Zusammenfassung
Der Augapfel stellt zusammen mit seinen Muskeln und deren Nerven den peripheren okulomotorischen Apparat dar. In der Terminologie der Regeltechniker sprechen wir von „the oculomotor plant”. Der periphere okulomotorische Apparat stellt dasjenige neuromuskuläre System dar, welches bisher am besten untersucht worden ist. Über die Neurophysiologie und die Mechanik des peripheren okulomotorischen Apparates wissen wir bereits so viel, daß wir die Art der okulomotorischen Störungen voraussagen können, welche aus Läsionen der Nerven, Muskeln und des Orbitalen Bindegewebsapparates resultieren müssen. Wäre es möglich, einen künstlichen Augenmuskel zu implantieren, so könnten wir sogar die an diesen Muskel zu stellenden Anforderungen quantitativ angeben. Trotzdem bleiben noch Probleme. In dieser Übersicht soll dargestellt werden, was wir bereits wissen und wo noch ungelöste Fragen liegen.
An den Augenmuskeln unterscheiden wir eine dem Augapfel abgewandte „orbitale“von einer dem Augapfel zugewandten „bulbären“Schicht. Wir wissen, daß bei der Anspannung eines Augenmuskels zuerst die dünnen, roten, „langsamen“Fasern der Orbitalen Schicht und dann erst die dicken, weißen, „schnellen“Fasern der bulbären Schicht rekrutiert werden. Es ist noch unbekannt, warum die Fasertypen in Schichten zusammengefaßt sind und warum es mindestens 4 statt nur 2 Typen von Muskelfasern gibt. Wir wissen auch noch nicht, warum viele „twitch“-Fasern multipel innerviert sind und wie die verschiedenen Fasertypen zu den mechanischen Eigenschaften des Gesamtmuskels beitragen. Auf diesem Gebiet ist der Fortschritt langsam, da entsprechende Experimente technisch schwierig sind.
Über die mechanischen Eigenschaften des Gesamtmuskels wissen wir dagegen bereits recht gut Bescheid. Wir kennen genau die Beziehung zwischen der Länge, der Spannung und der Innervation des Muskels sowie die Feder-Konstanten der übrigen Orbitalen Gewebe. Aus dieser Kenntnis ist es möglich, die Innervationsmuster aller 12 Muskeln für jede beliebige Blickrichtung auszurechnen. Wichtiger erscheint, daß wir auch die Schielabweichungen berechnen können, welche durch verschiedene pathologische Veränderungen, wie etwa Muskellähmungen, narbige Verdichtungen oder Orbitaboden-Frakturen entstehen. Auch können wir die zu erwartende Reduktion des Schielwinkels nach Augenmuskeloperationen kalkulieren. Obwohl diese Berechnungen bei Patienten bisher noch nicht erprobt wurden, ist zu erwarten, daß sie eine theoretische Basis für die Schieloperationen darstellen werden. Wenn man die Länge eines Muskels operativ verändert, kommt es zu einem Wandel seiner mechanischen Eigenschaften. Die Art und Weise dieser Änderungen ist bisher noch nicht untersucht worden. Es ist aber anzunehmen, daß sie einen großen Einfluß auf das Endresultat einer Schieloperation ausüben.
Die Beziehung zwischen Kraft und Geschwindigkeit der Augenmuskeln ist noch nicht gemessen worden. Daher muß man die Verteilung der Viskositäten zwischen Agonist, Antagonist und passiven Orbitalen Geweben vorerst abschätzen. Trotzdem ist es gelungen, Modelle für die raschen Augenbewegungen zu beschreiben, welche sich bei der Anwendung auf kompliziertere Störungen des peripheren okulomotorischen Apparates bewährt haben.
Das Innervationsmuster der Motoneurone ist jetzt genau bekannt. Bei einer vorgegebenen Augenposition feuert jedes Neuron mit einer ihm eigenen, bestimmten Frequenz. Bei Augenpositionen in der Zugrichtung des Muskels ist die Frequenz höher, in der Gegenrichtung niedriger. Bei der Entspannung des Muskels gibt es eine für jedes Neuron spezifische Augenposition, in welcher die Innervation erlischt. Wir sprechen dann von der „Schwelle“des Motoneurons. Die Frequenz der Motoneurone ändert sich auch proportional zur Geschwindigkeit der Augenbewegungen. Besonders eindrucksvoll ist die Erhöhung der Frequenz während rascher Augenbewegungen (Sakkaden). Der Frequenzanteil, welcher proportional zur Augenposition ist, dient zur Überwindung des elastischen Widerstandes der Orbitalen Gewebe; der andere Frequenzanteil, welcher proportional zur Augengeschwindigkeit ist, dient zur Überwindung des viskosen Widerstandes. Oberhalb ihrer Schwelle nehmen alle Motoneurone an allen Arten von Augenbewegungen teil, also z. B. an Vergenzen, Augenfolgebewegungen oder vestibulär ausgelösten Bewegungen. Die Motoneurone unterscheiden sich aber erheblich nach ihrer Schwelle; die Reihenfolge, in der die einzelnen Motoneurone rekrutiert werden, bleibt konstant. Motoneurone mit niedriger Schwelle innervieren die dünnen, roten Muskelfasern. Diese „motorischen Einheiten“sind fast dauernd aktiv; in der Literatur werden sie deswegen oft als „tonisch“bezeichnet. Motoneurone mit hoher Schwelle, welche die dicken, weißen Fasern innervieren, werden vor allem während rascher Augenbewegungen (Sakkaden) aktiviert. Man spricht von den „phasischen“Einheiten. Am deutlichsten lassen sich die beiden Typen motorischer Einheiten auf Grund ihrer Resistenz gegenüber Ermüdung unterscheiden.
Obwohl Spindeln und afferente Strecksignale nachgewiesen wurden, gibt es im Augenmuskel keinen Streck-Reflex. Afferente Strecksignale wurden im Obliquus superior, in der Formatio reticularis und im Cerebellum gefunden; ihre funktionelle Bedeutung ist aber noch völlig unklar. Die Lokalisation des Gesehenen erfolgt jedenfalls nicht mit Hilfe der afferenten Signale, sondern durch Verrechnung der efferenten Muskelimpulse. Möglicherweise spielen die afferenten Signale bei der nichtvisuellen Stabilisierung der Augenpositionen eine Rolle. Bisher wurde noch kein experimenteller Zugang gefunden, um die Frage nach der Bedeutung der afferenten Signale zu lösen.
Wir wissen, daß die Befehle über die Augen-Position und die -Geschwindigkeit auf verschiedenen Wegen dem Motoneuron zugeführt werden. Bei einer Sakkade z. B. kommen der Befehl über die Positionsänderung (in Form einer „Stufe“) und der Befehl über die Geschwindigkeit, in der die Positionsänderung erfolgen soll (in Form eines „Pulses“) von zwei verschiedenen Gebieten des Pons. Die beiden Gebiete können getrennt geschädigt sein. Geht die „Stufe“verloren und bleibt der „Puls“erhalten, so entsteht der sog. Blickrichtungs- bzw. blickparetische Nystagmus; ein Verlust des „Pulses“bei erhaltener „Stufe“dagegen führt z. B. zu der verlangsamten Adduktions-Sakkade, welche wir von der internukleären Ophthalmoplegie kennen. — Alle diese supranukleären Motilitätsstörungen können wir nur in Kenntnis des peripheren okulomotorischen Apparates richtig interpretieren.
Bei Störungen des peripheren okulomotorischen Apparates kommt es zu zentral-nervösen Anpassungsvorgängen, welche noch nicht ausreichend untersucht worden sind. Wenn die Wirkung der zentralen Innervation auf die Augenbewegung herabgesetzt ist, z. B. bei der Myasthenia gravis, so ist das Gehirn in der Lage, das Verhältnis von Innervationsänderung zur Exzentrizität des Netzhautbildes zu verstärken. Injiziert man einem solchen Patienten Cholinesterasehemmer, so wird plötzlich der periphere okulomotorische Apparat normalisiert, und die zentrale Kompensation erweist sich in überschießenden Blickbewegungen. Der Verstärkungsfaktor (gain = eye movement/retinal error) wird dann größer als 1,0. Wir haben diesen Anpassungsvorgang quantitativ am Affen untersucht, indem wir Tenotomien an Horizontalmotoren ausführten. — Der Kliniker sollte sich darüber im klaren sein, daß er bei einem Patienten mit einer chronischen Bewegungsstörung immer auch schon das Ergebnis der zentral-nervösen Kompensationsversuche sieht, so daß die Störungen geringer erscheinen als sie ursprünglich waren.
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© 1978 J. F. Bergmann Verlag, München
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Robinson, D.A. (1978). The Functional Behavior of the Peripheral Oculomotor Apparatus: A Review. In: Kommerell, G. (eds) Augenbewegungsstörungen / Disorders of Ocular Motility. Symposien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft. J.F. Bergmann-Verlag. https://doi.org/10.1007/978-3-642-48446-9_6
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Publisher Name: J.F. Bergmann-Verlag
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