer fremdartigen Dichtung. Diese Diskrepanz bietet jedoch Anlass, die Authentizität des Zählrohrs in der Smithsonian Institution anzuzweifeln und wirft erneut Fragen in Bezug auf das Instrument, die Quellen und die Methode auf. Für Sichau 2002 und Schaffer 2011 bleibt es deshalb fraglich, ob ein Instrument nach Wartungen und Justierungen immer das gleiche Gerät bleibt. Sie lenken den Blickwinkel auf die Akteure und ihren Umgang mit ihren Apparaturen und Experimenten. Damit stellt sich die Frage, ob der Status von Instrumenten auch nach etwaigen Materialänderungen, die - wie im Nachbau - das Funktionsprinzip nicht direkt beeinträchtigen, aufrecht erhalten werden kann.

Die Analyse mit der Replikationsmethode liefert allerdings auch positive Antworten. Die Auswertung der zur Verfügung stehenden primären Quellen zeigt, dass die experimentelle Entwicklungsarbeit, aus der schließlich das Geiger-Müller-Zählrohr hervorging, hauptsächlich von Müller geleistet wurde. Das Instrument selbst stellt dabei im Vergleich zu seinen Vorgängern noch keinen wesentlichen technischen Fortschritt dar. Es war der Ionisationskammer von Rutherford und Geiger von 1908, dem Halbkugelzähler von 1912 oder auch dem Spitzenzähler von 1913 höchstens ebenbürtig – nicht nur im technischen Sinne, sondern auch in Bezug auf das notwendige und detaillierte apparative Handlungswissen, welches zum Umgang mit ihm notwendig war.

Der Fortschritt des Zählrohrs war vielmehr argumentativer Natur. Müllers Leistung war es, ein etabliertes Artefakt einer komplizierten Messmethode in ein tatsächliches Zählereignis umzudeuten und den Messprozess mit diesem elektrischen Nachweisgerät für radioaktive Strahlung durch seine baulichen Änderungen so weit zu stabilisieren, dass reproduzierbare Ergebnisse mit dem neuen Instrument möglich wurden. Seinen Laborbüchern und den Briefen zufolge hatte er auf Basis einer Röhrenverstärkerschaltung schon im Juli 1928 ein automatisches Zählwerk geplant. Im Februar 1929 berichtet er schließlich seinen Eltern, dass die automatische Zählvorrichtung Tag und Nacht laufen würde. Waren die Zählraten bis zu diesem Zeitpunkt höchstens im Bereich von etwa 100 Impulsen pro Minute und an die tägliche Auswertung von 120 m Messstreifen geknüpft,Footnote 56 so fanden sich jetzt Werte mit weit über 1000 Ereignissen pro Minute. Die Bedeutung dieser Steigerung wird deutlicher, wenn auch hier der Kontext der Radioaktivitätsmessung miteinbezogen wird. Die zur fraglichen Zeit etablierten Methoden basierten auf dem Spitzenzähler und der manuellen Zählung von Szintillationen. Beide waren in ihrer Empfindlichkeit für radioaktive Strahlung stark begrenzt, was vor allen Dingen die Messung mit Radium erschwerte. Die Vielzahl von Impulsen, die mit diesem Präparat von einem Spitzenzähler registriert wurden, konnten nur auf einem schnell laufenden Papierstreifen automatisch notiert werden und nicht mehr optisch über die Zählung der Ausschläge an einem Fadenelektrometer. Die von Hughes 1993 beschriebenen Zweifel an der Objektivität der in Cambridge propagierten Szintillationsmethode wurden bei der Verwendung des mechanischen Zählwerks durch den Ersatz des subjektiven menschlichen Einflusses mittels der elektrischen Schaltung eliminiert. Die Aufgabe des Experimentators war es nur noch, die mehreren hundert Meter Papierstreifen per Hand auszuwerten. Müllers Zählmaschine besaß laut seinen Aufzeichnungen anstelle des Schreibers ein elektromagnetisches Relais, welches über ein Walzenzählwerk alle Impulse automatisch addierte. Die Aufgaben des Experimentators reduzierten sich also weiter und bestanden fortan nur im Einrichten der Apparatur und dem späteren Ablesen des Wertes.

Der langwierige manuelle Auswertungsprozess entfiel dabei aber zu Lasten des direkten Einflusses auf die Glaubwürdigkeit der Messwerte. Der interpretatorische Akt der Analyse der Messstreifen durch einen erfahrenen Experimentator wurde mit dem Einsatz eines elektromagnetischen Relais und durch die Parameter der Röhrenschaltung übernommen. Die Entscheidung, ob eine Spitze auf dem Messstreifen ein Artefakt des Hintergrundrauschens der Schaltung war oder als Zählereignis gewertet werden sollte, wurde nun durch den eingestellten Arbeitspunkt der Röhre bestimmt. Ob das Zählwerk daher wirklich die Teilchen zählte, die das Zählrohr registriert hatte, oder ob nicht weitere Messereignisse dabei unberücksichtigt oder gar als Artefakte das Ergebnis verfälschten, hätte einen Grund zum Zweifeln an dieser Methode abgeben können. Auch Hughes stellt die Bedeutung der Röhrenverstärkung für den Erfolg der elektrischen Zählmethoden deutlich heraus:

Now, however, they [the experimentalists in nuclear physics, SK] were also able to draw on the products of the booming 1920s radio industry and the highly developed skills of wireless enthusiasts within the laboratory to construct valve amplifiers and electronic circuits that allowed the rapid development of fast, reliable electronic counting devices. These quickly became embedded in laboratory practice, so that by the early 1930s, state-of-the-art nuclear physics laboratories were almost completely reliant upon Geiger counters, ionization chambers, valve amplifiers, counting circuits and other pieces of electronic hardware. (Hughes 1998: 62)

Er betont jedoch auch die erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten, die mit der Einführung der Verstärkertechnik einhergingen:

The experimental trials of the valve amplifier revealed further difficulties that would have to be overcome if the technique were to be of any value in quantitative work, and the laboratory environment required considerable manipulation to provide conditions under which the apparatus would behave reliably and consistently. […] Though it raised different sorts of operational problems – the need for insulation from disturbance, special films, mechanical counters and the rest – the valve method was clearly no less elaborate than the scintillation technique. (ebd.: 73)

Das Instrument alleine konnte also in diesem Kontext nicht die Glaubwürdigkeit der Ergebnisse stützen. Die vergleichbare, aber erheblich aufwendigere Messung über die Zählung von Szintillationen auf Zinksulfid war ebenfalls schon Jahre vorher eine etablierte Methode, obwohl der subjektive Charakter ähnliche Zweifel hätte schüren können. Beide Methoden haben ihren Status daher vielmehr ihren Entwicklern und Protagonisten zu verdanken, als objektiven und technischen Gütekriterien.

Aus Müllers Sicht stammte Geigers Einstellung zum Wert wissenschaftlicher Arbeit und Leistung aus einer Zeit, in der experimentelle Arbeiten eher als notwendiges Beiwerk für die Bestätigung von Hypothesen benötigt wurden. Die wahre Leistung eines Wissenschaftlers bestünde demnach darin, Experimente und Thesen zu entwickeln und zu planen, sie aber nicht selbst durchzuführen.Footnote 57 Insofern ist es erstaunlich, dass Geiger mit der Nennung von Müller in den Publikationen oder der späteren Bezeichnung Geiger-Müller-Zählrohr einverstanden war. Eine ähnliche arbeitsteilige Beziehung ging Geiger mit Rutherford ein. Die dortige Rollenverteilung war jedoch umgekehrt: Geiger war die sichtbare, helfende Hand und Rutherford der Kopf des Forschungsteams. Trotzdem steht Geigers Namen auf allen Publikationen, an deren Entwicklung er beteiligt war. In den Publikationen mit James Nutall und Ernest Mardsen, die zeitgleich ihre ersten Schritte in der Radioaktivitätsforschung bei Rutherford machten, fungierte Geiger dagegen als deren Vorgesetzter. Nutall und Mardsen tauchen in den zugehörigen Publikation und den später nach ihnen benannten Effekten dann ebenfalls als Koautoren auf.

Geigers spätere aktive Beteiligung an Experimenten zur Höhenstrahlung im Team Geiger-Müller lässt sich durch das gemeinschaftliche sechste Laborbuch belegen. Es vermittelt einen Einblick in die typische Sozialstruktur und deren Wandel in einem Labor: Die geringere Wertschätzung kam in Geigers Verständnis eher dem Labormechaniker zu, der die für die Experimente notwendigen Instrumente konstruierte. Er lobte zwar in Briefen die unverzichtbaren Fähigkeiten seines späteren Mechanikermeisters Speidel (Geiger an Gerlach, zit. nach Abele 2002: 49). Erwähnung fand aber nur Müller in den wissenschaftlichen Publikationen und wurde damit zu einer sichtbaren Figur für die Fachwissenschaft (siehe auch Hentschel 2008).

Insgesamt haben die Analyse der Laborbücher und die Erfahrungen beim Nachbau zu einer Neubewertung der Rollen von Geiger und Müller in der Entwicklung des Zählrohrs geführt. Anders als von Galison (1997: 440) und Hughes 1993 vertreten, sollte allein schon aus technischen Erwägungen das Geiger-Müller-Zählrohr nicht mehr nur als Weiterentwicklung des Spitzenzählers angesehen werden. Zwar gibt es Parameter, für die ein Spitzenzähler nahezu wie ein Geiger-Müller-Zählrohr funktioniert. Diese wurden aber – nach Vorarbeiten von Bothe – erst von Geiger/Klemperer 1928 während der parallelen Arbeiten zum Zählrohr veröffentlicht. Dabei war es besonders Geigers Einfluss, der den Erfolg der Zählmethode wohl maßgeblich positiv beeinflusst hat. Hughes hatte bereits Ähnliches über die Debatte zwischen Cambridge und Wien über die Reliabilität von verschiedenen Szintillations-Zählmethoden festgestellt:

As with the parallel controversy between Ellis and Meitner, it was becoming increasingly clear that the debate was no longer about results – data, hypothesis, theory. It had become an explicit dispute about experimental and observational techniques, involving issues of competence, credibility, trust and authority. (Hughes 1993: Kap. 3, Abschnitt 3.5)

Und kurz vor Geigers Tod im Jahr 1945 vertrat Bothe in seiner programmatischen Monographie Der Physiker und sein Werkzeug die Auffassung, dass unter anderem das Zählrohr den Übergang von messender zur zählender Physik mit eingeleitet und so den experimentellen Grundstein der Physik des 20. Jahrhunderts gelegt habe (Bothe 1944: 17). Mit anderen Worten: Geiger und Müller haben mit ihrem Zählrohr ein anerkanntes Artefakt des elektrischen Messprozesses zu einem tatsächlichen Zählereignis erhoben.

Das Zählrohr blieb noch etwa zwei Jahrzehnte ein unverzichtbares Gerät für die Radioaktivitäts- und Höhenstrahlungsforschung, bevor es immer mehr in den Hintergrund rückte. In den 1950er Jahren gerieten dagegen die elektrisch verstärkten Szintillations- und Halbleiterdetektoren zunehmend in den Vordergrund (Rheinberger 1999, Galison 1997), die das mittlerweile als Geigerzähler bekannte Elektronenzählrohr für die Forschung quasi obsolet machten. Gehalten hat es sich dennoch bis heute als Standardinstrument im Strahlenschutz, in Fach- und Schulbüchern, in Physiksammlungen von Schulen sowie als Substantiv im Duden und im kollektiven Gedächtnis.

Danksagung

Im Juli 2011 konnte ich in der Sammlung der Smithsonian Institution zusammen mit Gregory Good vom Center for History of Physics des American Institute of Physics (AIP) in College Park und mit Roger Sherman, dem Kurator der Smithsonian Division of Medicine and Science, das Artefakt des Zählrohrs und die Laborbücher untersuchen. Die Reise wurde finanziell vom DAAD und dem AIP mit einem grant-in-aid unterstützt. Dieter Fick, Dieter Hoffmann, Christian Joas und der Quanten-Gruppe der Abteilung I vom MPI für Wissenschaftsgeschichte in Berlin haben durch zahlreiche detaillierte und klärende Gespräche sowie die Einladung ans Institut im Januar 2012 einen großen Beitrag zu meiner Arbeit geleistet. Außerdem haben drei anonyme Gutachter, sowie die Redaktion der NTM viel Zeit für kritische Anregungen zu früheren Fassungen dieses Aufsatzes aufgebracht. Jeder dieser Personen gilt mein herzlichster Dank.