Im dramatischen Werk von Andreas Gryphius nimmt Cardenio und Celinde einen besonderen Platz ein. Oft hat die Forschung auf die Sonderstellung des Trauerspiels hingewiesen und dessen experimentellen Charakter anhand seines Vorwortes diskutiert.Footnote 1 Dort entschuldigt sich nämlich der Dramatiker bei seinen Leser*innen für die Nichteinhaltung der Ständeklausel:

Die Personen so eingeführet sind fast zu nidrig vor ein Traur-Spiel/ doch haette ich disem Mangel leicht abhelfen koennen/ wenn ich der Historien (die ich sonderlich zu behalten gesonnen) etwas zu nahe treten wollen.Footnote 2

Neben diesen poetologischen Überlegungen zeichnet sich die Vorrede des Autors durch ihre Aufmachung als Rahmenerzählung aus: Ein angenehmer Abend unter Freunden in Amsterdam habe ihn veranlasst, so Gryphius, „den Verlauf dieser zwey ungluecklich Verlibeten zu erzehlen.“Footnote 3 Auf den ersten Blick hat das Vorwort die Funktion eines paratextuellen Diskurses, den man mit Gérard Genette als „geeigneten Schauplatz für eine Pragmatik und eine Strategie, ein Einwirken auf die Öffentlichkeit im gut oder schlecht verstandenen oder geleisteten Dienst einer besseren Rezeption des Textes und einer relevanten Lektüre“Footnote 4 definieren kann. Entsprechend dieser Definition wird das Trauerspiel mit einer captatio benevolentiae eingeführt, die die bemerkenswerte Diskrepanz zwischen der elocutio und der inventio entschuldigen soll:

Die Art zu reden ist gleichfalls nicht vil ueber die gemeine/ ohn daß hin und wider etliche hitzige und stechende Wort mit unterlauffen/ welche aber den Personen/ so hir entweder nicht klug/ oder doch verlibet; zu gut zu halten.Footnote 5

Der Dichter bedauert die stilistische Inkongruenz seines Trauerspiels, verwirft jedoch die erzählerische Form, deren Wahl ihn dazu verleitet hätte, „eine Thorheit zu begehen.“Footnote 6 Entgegen der Annahme, das Vorwort diene der Selbstinszenierung des Autors, ist Gryphius zunächst darauf bedacht, als Privatmann und unterhaltsamer Geschichtenerzähler in Erscheinung zu treten: „Zu foerderst aber wisse der Leser/ daß es Freunden zu gefallen geschriben; welche die Geschicht sonder Poetisch Erfindung begehret!“Footnote 7 Erst die Niederschrift der „begehrten Geschicht-Beschreibung“Footnote 8 stellt Gryphius vor seine eigentliche Aufgabe als Trauerspieldichter, der um die Erweiterung des poetologischen Spielraums bemüht ist.Footnote 9

1 Das Verschwinden des Übersetzers im Vorwort

Barbara Mahlmann-Bauer deutet hingegen Gryphius’ Abwehrhaltung gegenüber der erzählerischen Form positiv, indem sie seine dramaturgische Leistung hervorhebt. In diesem Sinne könne die „Transformation einer Liebesgeschichte in ein Bekehrungsdrama […] von zeitgenössischen Lesern, die mit protestantischer Erbauungsliteratur und moralischen Anweisungen vertraut sind, als gelungene Übernahme eines fremdländischen Musters geschätzt werden.“Footnote 10 Damit ist die Vorlage für Cardenio und Celinde gemeint, die Erzählung La fuerça del desengaño aus der Novellensammlung Sucesos y prodigios de amor (1624) von Juan Pérez de Montalbán, dem Dichter des Siglo de Oro. Trotz der späteren Quellenidentifizierung sei jedoch rätselhaft, so Mahlmann-Bauer, wieso der Dramatiker seine Vorlage nicht angebe.Footnote 11 Im Gegenteil verwischt Gryphius m.E. die Spuren geradezu, indem er die Herkunft des Erzählstoffes in die Rahmenerzählung eines launigen Abends unter Freunden einfügt. In diesem Zusammenhang erfüllt die Vorrede an den Leser die Funktion einer „Schwelle“, die Gérard Genette in Anlehnung an Antoine Compagnon auch als „‚unbestimmte Zone‘ zwischen innen und außen“Footnote 12 kennzeichnet. Diese „unbestimmte Zone“ ist nach Genette dadurch charakterisiert, dass sie „selbst wieder keine feste Grenze nach innen (zum Text) und nach außen (dem Diskurs der Welt über den Text) aufweist.“Footnote 13 Es scheint, als würde Gryphius durch die Spurenverwischung den Verdienst seiner Übersetzungsleistung herunterspielen, die jedoch zugleich die Übertragung einer Novela in ein Trauerspiel bedeutet. Auf den ersten Blick wertet der anerkannte Dichter seine Rolle als Kulturvermittler ab, indem er sich anscheinend konträr zu seinen möglichen Aufgaben als Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft verhält, deren Übersetzungsarbeit Ulrike Gleixner mit folgenden Worten bewertet: „Das Eigene entwickelt sich […] im Austausch mit dem Fremden und zwar nicht unter dem Vorzeichen einer polarisierten Abgrenzung, sondern in produktivem Austausch und tiefem Respekt.“Footnote 14 Stattdessen erwähnt Gryphius in der Vorrede an den Leser das Befremden seiner Freunde gegenüber „des Cardenio Begebnueß/ welche man [ihm] in Italien vor eine wahrhaffte Geschicht mitgetheilet […].“Footnote 15 Die Anspielung auf eine italienische Quelle wird in der Sekundärliteratur so gedeutet, dass Gryphius Montalbáns Erzählung durch die Übersetzung des Geistlichen Biasio Cialdini gekannt hat.Footnote 16 Allerdings kann dieser Umweg über Italien auch als Strategie eines Autors bewertet werden, dessen Übersetzungswerk Astrid Dröse durch eine gewisse „Italophilie“ geprägt sieht, „die sich auch in anderen Segmenten des Œuvres manifestiert und durch seine Italienreise befördert“Footnote 17 worden sei.

Selbst wenn der Trauerspieldichter beiläufig erwähnt, dass er Montalbáns Erzählung durch ihre italienische Übersetzung kennengelernt habe, gibt das Vorwort aufgrund der fehlenden Quellenangabe keine eindeutige Lektüreanweisung von Cardenio und Celinde. Aus diesem Grund besteht meiner Meinung nach eine Spannung zwischen Autorschaft und Übersetzung, die bereits im Aufbau der Rahmenerzählung erkennbar ist. Ein vergleichbares Phänomen lässt sich an den Paratexten von Johann Fischarts Geschichtsklitterung beobachten, deren Zusammensetzung Erich Kleinschmidt folgendermaßen analysiert: „Autorschaft manifestiert sich […] in einem komplizierten Modus von symbolischer Setzung und deren Aufhebung.“Footnote 18 Fischarts Spiel mit der Autorenidentität bewege sich, so Kleinschmidt, „zwischen Selbstdarstellung und Selbstmaskierung“Footnote 19 und werde somit „in die Nähe des karnevalesken Geschehens“Footnote 20 gerückt, das bereits in der französischen Übersetzungsvorlage thematisiert werde. Der entscheidende Unterschied zu Gryphius ist aber, dass der Übersetzer Fischart seine Quellen angibt – François Rabelais’ Gargantua und Pantagruel –, obwohl er erheblich von ihnen abweicht. Dennoch stellt Cardenio und Celinde in ähnlicher Weise die Frage nach der Selbstinszenierung des Autors, die gerade mit Gryphius’ Übersetzungstätigkeit zusammenhängt. In beiden Fällen fungieren die Paratexte als „Reiz- und Wahrnehmungsschwellen“Footnote 21, die im Trauerspiel zur Hinterfragung der tatsächlichen Kulturvermittlung führen. Denn die produktive Aneignung des ursprünglichen Novela-Stoffes tritt hinter die Originalität der Handlung von Cardenio und Celinde zurück, als wolle sich Gryphius zunächst als weit gereisten Geschichtensammler inszenieren. Ohne mich auf die Quellenforschung zu beschränken, möchte ich im Folgenden diese Fragen behandeln, um eine mögliche Verbindung zwischen Gryphiusʼ Trauerspiel und einem verlorenen Stück Shakespeares herzustellen, das auch die Geschichte von Cardenio behandelt. Dabei geht es mir um die Analyse von kulturellen Austauschprozessen, wie sie von Stephen Greenblatt in Verhandlungen mit Shakespeare beschrieben werden. So können „die Spuren der sozialen Zirkulation in den Texten“Footnote 22 zurückverfolgt werden, welche etwa die Verbreitung eines spanischen Erzählstoffes in unterschiedlichen Übersetzungskulturen erklären. Als exemplarisch für diese Spurensuche gilt Roger Chartiers bisher noch nicht ins Deutsche übersetztes Buch Cardenio entre Cervantès et Shakespeare. Histoire d’une pièce perdue.Footnote 23 Mein Beitrag versteht sich als Ergänzung zu seiner Studie, die sich hauptsächlich mit dem elisabethanischen Theater beschäftigt und die deutschsprachige Literatur des 17. Jahrhunderts leider nicht berücksichtigt. Doch gerade Cardenio und Celinde bietet die Möglichkeit an, Chartiers Analyse der Übersetzungskultur in der Frühen Neuzeit perspektivisch zu erweitern und vielleicht auch Rückschlüsse auf Gryphius’ Kenntnisse über die fremdsprachliche Literatur seiner Zeit zu ziehen.

2 Mit Don Quijote auf Cardenios Spuren in Spanien

Bekanntlich führt die Suche nach einem Ur-Cardenio zu Miguel de Cervantes’ Don Quijote: Der Titelheld begegnet in der Sierra Morena einem jungen andalusischen Edelmann, der sich, geplagt von Liebeskummer, aus der Welt zurückgezogen hat. Cardenios Geschichte erstreckt sich über mehrere Kapitel des ersten Romanbuches und fungiert als Binnenerzählung in den Abenteuern des Titelhelden. Alle Variationen des Cardenio-Stoffes teilen, wie Helmut Göbel zu Recht anmerkt, „die Problematik der Eindämmung der Liebesleidenschaft […] oder, allgemeiner, die Beherrschung der Affekte.“Footnote 24 Zwar ist Cardenio nicht die erste literarische Figur, an deren Beispiel sich die Folgen der Leidenschaft verdeutlichen lassen, erinnert doch seine Ausgangssituation an den Orlando furioso des Ariost. Darüber hinaus bieten die unterschiedlichen Paarkonstellationen, mit denen der Cardenio-Stoff weiterentwickelt wurde, den Figuren eine gewisse Handlungsfreiheit. Während Cervantes an einer Paarsymmetrie festhält, die hauptsächlich zur Konfrontation zwischen Cardenio und dem Nebenbuhler Fernando im Ringen um das Herz von Luscinda führt, haben seine Nachfolger*innen mehrheitlich den Fokus auf die Entscheidungsmöglichkeiten der beiden Hauptfiguren verlegt. So wurden die Paare verdoppelt, um die Thematik der Beständigkeit ihrer jeweiligen Beziehung einzuführen.Footnote 25 Dies ist etwa der Fall bei Gryphius, der in Anlehnung an Montalbáns Novelle La fuerça del desengaño an Celindes Seite die Figur ihres verstorbenen Liebhabers Marcellus stellt, der post mortem ein Gegenwicht zum Protagonisten bildet. Diese Verdopplung hat dazu geführt, dass bei der Rückverfolgung des Cardenio-Stoffes oft auf eine andere eingeschobene Erzählung des Don Quijote hingewiesen wurde: El Curioso impertinente behandelt den Versuch eines Ehemanns, die Treue seiner Frau auf die Probe zu stellen, indem er einen Freund dazu animiert, sie zu verführen.Footnote 26 So hat Chartier festgehalten, dass Cervantes’ Roman zunächst als Novellenanthologie rezipiert wurde, die die Möglichkeit einer Dramatisierung der unterschiedlichen Liebeskonflikte anbot.Footnote 27

Man stößt also schnell auf die Grenzen einer tradierten Stoff- und Motivgeschichte, die sich in der vielschichtigen Rezeption von Don Quijote nicht erübrigt. Letztere bleibt zwangsläufig lückenhaft, zum einen weil Cervantes’ Roman außerhalb von Spanien lange vor seiner Übersetzung bekannt wurde, zum anderen weil er die Thematik mit anderen literarischen Werken aus seiner Zeit teilt.Footnote 28 Aus diesen Gründen ist nicht auszuschließen, dass andere Quellen in Betracht gezogen werden müssen, um die Entstehungsgeschichte von Cardenio und Celinde zu rekonstruieren. In diesem Sinne plädiert Helmut Göbel für eine erweiterte Kontextualisierung des Trauerspiels, die zum Verständnis seiner „Besonderheiten“ beitragen soll, „wenn gefragt wird im Horizont europäischer Parallelen zu Thema und Gattung.“Footnote 29 Doch allein die Gattungsfrage erweist sich als problematisch. In seinem Vergleich zwischen Gryphius’ Trauerspiel und Shakespeares Romeo und Julia hat Thomas Borgstedt zu Recht angemerkt, dass beide Stücke auf einen Novellenstoff zurückgreifen. Dadurch sei „das Modell der hohen Tragödie erheblich strapaziert“, was letztendlich „zum neuartigen Gattungsmodell einer Liebestragödie“Footnote 30 geführt habe. Allerdings ist die somit konstatierte „Gattungsunsicherheit“ nicht so sehr „ungewöhnlich“Footnote 31, weist sie doch ähnliche Merkmale wie die französische Tragikomödie auf, die sich wiederum am Modell der spanischen Comedia de capa y espada orientiert.Footnote 32 So hat Pichou 1634 mit Les folies de Cardenio ein Stück auf die Bühne gebracht, dessen romanhafte Handlung der Vorlage Cervantes’ relativ eng folgt und sie sogar, entgegen den später formulierten Einheitsregeln der tragédie classique, räumlich darstellt.Footnote 33 Es bleibt dahingestellt, ob Gryphius Kenntnis von der Tragikomödie eines relativ unbekannten Autors wie Pichou hatte, von dem nicht einmal der Vorname überliefert ist. Fest steht aber, dass neben den möglichen Entwicklungen des Cardenio-Stoffes im Hinblick auf die unterschiedlichen Figurenkonstellationen den Dramatiker*innen auch die Freiheit blieb, den Konflikt zwischen den Liebesaffekten und der Gesellschaftsordnung unterschiedlich zu deuten und zu gestalten. Da Borgstedt die Schlüsselszene von Cardenio und Celinde als „eine sakralisierte Umkehrung von Romeo und Julia in der Gruft“Footnote 34 liest, erweist sich die Suche nach Shakespeares Cardenio als sinnvoll. Bekanntlich hat der englische Dramatiker die Motive seiner eigenen Stücke oft variiert, sodass eine zu Romeo und Julia entgegengesetzte Konfliktlösung in einer verschollenen Tragödie durchaus möglich wäre.

3 Verwegene Wege nach England: Shakespeares verlorenes Cardenio-Stück

Umstritten bleibt die Frage, ob Gryphius unmittelbare Kenntnis von Shakespeares Werk hatte. Als wahrscheinliche Vermittler*innen gelten die Wanderkomödiant*innen, die das elisabethanische Theater für ein deutschsprachiges Publikum adaptiert und vereinfacht haben.Footnote 35 Ich schließe mich aber Nicola Kaminskis Meinung an, die am Beispiel von Peter Squenz andere Rezeptionswege für möglich hält.Footnote 36 Aufgrund der Geschichte Schlesiens und der Ausbildung Gryphius’ ist der Lebensweg des Autors eng mit der kurpfälzischen Familie verbunden, was sich auch in seinem Werk niederschlägt. Über dieses Adelsgeschlecht lässt sich wiederum eine Verbindung zur königlichen Dynastie der Stuarts herstellen, welche bekanntlich für die Entstehung des Carolus Stuardus von Bedeutung ist.Footnote 37 Die Allianz der beiden europäischen Adelsfamilien wurde 1613 durch die Heirat des Kurfürsten von der Pfalz, des späteren Winterkönigs Friedrich V. mit Elisabeth Stuart, der Schwester von Karl I. von England, besiegelt. Im Zusammenhang mit dieser Hochzeit ist in einem Rechnungsbuch des königlichen Kämmerers die Aufführung eines Stückes mit dem Titel Cardenno durch The King’s Men verzeichnet.Footnote 38 Als prominentes Mitglied dieser Schauspieltruppe war Shakespeare zweifelsohne an der Entstehung dieses Dramas beteiligt. In Cardenio entre Cervantes et Shakespeare hat Chartier durch das Zusammentragen weiterer Indizien, insbesondere im Bereich der Buchgeschichte, glaubhaft machen können, dass dieses Cardenno identisch mit einer Shakespeare zugeordneten History of Cardenio ist, deren Eintrag 1653 im Register des Londoner Verlagsbuchhändlers Humphrey Moseley erscheint.Footnote 39 Chartier weist auch darauf hin, dass, obwohl Shakespeare durch die Folio-Ausgabe als eigenständiger Theaterautor früh nach seinem Tod anerkannt wurde, nur ein Bruchteil der damaligen Dramenproduktion gedruckt wurde.Footnote 40 Diese Diskrepanz erklärt meiner Meinung nach, warum Cardenio unabhängig von seinem Verfasser und trotz lückenhafter Editionsgeschichte als Theaterstück verbreitet werden konnte, dessen Inhalt Gryphius vielleicht bekannt war. In dieser Hinsicht spielt die Pfalzgräfin Elisabeth vermutlich eine entscheidende Rolle. Als Tochter des Winterkönigs lebte sie ab 1627 im Exil in Den Haag. Gryphius’ Biograph Johann Theodor Leubscher schreibt, dass der schlesische Dichter während seiner Studienzeit in Leiden mit „der sehr gebildeten Prinzessin“Footnote 41 in regem Austausch stand. Ob Shakespeares Cardenio Gegenstand ihrer Gespräche war, ist nicht bekannt. Gleichwohl durfte dessen Erstaufführung von besonderer Bedeutung für die kurpfälzische Familie gewesen sein, da sie wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Hochzeit zwischen Friedrich V. und Elisabeth Stuart stattfand.Footnote 42

Ein Gegenstand weiterer Spekulationen ist die Suche nach dem verlorenen Drama Shakespeares, die laut Chartier ab den 1990er Jahren „ein veritables Cardenio-Fieber“Footnote 43 aufgelöst habe. Mit der Aufnahme von Double Falsehood, or the Distrest Lovers in die Werkausgabe von Arden Shakespeare scheint die Suche 2010 beendet worden zu sein. Allerdings ist die Persönlichkeit des Entdeckers und Herausgebers des verlorenen Cardenio, Lewis Theobald, nicht unumstritten. Chartier bezeichnet seine editorische Arbeit als typisch für das schizophrene Verhältnis der Verleger und Dramatiker im 18. Jahrhundert zum so-genannten Nationaldichter der englischen Literatur.Footnote 44 Zwar habe Theobald mit seinem Shakespeare Restor’d die Autorschaft des englischen Dichters befestigt, zugleich aber sein Werk durch gewisse Bearbeitungen frei rekonstruiert und zum Teil entstellt. Problematisch ist auch die Tatsache, dass Double Falsehood ohne direkten Bezug auf ein Originalmanuskript herausgegeben wurde. Theobald hat nämlich seine Quellen nicht preisgegeben.Footnote 45 Indessen ist der Vorwurf, er habe eine Fälschung geschrieben, erst in den letzten Jahren durch philologische Untersuchungen entschärft worden, welche das wiedergefundene Cardenio als Zusammenarbeit zwischen John Fletcher und Shakespeare bewertet haben.Footnote 46 Die Frage nach der Einzelautorschaft ist ein immer wiederkehrendes Thema der Shakespeare-Forschung, das auch im Fall von The Second Maiden’s Tragedy von besonderer Bedeutung ist. Der unabhängige Handschriftenexperte Charles Hamilton, der die Hitler-Tagebücher frühzeitig als Fälschung aufgedeckt hat, behauptet aufgrund einer Manuskriptanalyse in einem 1994 veröffentlichten Buch, dass das von The King’s Men 1611 aufgeführte Stück Cardenio sei.Footnote 47 Stilistische und paläographische Analysen haben nicht ausgeschlossen, dass Shakespeares Handschrift in The Second Maiden’s Tragedy erkennbar sei.Footnote 48 Dennoch herrscht in der Forschung der Konsens, dass der Erstautor der Tragödie Thomas Middleton ist, was 2007 zur Veröffentlichung von The Second Maiden’s Tragedy in der Gesamtausgabe der Werke von Middleton unter dem Titel The Lady’s Tragedy geführt hat. Die Assoziierung von Middletons Tragödie mit Cervantes’ Ur-Cardenio beruht auf der Paarsymmetrie, die jedoch nur durch eine relativ lose Verbindung zwischen Haupt- und Nebenhandlung begründet wird. Beide Handlungsebenen eint die Thematik der Liebesaffekte und die Erprobung der Tugend, der die weiblichen Figuren zum Opfer fallen, indem sie Selbstmord begehen.Footnote 49 Indes erinnert die Nebenhandlung eher an die Novelle El Curioso impertinente als an Cardenio, während in der politischen Haupthandlung am Beispiel der TyrannenfigurFootnote 50 die fatalen Folgen eines affektgetriebenen Handelns dargestellt werden.

4 Autopsie des Textes: Leichen bei Gryphius und Middleton

Middletons Lady’s Tragedy ist insofern bemerkenswert, als das Stück mit Gryphius’ Cardenio und Celinde die Thematik der Leichenschändung teilt. In der Schlussszene der Tragödie lässt der Tyrann die Leiche der Lady exhumieren und ihr Gesicht schminken, um sie mit der Kraft seiner sexuellen Lust ins Leben zurückzuholen:

The heat wants cherishing, then. Our arms and lips

Shall labour life into her. Wake, sweet mistress,

’Tis I that call thee at the door of life!

[He kisses her]Footnote 51

In Gryphiusʼ Trauerspiel ist es Celinde, die in die Gruft ihres verstorbenen Geliebten hinabsteigt. Cardenio beobachtet, so Maximilian Bergengruen, „wie sie im Begriff ist, Marcellus’ liebendes bzw. geliebt habendes Herz herauszuschneiden.“Footnote 52 Während in The Lady’s Tragedy der nekrophile Akt unmittelbar vor den Augen der Zuschauer*innen vollzogen wird, lässt Gryphius zunächst Cardenio über das Handlungsgeschehen berichten:

Was aber find ich hir! wie? Ein entseelte Leich

Gelehnt an diese Maur! von Fäule blau und bleich

Verstelltes Todten-Bild! Weit eingekruempffte Lippen!Footnote 53

Cardenios’ tatsächliche Bekehrung findet also unter dem Eindruck der Leichenschändung statt, wie Gudrun Bamberger zu Recht anmerkt: Ziel seines Berichtes sei es, „seine eigene überwundene Situation anhand dessen zu begreifen, was er an Celinde beobachtet.“Footnote 54 Erst in der darauf folgenden Abhandlung werden die Folgen der Leichenschändung für Celinde in deren Erzählung über das Geschehen in der Gruft vorgestellt und bearbeitet. Im Gegensatz zum Tyrannen in Middletons Tragödie agiert die Protagonistin nicht allein, sondern wird von der Zauberin Tyche in Begleitung des Kirchendieners Cleon verführt und teilt dennoch ihre Skepsis mit, als ihr die Leichenschändung als Heilmittel empfohlen wird: „Man kan ja jedes Bild mit schoener Farb anstreichen.“Footnote 55 Dennoch erfüllt meiner Meinung nach in Cardenio und Celinde die schwarze Magie die gleiche Funktion wie die Schminke auf dem Gesicht der toten Lady, die ihre Leiche zum Leben wieder erwecken soll. Das von Gryphius entworfene „Horror-Szenario“Footnote 56, das laut Eberhard Mannack vor den Gefahren der schwarzen Magie warnen soll, ist durchaus vergleichbar mit Middletons abschreckender Vorführung eines Leichnams, dessen Verwesung nur mit Mühe kaschiert wird: „The dainty preserv’d flesh, how soon it moulders.“Footnote 57 In beiden Fällen hängt die Leichenschändung mit der Verwechslung zwischen Schein und Sein zusammen, welche die Figuren auf den Irrweg einer verkehrten Welt führt, in der das Seelenheil in der Vergänglichkeit der irdischen Liebe gesucht wird. Die religiöse Dimension wird in beiden Stücken durch den Auftritt von Gespenstern verstärkt, die auf den Dualismus zwischen Körper und Seele hinweisen. In Middletons Tragödie tritt in der Schlussszene der Geist der Lady auf, während vor Celinde der Geist von Marcellus als Ritterfigur erscheint, die, so Nicola Kaminski, „den sündigen Menschen […] zur Umkehr bewegen“Footnote 58 soll:

Deß Höchsten unerforschliches Gerichte;

Schreckt eure Schuld durch dises Traur-Gesichte

Die jhr mehr tod denn ich! O selig ist der Geist

Dem eines Todten Grufft den Weg zum Leben weist.Footnote 59

In von protestantischen Autoren verfassten Dramen stellt sich trotzdem die Frage nach dem Stellenwert der Geistererscheinungen. Deren theatralischen Einsatz verteidigt Gryphius in seiner Vorrede gegen diejenigen, „die alle Gespenster und Erscheinungen als Tand und Mährlin oder traurige Einbildungen verlachen.“Footnote 60 Sarina Tschachtli merkt zu Recht an, dass die Gespenster von Olympia und Marcellus „keine transzendente[n] Eingriffe ins Geschehen“ seien, sondern dass sie „die prekäre Diesseitigkeit der Figuren“Footnote 61 spiegelten, die in ihrem Wunschdenken verfangen seien. In The Lady’s Tragedy ist die dramaturgische Konfiguration anders, da der Geist der Lady aktiv in das Geschehen eingreift. In dem vierten Aufzug besucht der abgesetzte König Govianus das Grab seiner verstorbenen Geliebten, die ihm als Geist erscheint und von dem Leichenraub durch den Tyrannen erzählt. Govianus wird von der Verstorbenen beauftragt, deren Körper und Seele wieder zu vereinigen: „My rest is lost. Thou must restor’t again.“Footnote 62 Verkleidet als Maler, der ein Porträt der Lady anfertigen soll, rächt sich Govianus, indem er vergiftete Schminke auf das Leichengesicht aufträgt, die dem Tyrannen den sprichwörtlichen Kiss of Death gibt. Nach dem Rachevollzug verabschiedet sich der Geist der Lady von Govianus mit folgenden Worten: „My truest love,/ Live ever honoured here and blest above.“Footnote 63 Govianus’ Mitwirkung an der Leichenschändung, die Teil seines Racheplans ist, führt zu einer anderen Bewertung der Geistererscheinung als in Cardenio und Celinde. Renate Zimmerman liest das Stück im Kontext der protestantischen Kritik an der Bilderdarstellung und unterscheidet zwischen der politischen Handlung der Rachetragödie und Govianus’ problematischem Umgang mit der Leiche seiner Geliebten, welcher ihn als Konkurrent des Tyrannen zeigt: „The play may demonize the Tyrant as monster, but the presumed forces of virtue ultimately prove complicit to his transgression.“Footnote 64 Govianius’ zweideutige Haltung stellt Zimmerman die Aussagen der „Spirit of the Lady“ entgegen, die sie wie folgt interpretiert: „The Lady’s overvaluation of her corpse unavoidably evokes the Catholic fixation with materiality so inimical to reformists […].“Footnote 65 Die Körperthematik in Middletons Tragödie erweist sich eigentlich als Problematisierung des katholischen Dualismus zwischen Leib und Seele. Bei Gryphius handelt sich um eine andere Perspektive, die, wie Nicola Kaminski gezeigt hat, auch zur Auseinandersetzung mit dem mittelalterlichen Gradualismus führt. So thematisiere das Trauerspiel die Abkehr von „der rein weltlich-körperlichen Haltung Cardenios“Footnote 66 und die Aufforderung zu einem diesseitigen Lebenswandel.

Es wäre müßig, einen direkten Bezug des schlesischen Trauerspiels zu dem englischen Renaissancedrama herzustellen, selbst wenn Cardenio und Celinde mit The Lady’s Tragedy die spektakuläre Zurschaustellung einer Leiche teilt, die Middleton sogar zur Nekrophilie steigert. Dennoch kann die Behandlung von Marcellus’ Leiche, die, so Tschachtli, „nonchalant an der Mauer lehnt“Footnote 67 und sich folglich ganz anders als in den anderen Trauerspielen Gryphius’ gestaltet, als Indiz dafür bewertet werden, dass der Dichter im Hinblick auf die Körperlichkeit eine andere Position als Middleton vertritt. In The Lady’s Tragedy findet die Idolisierung des Körpers noch vor dessen Schändung durch den Tyrannen statt. Es gilt, die Schönheit der Verstorbenen mit allen Mitteln zu erhalten, was wiederum zur Verurteilung des Frauenkörpers führt: Nur die Dirne schminkt sich. Anders ließe sich nicht erklären, warum der Tyrann die tote Lady weiter begehre, so Zimmerman: „There is […] a curious inversion of the homily’s exemplum in the play’s denouement: the Tyrant purports to transform the Lady’s corpse back into the living body of the painted strumpet.“Footnote 68 Bei Gryphius hingegen ist der Körper von Anfang an durch den Verfall gekennzeichnet, was sich etwa an der Erscheinung des Geistes von Olympia beobachten lässt: „Der Schau-Platz veraendert sich ploetzlich in eine abscheuliche Einoede/ Olympie selbst in ein Todten-Gerippe/ welches mit Pfeil und Bogen auff den Cardenio zilet.“Footnote 69 Diese Szene deutet Tschachtli als Verortung des Gerippes als „Zeichen der Sterblichkeit nicht in der Welt, sondern im Körper und damit potentiell in jeder und jedem Einzelnen.“Footnote 70 Im Gegensatz zur englischen Tragödie zeigt also das Trauerspiel, dass Körperlichkeit und Vergänglichkeit nicht voneinander zu unterscheiden sind. Obwohl, wie Bergengruen zu Recht anmerkt, „die Überantwortung des göttlichen Wortes an Geister und Gespenster […] anscheinend nicht ohne Verlust an der Substanz dieses Wortes vonstattengehen“Footnote 71 könne, erzielt dennoch etwa Olympias Verwandlung in „ein Todten-Gerippe“ eine Schockwirkung, die von größerer Tragweite ist als der Auftritt der verstorbenen Lady in Middletons Stück.Footnote 72

5 Übersetzen als Austauschprozess in den Niederlanden

Wenn mit Borgstedt die These gestellt werden kann, dass Cardenio und Celinde Bandellos La sfortunata morte di due infelicissimi amanti statt Montalbáns La fuerça del desengaño als Quelle zugrunde liegt und Gryphiusʼ Stück somit kontrapunktisch zu Shakespeares Romeo und Julia gestaltet wird.Footnote 73 so ist auch nicht auszuschließen, dass Gryphiusʼ Belesenheit und Literaturkenntnis ihn auch dazu geführt hat, sich mit dem englischen Theater zu beschäftigen. So ist auch anzunehmen, dass der schlesische Trauerspieldichter zumindest in einer Fassung der Wanderbühne von The Lady’s Tragedy Kenntnis hatte und sich mit dem Stück auseinandergesetzt hat. In diesem Sinne lohnt sich erneut die Lektüre des Vorworts, in dem Gryphius sich als weit gereisten Menschen darstellt, der aufgrund seiner peregrinatio academica Freundschaften in unterschiedlichen Teilen Europas pflegt:

Als ich von Straßburg zurueck in Niederland gelanget/ und zu Ambsterdam bequemer Winde nacher Deutschland erwartet; hat eine sehr werthe Gesellschafft etlicher auch hohen Standes Freunde/ mit welchen ich theils vor wenig Jahren zu Leiden/ theils auff unterschiedenen Reisen in Kundschafft gerathen/ mich zu einem Panquet/ welches sie mir zu Ehren angestellet/ gebeten.Footnote 74

Gryphius’ Selbstporträt zeigt eher einen Geschichtenerzähler als einen Schriftsteller. Er feiert auf der Durchreise zwischen Straßburg und seiner Heimat die Geselligkeit und den sozialen Austausch zwischen Gelehrten aus unterschiedlichen Horizonten. Diese Selbstinszenierung spiegelt einen kulturellen Austauschprozess, der sich nicht auf die schriftstellerische Arbeit beschränkt, da letztere auch mit der Preisgabe der Quellen von Cardenio und Celinde zusammenhängen würde. Um Gryphius’ Weigerung zu verstehen, im Vorwort gleichzeitig als Autor und Übersetzer aufzutreten, kann man seine Haltung mit derjenigen eines anderen Dramatikers vergleichen, der in den Niederlanden beheimatet war: Theodore Rodenburgh (1574–1644), der einer produktiven Übersetzertätigkeit nachging. Als Vertreter der Hanse in London lernte er das englische Theater kennen und übertrug 1618 Thomas Middleton’s The Revenger’s Tragedy unter dem Titel Wraeck-gierigers treur-spel ins Niederländische.Footnote 75 Als Diplomat hielt sich Rodenburgh auch einige Jahre in Spanien auf, wo er wahrscheinlich durch die Aufführung von comedias mit dem Werk von Lope de Vega vertraut wurde.Footnote 76 Mit De Jalourse Studentin veröffentlichte er 1617 eine niederländische Fassung von Lopes La escolástica celosa (Die eifersüchtige Scholastikerin), das 1604, d. h. ein Jahr vor dem ersten Teil des Don Quichote, erschien.Footnote 77 In den letzten Jahren hat sich vor allem Helmut Göbel für diese mögliche Quelle des Gryphschen Cardenio interessiert, an der er „Züge eines Trauerspiels der Gelehrsamkeit“Footnote 78 erkennt. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Gryphius Rodenburghs Werk kannte und, wenn er sich nicht unmittelbar von seinen Dramenübersetzungen inspirieren ließ, sich doch zumindest mit seinen Freunden darüber unterhalten hatte. Denn Rodenburgh schlug mit seinem mehrheitlich von der spanischen comedia beeinflussten Werk einen anderen Weg ein als die niederländischen Dramatiker des 17. Jahrhunderts, die die Tragödie erneuerten und von der Forschung mit Gryphius in Verbindung gebracht werden.Footnote 79 So stand Rodenburgh als Mitglied der Rederijkerskammer Eglantier in Konkurrenz etwa mit Samuel Coster und Joost van den Vondel, die anderen Sprachgesellschaften angehörten, so Olga van Marion und Tim Vergeer: „The result was a ‚literary war‘, in which the playwrights opposed each other in their writings, competings for paying audiences.“Footnote 80 Gryphius könnte eine „Thorheit“Footnote 81 begangen haben, indem er sich De Jalourse Studentin als Vorlage genommen hätte, die er anlässlich einer Stilübung im Sinne seiner Trauerspielpoetik adaptiert hätte. Rodenburghs Bly-eynde-spel spielt in der Universitätsstadt Leiden, in der Gryphius studierte. Die Studenten Cardenio und Valerio konkurrieren in Rodenburghs Stück um die Hand von Juliana, der Tochter eines angesehenen Bürgers der Stadt, die sich jedoch als „lichte vrouw“Footnote 82 erweisen wird. Eine Nebenhandlung thematisiert ebenfalls die Eifersucht und die Unbeständigkeit der Figuren, bis sich die Paare wiedergefunden haben. Der glückliche Ausgang der eng an Lopes comedia angelehnten Handlung zeigt die mögliche Versöhnung der Religion mit der irdischen Liebe, die auch in den Ausführungen des Theologiestudenten Cardenio mitgetragen wird. In diesem Zusammenhang hätte Gryphius Cardenio und Celinde durchaus als Gegenentwurf zu Rodenburghs Stück konzipieren können, als er sich in Amsterdam mit Freunden aus Leiden traf.

Derartige Spekulationen führen zwangsläufig weg von Shakespeares Cardenio, in Richtung des ernüchternden Fazits, das die spanische Komparatistin Lioba Simon Schuhmacher in ihrer Studie über Gryphius und Cervantes’ Don Quichote wie folgt formuliert: „Resulta imposible fijar el origen de la historia en una sola fuente, una suerte de Ur-text.“Footnote 83 Hinzu kommen Rezeptionsphänomene, die die Wiederverwertung von Cervantes’ Roman bedingen, wie Chartier zu Recht anmerkt:

Il s’agit, en effet, de comprendre comment une ‚même‘ œuvre peut être reçue diversement par différents publics dans un même moment. Ou bien comment, dans la longue durée de sa transmission, elle se trouve investie par des significations fort éloignées les unes des autres.Footnote 84

Die Querverbindungen zwischen den verschiedenen Fassungen eines Motivs, das innerhalb eines halben Jahrhunderts in verschiedenen Sprachkulturen aufgenommen und konzeptualisiert wird, zeigen zunächst, dass die Übersetzung nicht als Vermittlung eines klar definierten Werks mit eindeutig identifiziertem Autor aufgefasst werden kann. Vielmehr kann sie im Bereich dessen verortet werden, was Gérard Genette als „Transtextualität“Footnote 85 definiert: „Es gibt kein literarisches Werk, das nicht, in einem bestimmten Maß und je nach Lektüre, an ein anderes erinnert; in diesem Sinne sind alle Werke Hypertexte. Aber […] manche sind es mehr (oder offensichtlicher, massiver und expliziter) als andere.“Footnote 86 Allerdings geht es mir nicht um eine postmoderne Relativierung des Autorenbegriffs, sondern um einen anderen Zugang zum Werk und dessen Autor durch die Übersetzung, den gerade Gryphius’ Fiktionalisierung seiner eigenen Übersetzertätigkeit verdeutlicht. Letztere versteht er im Entstehungskontext von Cardenio und Celinde als Vermittlung von Geschichten, die sich durch ihre Originalität auszeichnen und seinen Ruf als weltgewandten Zeitgenossen befestigen sollte. Mit einer ähnlichen Reputation hatte Rodenburgh als „kosmopoliet“ das niederländische Drama erneuert.Footnote 87 In beiden Fällen erweisen sich die poetologischen Innovationen als das Ergebnis von sozialen Austauschprozessen. Wie Stephen Greenblatt gezeigt hat, setzt sich auch Shakespeares Theater „aus vielfachen Tauschverhandlungen“Footnote 88 zusammen, die sich mit der Zeit multiplizieren. Selbst wenn Cardenio und Celinde sehr weit von Shakespeares History of Cardenio entfernt ist, teilen beide Dramen durch die möglichen Querverweise mit anderen Werken dasselbe Verhandlungspotenzial, das die Übersetzung in unterschiedlichen Zeiten offenbart. Letztendlich bedeutet es für die Gryphius-Forschung, dass der schlesische Dichter durchaus mit dem englischen Dramatiker vergleichbar ist: Autorschaft und Übersetzen gehören in beiden Fällen zu einem kulturellen Austauschprozess, dessen Analyse die komparatistische Quellenforschung ergänzt und erweitert.