Zusammenfassung
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1.
Die neurophysiologischen Grundlagen des synaptischen Mechanismus sensomotorischer Funktionen, d. h. ihrer zentralnervösen Erregungsleitung von Zelleinheit zu Zelleinheit werden systematisch dargestellt. Die Begrenzung der Erregungsausbreitung durch Auslese der wenigen benutzten Synapsen aus der Vielzahl der vorhandenen anatomischen Verbindungen ist für eine geordnete Funktion wichtiger als die Frage, wie die synaptische Übertragung vor sich geht.
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2.
Die Neuronentheorie liefert die besten anatomischen Grundlagen für die Neurophysiologie. Der Neurit (Axon) ist als effektorischer Teil der Nervenzelle allgemein anerkannt. Die Funktion der Dendriten ist weniger klar. Es wird wahrscheinlich gemacht, daß die Zellwandungen mit den Dendritenansätzen einerseits und die dort ankommenden Endknöpfe andrerseits die receptorisohe Funktion ausüben und daß die Dendritenverzweigungen nicht Receptoren, sondern rückmeldende Modulatoren des Neurons darstellen.
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3.
Die an einzelnen Nervenfasern gewonnenen Ergebnisse über schwellennahe Reizbedingungen, die entweder eine lokale Erregung oder eine fortgeleitete Entladung ergeben, werden in Beziehung gebracht zu den Verhältnissen an den Berührungsstellen der Endknöpfe mit den Zellwänden, Die Ausbreitungsbedingungen für kleinflächige Reizungen, etwa eines einzelnen Endknopfes, sind zu ungünstig für eine fortgeleitete Entladung. Erst durch das Aktionspotential mehrerer benachbarter in 1 msec fast gleichzeitig erregter Endknöpfe bildet sich ein Erregungsfokus (EF), der eine fortgeleitete Erregungswelle mit Entladung der Nervenzelle einleitet. Die Erfüllung aller für den EF nötigen räumlichen und zeitlichen Bedingungen ist so selten, daß damit eine Auslese aus den unendlich vielen anatomischen Verbindungsmöglichkeiten erfolgen kann. Die hier für den EF formulierten Bedingungen mehrfacher gleichzeitiger Aktionspotentiale an benach-barten Endknöpfen der Zellmembran passen zu unseren bisherigen Kenntnissen über die Latenzzeit und die Einbahnleitung der Synapse.
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4.
Der Mechanismus der synaptischen Hemmung wird dargestellt als Störung der Voraussetzungen zur Bildung eines EF durch die Refraktärperiode anderer vorzeitig im Gebiet des EF eintreffender Erregungen.
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5.
Am Rückenmark können aus dem monosynaptischen Eigenreflex und dem mehrsynaptischen Fremdreflex die Elementarvorgänge isoliert werden. Wichtig ist die Tatsache, daß es zwischen schwächsten und stärksten Reflexreizen kaum zu einer Verkürzung der Reflexzeiten kommt, woraus das Gesetz des „Monochronismus der Synapse“ abgeleitet wird.
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6.
Die mehrfachen Wellen in den Fremdreflexentladungen des Beugereflexes sind wiederholte Entladungen der gleichen Motoneurone, die auch die erste, meist stärkere Welle erzeugen. Der konstante Abstand der Wiederholungen wird als je ein Kreislauf durch die Zwischenneuronkette angesehen.
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7.
Gleichzeitig mit der Entladung eines Motoneurons wird vermutlich über die Dendriten eine Rückmeldung in die Zwischenneurone ausgesandt. In dieser Funktion wird ein wichtiges Mittel der Eigenkontrolle des ZNS zur Begrenzung des Erregungsniveaus gesehen. Diese Rückmeldung erklärt auch die hemmenden Wirkungen einer antidromen Reizung der Motoneurone, die wegen der Fähigkeit dieser Zellen, nach 2–3 msec ihre Entladung zu wiederholen, nicht mehr als einfache Refraktärperiode der Synapsen an den Motoneuronen gedeutet werden kann.
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8.
Verschiedene andere Theorien der synaptischen Übertragung werden der hier vertretenen Aktivierung durch das gleichzeitig ankommende Aktionspotential der Endknöpfe gegenübergestellt. Chemische und elektrotonische Wirkungen können wahrscheinlich die Synapsenbedingungen nur modifizieren, aber nicht selbst die Erregungsbedingung der Synapse bilden.
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9.
Die wichtigsten physiologischen Faktoren der Gedächtnisleistungen, Übungs- und Bahnungsphänomene werden im Sinne der Neuronenlehre und der oben dargestellten Synapsentheorie besprochen. Die Synapsenbedingungen sind die entscheidenden Punkte für die Steuerung nervöser Impulse und können als möglicher Ort der Gedächtniseinprägungen gelten. Es wird angenommen, daß Membran-veränderungen nach einem erfolgreichen EF als „Spuren“ der Synapse zurückbleiben, die spätere Erregungen an dieser Stelle begünstigen. So könnte die Bahnung selbst komplizierterer Ausbreitungsphänomene als Erregungssteuerung über eine Vielzahl speziell begünstigter Synapsen gedeutet werden.
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10.
Die Krampfentladungen nach Elektroschock werden als Ergebnis einer starken Gleichgewichtsstörung zwischen aktivierenden und hemmenden Kräften der Neurone während der Reizwirkung betrachtet. Allgemein können Krampfentladungen eher durch ungenügende Hemmungsfunktionen als durch übersteigerte Erregbarkeit erklärt werden. Die Bedeutung dieser Ansichten für die therapeutische Anwendung des Krampfes in der Psychiatrie wird kurz diskutiert.
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Die Grundlagen dieser Arbeit wurden 1946 während einiger Monate unfreiwilliger Muße niedergeschrieben. Die endgültige Ausarbeitung verdanke ich freundschaftlicher Zusammenarbeit, langen Diskussionen und gemeinsamen Experimenten mit R. Jung. Herrn Prof. P. Hoffmann danke ich für viele Anregungen und die Arbeitsmöglichkeit in seinem Institut.
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Tönnies, J.F. Die Erregungssteuerung im Zentralnervensystem. Archiv für Psychiatrie und Zeitschrift Neurologie 182, 478–535 (1949). https://doi.org/10.1007/BF00340258
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