Zusammenfassung
Ausgehend von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Abschaffung der Sperrklausel für Europawahlen stellt der Beitrag die EU-weite Varianz der Europawahlsysteme vor und schätzt deren Bedeutung für die Sitzverteilung im Europäischen Parlament ab. Vorgestellt werden zwei Szenarien: die EU-weite Übernahme des deutschen Modells sowie die allgemeine Einführung einer 5%-Hürde. Anhand der Wahlergebnisse von 2014 werden für diese Szenarien die Proportionalität der Sitzzuteilung sowie die Fragmentierung des EP simuliert. Berücksichtigt werden sowohl mechanische als auch psychologische Effekte von Wahlsystemen. Die Simulationsergebnisse verweisen auf ein ausgeprägtes Potential sowohl zur Stärkung des Verhältniswahlprinzips als auch zur Konzentration des parlamentarischen Parteiensystems.
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Notes
- 1.
Wir danken Patrick Mesenbrock für die Unterstützung bei der Datensammlung für diesen Beitrag.
- 2.
- 3.
BVerfG, 2 BvC 4/10 vom 9.11.2011; BVerfG, 2 BvE 2/13 vom 26.2.2014.
- 4.
BVerfG, 2 BvC 4/10 vom 9.11.2011, Abs. 157.
- 5.
BVerfG, 2 BvE 2/13 vom 26.2.2014, Abs. 68.
- 6.
Ebd., Abs. 69.
- 7.
Ebd., Abs. 82.
- 8.
Zu den wenigen Ausnahme zählen die frühe Studie zur ersten Europawahl von Rattinger et al. (1978); Krumm (2013), der die Auswirkungen von Prozenthürden im internationalen Vergleich untersucht hat; sowie Strohmeier (2014, S. 364–366), der die Europawahlergebnisse 2014 unter kontrafaktischer Anwendung einer 3 %- bzw. 5 %-Klausel diskutiert, allerdings nur für Deutschland und nicht für die gesamte EU.
- 9.
In Deutschland als größtem EU-Staat entfallen etwa 839.000 Einwohner auf einen Europaabgeordneten; im kleinsten (Malta) sind es lediglich 70.000 (Europäisches Parlament 2014, S. 98 f.).
- 10.
Grenzüberschreitende Wahlkreise hatten auf EU-Ebene noch nie eine politische Realisierungschance, da sie den politischen Eigeninteressen der nationalen Parteien zuwiderlaufen. Aus demselben Grund wurde Ende der 1990er Jahre auch der Vorschlag abgelehnt, einen kleinen Teil der EP-Mandate über gesamteuropäische Listenverbindungen zu vergeben (vgl. Farrell und Scully 2005, S. 970 f.).
- 11.
Für die folgende Illustration nutzen wir die effektive Hürde nach Taagepera (2002). Eine Alternative wäre die Formel (75 %/(M + 1)) von Lijphart (1994), die jedoch zu einer Überschätzung der nationalen effektiven Hürde tendiert, wenn ein Land in viele subnationale Wahlkreise eingeteilt ist und über ein regional heterogenes Parteiensystem verfügt. Taageperas Formel ist sensitiver gegenüber den Auswirkungen subnationaler Wahlkreise bei regional unterschiedlich strukturierten Parteiensystemen; lediglich bei territorial homogenen Parteiensystemen ist sie tendenziell zu niedrig angesetzt.
- 12.
Bei Anwendung der Lijphart-Formel, die ein territorial homogenes Parteiensystem voraussetzt, kommt Frankreich auf eine effektive Hürde von 7.3 %. Für das Vereinigte Königreich trifft dies sogar noch in stärkerem Maß zu; hier liegt die Repräsentationsschwelle nach Lijphart bei 10.6 %.
- 13.
In den genannten fünf Ländern stimmt zudem die Höhe der Sperrklausel (5.0 % bzw. 1.8 %) mit jener des nationalen Parlamentswahlsystems überein (vgl. Nohlen und Stöver 2010). Dies legt nahe, dass das Design der mitgliedstaatlichen Europawahlsysteme auch durch nationale Pfadabhängigkeiten geprägt ist. Handlungsleitend könnte dabei die Überlegung gewesen sein, den jeweiligen Wahlrechtsbestand durch ebenenübergreifende Vereinheitlichung für Parteien und Wähler übersichtlicher zu gestalten.
- 14.
Dies nimmt an, dass das Wählerverhalten vom Wahlsystem unabhängig ist. Weiter unten behandeln wir dem widersprechende psychologische Effekte.
- 15.
Der Gallagher-Index wird berechnet als \(GI = \sqrt {\frac{1}{2}\sum\nolimits_{i = 1}^n {{{\left( {{v_i} - {s_i}} \right)}^2}} } ,\) wobei s den Sitzanteil und v den Stimmenanteil einer Partei repräsentiert.
- 16.
Die effektive Zahl parlamentarischer Parteien wird berechnet als \(ENPP = \frac{1}{{\sum\nolimits_{i = 1}^n {s_i^2} }},\) wobei s den Sitzanteil einer Partei repräsentiert.
- 17.
Theoretisch kann auch im Szenario zusätzlicher Konzentration ein psychologischer Effekt eintreten, wenn sich Wähler tendenziell von kleineren Parteien abwenden und stattdessen große Parteien unterstützen, um ihre Stimmen nicht zu „verschwenden“. Dadurch könnte die Umsetzung von Stimmen in Sitze durch eine höhere Hürde sogar proportionaler werden – ein Effekt, der von der Funktionsweise der Sperrklausel auf Bundesebene bekannt ist (Grotz 2009, S. 161 f.). Dieses Szenario ist jedoch nicht Gegenstand unserer Simulation, da diese Proportionalisierung nur die Umsetzung von Stimmen in Sitze, nicht jedoch von Präferenzen in Sitze betreffen würde. Zudem würde der Effekt – wenn überhaupt – erst mittelfristig eintreten, was auf Basis der vorliegenden Daten kaum realistisch simuliert werden könnte.
- 18.
Belgien und das Vereinigte Königreich sind nicht berücksichtigt, da dort eine Abschaffung der subnationalen Wahlkreise wie oben erwähnt politisch unrealistisch ist.
- 19.
Aus diesem Grund verzichten wir bei der Analyse des psychologischen Effekts auch auf die Disproportionalität, welche auf der Ebene des Gesamt-EP nicht aussagekräftig ist. Zudem ist Disproportionalität hauptsächlich durch das Wahlsystem bedingt, während die Fragmentierung in weit höherem Ausmaß von soziodemographischen, ideologischen und strategischen Faktoren abhängt. Änderungen der Disproportionalität sind daher vorwiegend eine Angelegenheit des mechanischen Effekts.
- 20.
Einige der Szenarien sind nicht für die gesamte Abszisse dargestellt. Dies liegt daran, dass für bestimmte Kombinationen der beiden Parameter die Stimmengewinne der kleinen Parteien über 100 % liegen würden. Da dies logisch nicht möglich ist, enden die entsprechenden Graphen vorzeitig.
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Grotz, F., Weber, T. (2016). Wahlsysteme und Sitzverteilung im Europäischen Parlament. In: Schoen, H., Weßels, B. (eds) Wahlen und Wähler. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-11206-6_22
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