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Theatralik bei Seneca, Lessing und Schiller Zur Rolle produktiver Kritik in einer komparatistischen Rezeptionsgeschichte

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Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Aims and scope Submit manuscript

das ohnedem geringe Gefühl seiner Menschheit (Lessing)

Zusammenfassung

Die Theatralik der Emilia Galotti wird aus Lessings kritischer Analyse der Wechselwirkung von Literatur und Politik in der rümischen Kaiserzeit (Livius, Seneca und Pseudo-Seneca der Octavia) abgeleitet. Dieses Verfahren erlaubt eine Beurteilung von Schillers Theatralik in Maria Stuart und Wilkelm Tell nach Lessingschen Kriterien.

Abstract

The theatricality of Emilia Galotti arises from Lessing’s critical analysis of the interaction of literature and politics at the time of Imperial Rome (Livius, Seneca, Pseudo-Seneca of Octavia). This allows the theatricality in Schiller’s Maria Stuart and Wilhelm Tell to be assessed from the point of view of Lessing’s criteria.

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Literatur

  1. Die Bedeutung Senecas für Lessing ist wiederholt herausgestellt worden, vor allem von Wilfried Barrier, Produktive Kezeption: Lessing und die Tragödien Senecas (1973)

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  2. Volker Riedel, Lessing und die römische Literatur (1976), S. 86–106.

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  3. –Unterschätzt ist die Bedeutung Senecas für Lessing bei Wolf-Lüder Liebermann, “Die deutsche Literatur,” Der Einfluß Senecas auf das europäische Drama, hrsg. Eckard Lefèvre (1978), S. 430

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  4. zwischen Lessing und Seneca könne “von einer geistigen Verwandtschaft schwerlich die Rede sein,” insbesondere bedürfe es weiterer Beweise für die Tragfähigkeit des von Barner für Lessings Seneca-Rezeption eingeführten Begriffs der produktiven Rezeption. Ich sehe dagegen Barners Rezeptionsbegriff voll gerechtfertigt und versuche nur, den von Lessing vorgegebenen komparatistischen Ansatz noch stärker in den Vordergrund zu rücken und ihn als Lessings Verfahren einer vergleichenden produktiven Kritik zu erhellen. Wie es in diesem Begriff um das Attribut “produktiv” durchaus in einem konkret produktions-ästhetischen Sinne geht, so hat die auf Klärung der eigenen Position zielende vergleichende Kritik neben dem ästhetischen auch einen literargeschichtlichen und einen historischen Aspekt, der seinerseits, zumal in Emila Galotti, von Lessings im weiteren Sinne politischem Interesse nicht zu trennen ist. Für vielfache Anregungen verpflichtet bin ich dem Buch von Gisbert Ter-Nedden, Lessings Trauerspiele: Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik (1986).

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  5. Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften, VI, hrsg. Karl Lachmann, 3. Aufl. (1890), S. 197.

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  6. Zitate aus Emilia Galotti hier wie im folgenden nach: Gotthold Ephraim Lessing, Werke, II, hrsg. Herbert G. Göpfert (1971).

  7. Seneca, Sämtliche Tragödien. Lateinisch und Deutsch, I, übers. und erl. Theodor Thomann, 2., durchges. Aufl. (1978), S. 54/55.

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  8. Zitiert nach der Übersetzung in: Erläuterungen und Dokumente: Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti, hrsg. Jan-Dirk Müller (1978), S. 32.

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  9. L. M. Hartmann, Römische Geschichte (1919), S. 39 (zitiert von H. Gundel in seinem “Verginia”-Artikel in Pauly/Wissowa, Realencyclopaedie der classischen Altertums-wissenschaft, 2. Reihe, 16. Halbband [1958], Sp. 1534).

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  10. Zur Verwandtschaft der Emilia Galotti mit der Gattung der Komödie vgl. bereits Klaus Detlef Müller, “Das Erbe der Komödie im bürgerlichen Trauerspiel: Lessings ‘Emilia Galotti’ und die commedia dell’arte,” DVjs, 46 (1972), 28–60.

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  11. Eine gute Einführung in die Octavia bietet Friedrich Bruckner, Interpretationen zur Pseudo-Seneca-Tragödie OCTAVIA, Diss. (1976, masch.). Zur geistesgeschichtlichen Stellung der Octavia in der Geschichte des europäischen Dramas sei weiter empfohlen das “Octavia”-Kapitel in Ingmar Söring, Tragödie: Notwendigkeit und Zufall im Spannungsfeld tragischer Prozesse (1985), S. 145–192.

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  12. Klaus R. Scherpe, “Historische Wahrheit auf Lessings Theater, besonders im Trauerspiel ‘Emilia Galotti,’” Lessing in heutiger Sicht: Beiträge zur Internationalen Lessing-Konferenz Cincinnati, Ohio 1976, hrsg. E. P. Harris und R. E. Schade (1977) erläutert den Unterschied von Lessings Praxis und Theorie mit einem auf den Seiten 266–69 ausführlich belegten “Lasterkatalog des Höfischen,” mit dem Lessing für die Sphäre des Hofes eine “eindringliche–und man darf sagen: parteiliche–Standescharakteristik” gelungen sei. Dabei kommt Scherpe zu dem folgenden, völlig überzeugenden Ergebnis: “Die historische Wahrheit von Lessings Emilia Galotti, die auch den künstlerischen Rang des Dramas letztendlich bestimmt, liegt eben darin, daß ein Fürst trotz seiner Empfindsamkeit und Aufgeklärtheit, seinen Anwandlungen von Menschlichkeit, als Despot vorgeführt wird. Und eben in dieser Konsequenz der ästhetischen Konzeption liegt ein Stück radikaler Gesellschaftskritik vom bürgerlichen Standpunkt aus” (S. 269).–In Scherpes höfischem Lasterkatalog begegnen neben der Bereitschaft zu Lüge und Zwang, Rechtsmißbrauch und Verbrechen auch sinnliche Ausschweifung und Langeweile. Doch was dahintersteht, demonstriert Lessing als Zusammenhang von Laune, Neid und Überdruß schon in der Expositionsszene, in der der Prinz das von Conti gemalte Bildnis Emilias mit den Worten kommentiert: “Ah! schönes Werk der Kunst, ist es wahr, daß ich dich besitze?–Wer dich auch besäße, schönres Meisterstück der Natur! … Ich höre kommen.–Noch bin ich mit dir zu neidisch. (indem er das Bild gegen die Wand kehret)…” (I,5. Hervorhebung H. D.). Des Prinzen Interesse an Gegenständen und Menschen ist wie das Neros immer nur ein Interesse auf Zeit. Solange das Interesse währt, hütet auch er den Gegenstand dieses Interesses eifersüchtig oder “neidisch,” doch ist diese Zeit begrenzt durch seine Launen.

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  13. Vgl. dagegen die Auffassung von Alois Wierlacher (“Das Haus der Freude oder Warum stirbt Emilia Galotti?” Lessing Yearbook, 5 [1973], 159), daß die “These von der geheimen Liebe der Emilia zum Prinzen als Erklärung ihrer Befürchtungen, verführt zu werden, überflüssig ist.” Überflüssig wäre diese These nur, wenn Emilia, wie Wierlacher meint, durch nichts anderes zu ihrem Todeswunsch verführt wäre als durch “die biblische Ideologic der tödlichen Gefahren der sozialen Welt” (ebd.). Solcher Reduzierung des Charakters der Emilia entspricht der Versuch, auch Odoardos Abscheu vor dem “Haus der Freude” (als Chiffre für das Hofleben überhaupt) dadurch zu diskreditieren, daß “nicht die feudalistische Mächtigkeit des Prinzen, Emilias neuerlichen Aufenthalt im ‘Haus der Freude’ anordnen zu können, sondern das biblische Bild von der tödlichen Gefährdung des Menschen durch die sinnlichen Versuchungen der sozialen Welt als Hauptursache des Todes der Emilia ausgewiesen wird…” (S. 157). Es geht nicht an, Emilias und Odoardos Abscheu vor dem Hofleben als bornierte Furcht abergläubischer Bibelfrömmigkeit vor der harmlosen Sinnlichkeit eines Tanzfestes zu erklären, angesichts dessen sie sich nach dem angeblichen Urteil des aufgeklärten Lutheraners Lessing ohne Bedenken “eine spontane affirmatio adiaphorischer Vergnügen der Geselligkeit” (S. 152) hätten erlauben dürfen. Entscheidend ist dagegen, daß Emilia, Odoardo und Appiani sich durch die scheinbare Harmlosigkeit des Festes so wenig blenden lassen wie durch den Glanz des Hoflebens überhaupt, das genau wie ihnen auch den Zuschauern vor der Bühne in den Intrigen Gonzagas, Marinellis und der Orsina unmöglich als “adiaphorisches” Beispiel “der sozialen Welt” erscheinen kann. So sind die von Wierlacher dankenswerter Weise zusammengestellten biblischen Fundstellen zu Begriffen wie “das Haus der Freude” zwar als solche richtig, bedürfen aber ihrerseits im Munde von Lessings bürgerlichen Helden, die sich darauf nicht reduzieren lassen, der Interpretation.

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  14. Dieter Borchmeyer, Tragödie und Öffentlichkeit: Schillers Dramaturgie im Zusammenhang seiner ästhetisch-politischen Theorie und die rhetorische Tradition (1973), S. 190. Borchmeyer verwendet die Formel zur Kennzeichnung der Rütli-Szene, der Apfelschußszene, der Szene mit der Ermordung Geßlers und der anschließenden ersten Szene des 5. Akts: “Schiller zieht hier alle Register theatralisch-psychagogischer Kunst: er weiß, daß die psychologische Wirkung der dramatischen Vorgänge auf die Zuschauer potenziert wird, wenn diese auf der Bühne bereits ein ‘natürliches’ Publikum sehen, das ihre eigenen Empfindungen vorempfindet und zu intensivem physischen Ausdruck bringt.”

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  15. Auch Gerd Ueding, “Wilhelm Tell,” Schillers Dramen: Neue Interpretationen, hrsg. Walter Hinderer (1979), S. 280 sieht Schillers “Stilisierung Geßlers zur Verkörperung des ‘Bösen schlechthin,’ zur ganz unmenschlichen und psychologisch unwahrscheinlichen Typenfigur, schon von Schillers Zeitgenossen tadelnd bemerkt.” Es wirkt allerdings nicht überzeugend, wenn Ueding dann unter Berufung auf Hegel Verständnis für diese “Stilisierung” äußert, da sie “doch vollkommen jenen Gestalten der griechischen Sagenwelt [entspricht], die nur dazu geschaffen waren, damit ‘die Helden sich Götterrang erkämpften.’”

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  16. Im Verginia-Drama des Montiano y Luyando sagt Icilius, der “nach Blut und Rache” dürstet: “Den Feind hinrichten und sterben, das ist das beste, was unser Unglück vergönnet” (Lessings Übersetzung in sämtliche Schriften, VI, S. 80). Nachdem Icilius dann doch zunächst vor Mordplänen zurückgeschreckt ist, weil er damit Verginia gefährden könnte, erklärt er nach ihrem Tod erneut und nun endgültig: “Die erniedrigte Vernunft verlangt den Tod des Tyrannen” (S. 118). Und sein Bericht über den nun wirklich vollführten Mord verrät, auf welche reichlich künstliche Weise Montiano y Luyando bemüht war, an dem bei Livius verzeichneten Selbstmord des Tyrannen festzuhalten und den Selbstmord dabei dennoch zugleich zum Tyrannenmord zu steigern: “Als der Tyrann sich von den Schwerdtern umringt sahe, und gewahr ward, daß ich bereits den Arm erhoben hatte, ihn ohne Erbarmen zu durchstossen, so stieß er sich sein eigenes Schwerdt durch die nichtswürdige Brust, fast in eben dem Augenblick, als er von dem meinigen durchbohrt ward” (S. 119). Wie wenig im übrigen der literarische Tyrannenmord zu Zeiten Lessings ein Thema der Zensur war, zeigt auch die Deutung der Verginia-Geschichte, mit der der Berliner Theaterdirektor J. J. Engel seine bekannte Kritik an Emilia Galotti begründete: “Auch Appius war die höchste Obrigkeit Roms, und Verginius gewiß ein eben so edeldenkender Mann, wie Odoardo: gleichwohl stand er keinen Augenblick an, das Volk gegen den Tyrannen aufzuwiegeln, und würde eben so wenig angestanden seyn, wenn es ihm sonst wäre möglich gewesen, ihn zu ermorden” (zitiert nach Erläuterungen und Dokumente [wie Anm. 9], S. 68). Überraschend ist deshalb nicht, daß Schiller im Wilhelm Tell auf den Tyrannenmord verfiel, sondern daß Lessing sich darin dem Zeitgeist verweigerte. Dieter Borchmeyer, “Altes Recht und Revolution: Schillers ‘Wilhelm Tell,’” Friedrich Schiller: Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Ein Symposium, hrsg. Wolfgang Wittkowski (1982), S. 92–94 führt mit Recht die Position Kants in dessen Theorie-Traktat von 1793 an, um Schiller im “staatsrechtlichen Zusammenhang” des Wilhelm Tell als “denkbar schroffste[n] Antikantianer” zu erweisen. Auffällig ist jedoch, trotz der Gemeinsamkeiten, doch auch wieder der Abstand zwischen Lessing und Kant. Für Kant nämlich bedurfte es für die im Theorie-Traktat verfochtene unbedingte Ablehnung des Widerstandsrechts, dessen Anhänger er zuvor gewesen war, erst der Erfahrungen der Französischen Revolution, und entsprechend begründete er dann, wiederum im Unterschied zu Lessing, seine Ablehnung des Widerstandsrechts weniger prinzipiell moralisch, als vielmehr staatsrechtlich: weil das Widerstandsrecht die “Grundfeste [des Gemeinwesens] zerstört” (S. 93).

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  17. Hedwig: “Heut kommt der Vater. Kinder, liebe Kinder! / Er lebt, ist frei, und wir sind frei und alles! / Und euer Vater ist’s, der’s Land gerettet” (V, 2. Wilhelm Tell wird hier wie im folgenden zitiert nach Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, II, hrsg. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, in Verbindung mit Herbert Stubenrauch, 2., durchges. Aufl. [1960]).

  18. Ein interessanter, leider nicht weiter ausgeführter Hinweis auf das Verhältnis von Lessing und Heinrich Mann findet sich bei Martin Bollacher, “Lessings Emilia Galotti in geistesgeschichtlicher Perspective,” Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte: Festschrift für Richard Brinkmann (1981), S. 115.

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  19. Vgl. Hans-Ludwig Siemen, Das Grauen ist vorprogrammiert: Psychiatrie zwischen Faschismus und Atomkrieg (1982), S. 27 und S. 32f.

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  20. Vgl. in Erläuterungen und Dokumente: Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, hrsg. Josef Schmidt, durchges. und bibliogr. ergänzte Ausgabe (1979), S. 104 aus dem Jahrgang 1934 der Zeitschrift für Deutschkunde: “Wir dürfen diese Worte heute verstehen als den Verzweiflungsschrei unseres gemarterten Volkes, an dessen Füßen und Händen bei jedem Schritt und Werk die Ketten von Versailles klirren. Kein Lehrer wird heute darauf verzichten wollen, den Rütlischwur: ‘Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern…’ als den Sinn unserer nationalen Erhebung zu deuten.” Als allerdings mit dem Fortschreiten des Krieges immer deutlicher wurde, daß die “nationale Erhebung” das Volk weniger aus fremden Ketten befreit hatte, als mit eigenen Ketten marterte, wurde die Gefahr immer größer, daß die Wilhelm Tell-Lektüre zur Identifizierung Hitlers nicht mit Tell, sondern mit dem Tyrannen Geßler führte. Entsprechend erging im Dezember 1941, von Hitler selbst veranlaßt, ein geheimer Brief an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, daß “das Schauspiel ‘Wilhelm Tell’ in den Schulen nicht mehr behandelt werden [soil]” (S. 104).

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  21. Dieser Sachverhalt scheint mir für eine sachgemäße Beurteilung der Rosenmetapher wichtiger als der von Peter Horst Neumann in seinem glänzend geschriebenen Lessing-Buch Der Preis der Mündigkeit: Über Lessings Dramen (1977), S. 49 hervorgehobene Umstand, daß es sich dabei um einen “Topos aus der erotischen Bildersprache” handelt. Wie Wierlacher (vgl. oben Anm. 24) die Bibelsprache der bürgerlichen Helden verabsolutiert, so Neumann die erotische Bildersprache, und zwar in Ausweitung der psychologischen in eine psychoanalytische Betrachtungsweise, in der er Wert darauf legt, daß “beide Arten des blumigen Todes” (nämlich “entblättert” oder “blühend gebrochen”) “wörtlich und metaphorisch ‘Defloration’ bedeuten,” so daß für ihn “ein Hauch von Inzest über die Rampe went.” Daß Odoardo in der “Kindestötung” obendrein die archaisch-römische potestas patria ausübt, also “das Recht des Vaters, über Tod und Leben seines Kindes zu verfügen…” (S. 42), gehört insofern zur psychoanalytischen Deutung, als durch das Verginiuszitat “jene tödliche Komponente der Vater-Gewalt vermittelt [wird], die den verborgenen Autoritätskern jeder leiblichen Vaterschaft ausmacht” (S. 43). Gesetzt aber, daß Lessing Anliegen in Emilia Galotti wirklich die “Problematisierung der Vater-Rolle” war, so scheint mir doch der Problematisierung der Kindes-Rolle dabei der höhere Stellenwert zuzukommen. Es ist ein methodischer Fehler, über historischen und sachlichen Herleitungen die vom Stück und seiner jeweiligen Dramaturgic bestimmten Ziele und Motive der Figuren aus dem Auge zu verlieren. Neumann erklärt: “Die Tötung des Herrschers ist das naturrechtliche Analogon des Patrizids. Nach dieser Analogie kann Odoardo durchaus nicht zum Mörder des Prinzen werden. Ebensowenig dörfte er sich selber richten” (S. 44). Warum sollte er es aus diesen Grönden nicht können und nicht dürfen? Nach der im Affekt begangenen Tat rechtfertigt Odoardo die Entscheidung, die Tochter zu töten, nicht mit dem väterlichen ius vitae ac necis über die Kinder, sondern erklärt seine Tat für ein Verbrechen. Wenn die naturrechtliche Analogie von Tötung des Herrschers mit dem Patrizid bei seinen anschließenden Entscheidungen gegen den Selbstmord und gegen den Tyrannenmord eine Rolle hätte spielen sollen, dann hätten auch diese Entscheidungen im Affekt fallen müssen, also ohne Kontrolle seines Bewußtseins. Die Frage: “Was habe ich getan?” signalisiert aber deutlich die Rückkehr des Bewußtseins, und Neumanns These ist hinfällig, weil sie den aufklärerischen Lernprozeß Odoardos verkennt, der strukturell den vom antiken Drama vorgegebenen Wandel vom “rasenden” zum “vernünftigen” Hercules nachvollzieht. Zum Problem des Verhältnisses literarischer und außerliterarischer (in diesem Falle soziologischer) Belege vgl. den wichtigen Aufsatz von Hinrich C. Seeba, “Das Bild der Familie bei Lessing: Zur sozialen Integration im bürgerlichen Trauerspiel,” Lessing in heutiger Sicht: Beiträge zur Internationalen Lessing-Konferenz Cincinnati, Ohio 1976, hrsg. E. P. Harris und R. E. Schade (1977), S. 307–321.

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  22. Mit einer Fülle von Belegen hat sich Walter Jens in seinem Vortrag “Nathan der Weise aus der Sicht von Auschwitz: Juden und Christen in Deutschland” (in W. J., Kanzel und Katheder: Reden [1984], S. 45) nachdrücklich gegen die Tendenz verwahrt, den Juden Nathan in ein “Traumreich der Humanität” zu versetzen.

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Delbrück, H. Theatralik bei Seneca, Lessing und Schiller Zur Rolle produktiver Kritik in einer komparatistischen Rezeptionsgeschichte. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 63, 219–252 (1989). https://doi.org/10.1007/BF03396336

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