Zusammenfassung
Als 1993 die erste Tafel Deutschlands in Berlin öffnete, planten die Gründer und – mehrheitlich Gründerinnen – Obdachlosen effektiv und einfach zu helfen. Die Idee kam aus den USA, wo schon 1963 die erste Tafel entstanden war. Tafeln sammeln überschüssige Lebensmittel, die nach den gesetzlichen Be-stimmungen noch verwertbar sind, und geben diese an Bedürftige und soziale Einrichtungen ab. 15 Jahre später, als am 01. Dezember 2008 die mittlerweile zur Schirmherrin der Tafeln avancierte Familienministerin von der Leyen 15 große Unternehmen in Berlin auszeichnete, war die „größte soziale Bewegung der 90er Jahre“ in der Mitte der Gesellschaft angekommen. In ihrem Grußwort an die Vertreter von Coca-Cola, Daimler AG, Kirchhoff Consult AG, Lidl, Metro, Rewe, u. a. ließ von der Leyen ausrichten: „Die Tafeln sind ein gutes Beispiel dafür, dass sich immer mehr Unternehmen langfristig für gemeinnützi-ge Projekte einsetzen wollen, die nicht nur zu ihrem Geschäft, sondern auch zu ihrer Firmenkultur passen“.1 Der öffentlich-rechtliche Sender rbb nennt das von ihm offiziell unterstützte Berliner Projekt ‚LAIB und SEELE‘ mit derzeit gut 40 von den Kirchen getragenen und von der Berliner Tafel belieferten Lebensmit-tel-Ausgabestellen „schon jetzt eine ungewöhnliche Erfolgsgeschichte“. 2 Wer echte Not leidet, erfährt Hilfe, gleichzeitig werden hochwertige Lebensmittel statt sinnloser Vernichtung dem vorstellbar nobelsten Zweck zugeführt: Der Speisung von Hungrigen. Gibt es eine sinnfälligere Form unmittelbarer Hilfe am Mitmenschen – praktizierter „Nächstenliebe“ in christlicher Terminologie, „bürgerschaftlichen Engagements der Zivilgesellschaft“ auf neudeutsch? Und ist, wer diese Arbeit in Frage stellt, nicht linker Zyniker? Wer könnte ernsthaft etwas dagegen ins Felde führen? Den Ärmsten helfen und die Umwelt schützen – und dies kostenneutral für den klammen Vater Staat. Eine klassische Win-Win-Situation. Die Frage ist nur: Für wen? Nach dem dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2008 gelten 26% der Bundesbürger als arm oder trotz staatlicher Leistungen von Armut bedroht. Seit Einführung der Hartz-Gesetze 2003 ist die Zahl der Tafeln von damals 320 auf rund 900 mit mehr als 2000 Ausgabestellen im Dezember 2008 gestiegen, die mittlerweile von über 1 Mio. Menschen genutzt werden. In der „Erfolgsgeschichte“ der Ta-feln sieht ihr Bundesvorstandsvorsitzender Gerd Häuser den sichtbaren Beweis dafür, dass Armut in unserem Land alles Andere als ein Randphänomen sei. Gleichzeitig stünden die Tafeln aber auch für ein beispielloses bürgerschaftli-ches Engagement und eine gewaltige soziale Leistung durch den Einsatz von zehntausenden ehrenamtlichen Helfern und unzähligen kleinen und großen Spendern und Sponsoren. 3 Doch wenn selbst deren Bundesvorstandsvorsitzen-der öffentlich Zweifel an der Richtigkeit ihres Tuns äußert, sollte die Frage des „cui bono“ noch einmal genauer gestellt werden: „Manche meinen auch, Verei-ne wie die Tafeln helfen dem Staat, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Es gibt Leute, die sagen, wir verhindern den Aufstand von unten.“ 4
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Literatur
Klautke, Roland/Brigitte Oehrlein (2008) (Hg.): Globale Soziale Rechte. Hamburg.
Künnemann, Rolf (2008): Titel. In: Klautke/Oehrlein (2008), 75–93.
Selke, Stefan (2008): Fast ganz unten. Wie man in Deutschland durch die Hilfe von Lebensmitteltafeln satt wird. Münster.
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Hartmann, D. (2011). Mit der sozialen Frage kehrt die Barmherzigkeit zurück – Gegen die Vertafelung der Gesellschaft. In: Selke, S. (eds) Tafeln in Deutschland. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92808-1_15
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Online ISBN: 978-3-531-92808-1
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